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In den Gesichtern der anwesenden Agenten spiegelte sich dieselbe Ratlosigkeit wie in dem ihren.
»Wenn dem so ist«, antwortete Galliana, »haben wir nicht die geringste Ahnung, wo er sich befindet.«
»Ich persönlich zumindest«, ließ Jupitus sich vernehmen, »habe noch nie davon gehört.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er eigentlich gemeint hatte: »Und wenn ich diesen Ort nicht kenne, kennt ihn niemand.«
»Wäre es denkbar, dass dieser Code Purpur oder das Verschwinden der beiden Agenten auf irgendeine Weise mit Zeldt und der Schwarzen Armee in Verbindung stehen?«, fragte Nathan.
Jake hatte in diesem Moment zufällig in Topaz’ Richtung geschaut, und auch wenn es kaum zu sehen gewesen war: Bei der Erwähnung des Namens »Zeldt« war ein Schatten über ihre Augen gehuscht, und ihre Mundwinkel hatten kurz gezittert.
»Darauf gibt es, zumindest bis jetzt, noch keine greifbaren Hinweise. Wie ihr alle wisst, wurde Zeldt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Die letzte Sichtung geschah im Holland des Jahres 1689, seither gilt er offiziell als tot«, beantwortete Galliana Nathans Frage in geschäftsmäßigem Ton. »Nach sorgfältiger Erwägung aller Optionen …«
»Doch sicherlich«, unterbrach Jupitus, »waren die Agenten Djones und Djones der Meinung, Zeldt wäre involviert, was auch der Grund dafür war, dass sie sich freiwillig gemeldet haben. Oder etwa nicht?«
»Sie haben sich nicht freiwillig gemeldet. Ich habe ihnen den Einsatz angeboten.« Galliana fixierte Jupitus mit kaltem, hartem Blick. »So wie bei den beiden Einsätzen zuvor. Immerhin sind und bleiben sie zwei unserer besten Agenten.« Mit diesen Worten kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Nach sorgfältiger Erwägung aller Optionen bleibt mir nichts anderes übrig, als ein weiteres Aufklärungsteam nach Venedig zu entsenden; Auslaufen heute Nachmittag.«
Topaz’ Hand schoss als erste nach oben. »Kommandantin. Hiermit bitte ich um Erlaubnis, teilnehmen zu dürfen.«
Nathan stand auf und warf seine vollen kastanienbraunen Haare zurück. »Ich gehe selbstverständlich davon aus, ebenfalls Teil des Teams zu sein …«
»Ihr nehmt beide an dem Einsatz teil, gemeinsam mit Agent Charlie Chieverley«, verkündete Galliana. »Topaz, Ihr werdet die Gruppe führen.«
»Vielen Dank, Kommandantin. Ich werde Euch nicht enttäuschen«, erwiderte Topaz aufgeregt.
Nathans Kiefer klappte nach unten. »Das kann nicht Euer Ernst sein«, stammelte er und hob die Hand. »Kommandantin, ist die Aufgabenverteilung bezüglich dieses Einsatzes in irgendeiner Weise verhandelbar? Immerhin bin ich der Erfahrenere von uns beiden, sowohl was das Alter angeht als auch …«
»Gerade mal zwei Monate«, warf Topaz ein.
»… als auch die Zahl der Einsätze. Und den Erfolg meiner letzten Mission in der Türkei muss ich, wie ich glaube, in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnen.«
Galliana bedachte Nathan mit einem vernichtenden Blick. »Nein. Die Aufgabenverteilung ist nicht verhandelbar.« Sie wandte sich wieder an den Rest der Versammlung. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?«
Jake spürte, wie sein Herz unter dem Blazer pochte, als er ebenfalls die Hand hob. Alle Augen drehten sich in seine Richtung.
»Ich … ich möchte mich freiwillig zu dem Einsatz melden«, sagte er so leise, dass alle die Ohren spitzen mussten, um ihn zu verstehen.
Spätestens seit sie den Sanitärladen eröffnet hatten, hatte Jake sich immer wieder Sorgen um seine Eltern gemacht, doch seit den letzten drei Jahren, seit dem Verschwinden seines Bruders, war sein Wunsch, ja, das Bedürfnis, ihnen beizustehen, um ein Hundertfaches gewachsen.
»Steh er auf!«, polterte Truman Wylder und fuchtelte mit seinem Spazierstock. »Man versteht ja kein Wort hier hinten.«
Jake erhob sich und blickte in die Runde ernster Gesichter, die ihrerseits völlig ungerührt zurückstarrten auf diesen halbwüchsigen, gelockten Jungen in Schuluniform. Jake holte tief Luft. Er wusste: Worauf es jetzt ankam, war, sie wissen zu lassen, dass er kein Kind mehr war, und er wiederholte mit fester, lauter Stimme: »Ich sagte, ich möchte mich freiwillig zu diesem Einsatz melden.«
Ein paar der Anwesenden murmelten verlegen etwas in sich hinein, und Océane ließ ein leises Kichern hören, was ihr sofort einen strafenden Blick von Rose einbrachte.
»Das ist sehr mutig von dir, Jake«, sagte Galliana mit einem Lächeln, »aber …«
»Nachdem es sich bei den Vermissten um meine Eltern handelt, glaube ich, dass ich auf jeden Fall Teil des Teams sein sollte. Und ich … bin der Überzeugung, dass ich durchaus etwas zum Gelingen der Unternehmung beitragen kann …« Jake kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis nach einem passenden Zitat aus einem seiner Lieblingsfilme, aber es wollte ihm partout keins einfallen.
Noch mehr Gemurmel. Jupitus schien völlig entgeistert über Jakes Dreistigkeit, aber Galliana blieb ganz ruhig und fuhr in ruhigem, gemessenem Ton fort: »Danke, Mr Djones. Wir wissen Euren Mut und Eure Anteilnahme zu schätzen, aber schon die Reise allein ist überaus gefährlich, und wir müssen Euch hier belassen, in Sicherheit.«
Schamröte stieg Jake ins Gesicht – oder war es Wut? –, und er setzte sich zögernd wieder hin.
»Noch weitere Fragen?«
»Ich habe in der Tat eine«, sagte Jupitus und nahm noch einen Schluck von seinem Wasserglas. »Eigentlich ist es mehr eine Feststellung denn eine Frage. Würdet Ihr nicht mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass dieser Vorfall eines mit aller Deutlichkeit zeigt: Es ist an der Zeit, Alan und Miriam Djones’ Berechtigung, als Agenten im Feldeinsatz zu operieren, zu widerrufen? Sie mögen ja zu ihrer Zeit ordentliche Dienste geleistet haben, aber in ihrem jetzigen Alter und nach zehnjähriger Inaktivität können sie wohl kaum noch als herausragende Agenten eingestuft werden. Auch wenn sie Diamanten sind, dürften ihre Kräfte mittlerweile beträchtlich dahingeschmolzen sein.«
Jake und Rose wären beinahe von ihren Stühlen aufgesprungen vor Zorn, und Rose rief: »Ihr wagt es? Mein Bruder hat für diese Organisation mehr als einmal sein Leben riskiert. Und bei einer Gelegenheit, wie Ihr anscheinend bequemerweise vergessen habt, um Euch zu retten! Gott allein weiß, was ihn auf diese törichte Idee gebracht hat.«
Jupitus’ Haltung versteifte sich ein wenig, aber er sprach in vollkommen ruhigem Ton weiter: »Ich versuche nur, praktisch zu denken und das auszusprechen, was viele hier am Tisch im Stillen denken. Aber Rosalind Djones muss natürlich, wie immer, aus allem ein Drama machen«, fügte er mit kaum verhohlener Geringschätzung hinzu.
»Genug jetzt. Von euch beiden!«, unterbrach Galliana. »Alan und Miriam Djones haben nicht nur nichts von ihrer Tatkraft eingebüßt, sie waren sogar die einzigen Agenten, die ich für diese Mission überhaupt in Erwägung zog. Und, Mr Cole, ich muss Euch wohl kaum daran erinnern, dass Ihr im selben Alter seid wie Alan.«
Jupitus zog verärgert die Mundwinkel nach unten.
»Peux-je dire quelque chose?« Océane hielt ihre mit vielen Ringen geschmückte Hand in die Luft. »Dürfte ich eine kleine Frage stellen?«
Alle am Tisch bereiteten sich auf irgendeine selbstsüchtige Nichtigkeit vor, die Océane glaubte loswerden zu müssen, und sie wurden nicht enttäuscht.
»Wie Ihr alle wisst, findet diese Woche ein Ball zu Ehren meines anniversaire statt, meines Geburtstags, und ich möchte fragen, ob die mit diesem Code Purpur einhergehenden Veränderungen sich, Gott behüte, womöglich auf die Feierlichkeiten auswirken könnten. Die Vorbereitungen haben sechs lange und zermürbende Monate in Anspruch genommen … Ich musste sogar einen Aufenthalt in London auf mich nehmen, um angemessenen Schmuck kaufen zu können.«
Ein paar Leute äußerten murmelnd ihr Unverständnis, und Rose schüttelte ungläubig den Kopf, nur Galliana ließ sich nichts anmerken.
»Tatsächlich«, sagte sie, »wird das Fest stattfinden wie geplant. Wie wir alle wissen, müssen wir unser Hauptquartier gelegentlich für die Leute vom Festland öffnen, um keinen Verdacht zu erwecken.«
Océane klatschte erfreut in die Hände. »Parfait! Parfait!«, jauchzte sie entzückt.
»Die Versammlung ist hiermit geschlossen«, verkündete Galliana schließlich. »Das berufene Team wird heute Nachmittag pünktlich um zwei Uhr auslaufen. Ihr werdet ins Venedig des Jahres 1506 reisen und euch dort an der Banchina dei Ognissanti mit Paolo Cozzo, unserem Kontaktmann im Italien des sechzehnten Jahrhunderts, treffen. Das wäre alles.«
Alle erhoben sich und machten sich auf den Weg, den Prunksaal zu verlassen.
»Jake, dürfte ich kurz mit dir sprechen?«, fragte Galliana. »Und ihr drei« – sie nickte Topaz, Nathan und Charlie zu – »könntet ihr so lange dort drüben warten? Ich wünsche, nachher noch mit euch zu sprechen.«
Sie nickten gehorsam. »Sie führt die Gruppe an! Das werde ich mir jetzt bis ans Ende aller Tage anhören dürfen«, murmelte Nathan, während er gemeinsam mit den anderen ein Stück zur Seite trat.
Galliana ging mit Jake zu einem der großen Fenster. »Ich hoffe, du findest dich einigermaßen zurecht?«
Jake nickte.
»Es gibt etwas, das ich dir anvertrauen möchte«, sprach Galliana weiter. »Ich tue das, weil ich nicht will, dass du schlecht von deinen Eltern denkst. Wie du ja mittlerweile weißt, haben sie sich nach deiner Geburt aus der Organisation zurückgezogen. Doch dann gab es einen triftigen Grund, aus dem sie vor drei Jahren zurückkehrten …« Galliana zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Sie hofften, endlich herauszufinden, was mit deinem Bruder Philip geschehen ist, um sein Andenken ein für alle Mal ruhen lassen zu können.«
Jake schnappte nach Luft. »Wie meinen Sie das? Er starb bei einem Kletterunfall.«
Galliana legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Als dein Bruder verschwand, war er im Auftrag unserer Organisation unterwegs. Deine Eltern haben noch versucht, ihn aufzuhalten, aber wir können uns unserer Bestimmung nicht erwehren. Der innere Drang ist zu stark.«
Jake wurde schwindelig, und er musste sich am Fenstersims festhalten. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Philip wurde ins Amsterdam des Jahres 1689 gesandt, um einen der größten und ältesten Feinde der Geschichtshüter aufzuspüren, Prinz Xander Zeldt«, antwortete Galliana. »Philip hatte eine Verschwörung aufgedeckt, in deren Zuge drei europäische Staatsoberhäupter ermordet werden sollten. Niemand weiß, was dann geschah – die Mordanschläge fanden nie statt, und Zeldt wurde nie wieder gesehen. Was auf deinen Bruder leider ebenso zutrifft. Wir glauben, dass er sein Leben verloren hat, als er seine Pflicht erfüllte, doch seine Leiche wurde nie gefunden. Die Wirren der Geschichte sind ein sehr unüberschaubarer Ort, wie du dir vorstellen kannst. Dort einen Vermissten aufzuspüren, ist äußerst schwierig.«