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»Was genau wollen Sie mir damit sagen?«, fragte er schließlich mit bebender Stimme. »Dass Philip vielleicht noch am Leben ist?«
»Es ist zumindest möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte Galliana.
Das war zu viel für Jake. Seine Lippen begannen zu zittern, sein Atem ging stoßweise, und schließlich konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten.
Als die drei anderen jungen Agenten seinen Schmerz sahen, kamen sie rasch zu ihm, und Topaz legte ihm einen Arm um die Schulter.
»Ist ja gut«, sagte sie. »Es wird alles gut werden.«
Jake nickte. »Schon okay«, sagte er unter seinen Schluchzern. »Mir fehlt nichts. Ich weiß selbst nicht, warum ich weine. Schließlich bin ich kein kleiner Junge mehr …« Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Wenn du mit uns zusammen bist, musst du nicht so tun, als wärst du schon erwachsen«, tröstete sie ihn. »Wir verstehen voll und ganz, dass du durcheinander bist.«
»Ich habe gerade kein Taschentuch einstecken, hast du eins?«, flüsterte Charlie Nathan zu.
Nathan zögerte kurz, dann zog er ein mit feinster Rüsche verziertes Seidentaschentuch aus der Westentasche. »Chinesische Seide«, erklärte er, reichte es Jake und zuckte erschrocken zusammen, als dieser nicht ein-, sondern dreimal hineinschnäuzte.
»Danke«, sagte Jake schließlich und hielt es Nathan hin.
»Ich bitte dich«, protestierte Nathan, »es gehört dir. Behalt es als Andenken.«
Nachdem Jake sich wieder beruhigt hatte, sprach Galliana weiter.
»Es tut mir leid, dass diese Neuigkeiten über deinen Bruder dich so aus der Fassung gebracht haben. Tatsache ist, dass niemand von uns weiß, was genau geschehen ist, und vielleicht werden wir es nie erfahren. Aber deine Eltern sind nur deshalb wieder in die Dienste der Organisation getreten, um es herauszufinden, und ich hoffe, du verstehst das.«
Jake nickte, und Galliana legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du musst ziemlich erschöpft sein. Norland wird dich in dein Gemach führen.« Mit diesen Worten brachte sie Jake zur Tür, wo Norland ihn bereits mit einem Lächeln erwartete.
Jake wollte gerade den Prunksaal verlassen, da drehte er sich auf der Türschwelle noch einmal um. »Dieser Code Purpur, der verheißt nichts Gutes, oder?«, fragte er.
Galliana war nicht die Frau, die ihre Worte in Watte packte: »Ich fürchte, er weist auf eine Bedrohung von katastrophalen Ausmaßen hin. Ich habe eine solche Situation nur ein einziges Mal erlebt, und die ging nicht gut aus.«
»Und dieser Prinz … Zeldt oder wie auch immer sein Name war – was genau hat er getan?«
Galliana blickte Jake kurz nachdenklich an und erklärte dann: »Das ist eine lange Geschichte. Für den Moment soll es genügen, wenn du weißt, dass einst alle Hüter zu den Guten gehörten. Vor langer Zeit stand Zeldts Familie noch im Dienst der Organisation, doch nun sind sie unsere Feinde.« Sie schwieg kurz. »Falls du dich entscheiden solltest, dich uns anzuschließen – was ich dir nur nach reiflicher Erwägung deinerseits empfehlen kann –, wirst du den Rest noch früh genug erfahren.«
Jake nickte, doch Galliana war noch nicht fertig: »Noch ein Letztes, Jake. Wenn die Vergangenheit einmal passiert ist, müssen wir sie ruhen lassen. Unter keinen Umständen dürfen wir versuchen, sie zu verändern. Wir können die Toten nicht zurückholen, Kriege verhindern oder Katastrophen aufhalten, wenn sie bereits passiert sind. Wir können und sollten den großen Brand von London nicht verhindern und auch nicht den Untergang der Titanic, ganz gleich wie unsere Gefühle diesbezüglich auch aussehen mögen.« An dieser Stelle wurde ihr Tonfall todernst. »Die Geschichte ist heilig. Die Vergangenheit mag voller Schrecken sein, aber eines darfst du nie vergessen, Jake: Alles könnte noch tausendmal schlimmer sein. Das ist das Ziel, das Zeldt und seinesgleichen verfolgen – eine Welt voll unvorstellbarer Grausamkeit. Und um das zu erreichen, wollen sie die Geschichte zerstören.« Ihre Augen brannten nun regelrecht von einem inneren Feuer. »Das ist der Grund dafür, dass wir uns ihnen entgegenstellen: um neuerliche Schrecken zu verhindern, um zu schützen, was sich in unserer zerbrechlichen Vergangenheit ereignet hat. Dafür gibt es die Geschichtshüter.«
Galliana gab Jake einen Moment Zeit, ihre Worte zu verdauen, dann sagte sie: »Und jetzt geh dich ein wenig ausruhen.«
Jake nickte den anderen als Verabschiedung kurz zu.
»Vergiss nicht, zum Kai zu kommen, wenn wir ablegen«, sagte Topaz mit einem Lächeln.
Jake nickte noch einmal, dann wandte er sich um und folgte Norland zu seinen Gemächern.
Galliana blickte den beiden noch einen Moment lang hinterher, dann schloss sie die Doppeltür und wandte sich wieder den drei Agenten zu, die bei den Fenstern warteten.
»Kommandantin«, fragte Topaz, »worüber wolltet Ihr mit uns sprechen?«
Galliana atmete einmal tief durch. »Es gibt noch eine weitere Anweisung bezüglich eures Einsatzes, und sie ist von größter Dringlichkeit. Sie richtet sich vor allem an Euch, Topaz, doch ist es ebenso wichtig, dass auch die anderen Teilnehmenden die Wichtigkeit verstehen …«
10
REISEZIEL A.D. 1506
Norland geleitete Jake zu einem der Türme. »Wie Ihnen vielleicht bereits aufgefallen ist, gibt es schrecklich viele Stufen auf dieser kleinen Insel«, sagte er gut gelaunt und schnitt dabei eine Grimasse. »Uns Ältere hält das ganz schön auf Trab.«
»Sie leben die meiste Zeit über hier, oder?«, fragte Jake höflich.
»Hier und in London. Mister Cole hat mich gern in seiner Nähe. Damit ich aufpassen kann, dass er seinen Kopf nicht auf dem Nachttisch liegen lässt, wenn er in der Früh aus dem Haus geht.« Norland prustete laut los vor Lachen, und seine rosigen Wangen wurden noch röter. Jake fand den Scherz zwar nicht ganz so lustig wie der Butler selbst, lächelte aber freundlich.
»Und Sie nehmen auch an den Einsätzen teil und reisen in andere Epochen der Geschichte?«
»Ich? Oh, nein, Sir. Es gab Probleme mit meiner Tatkraft, als ich jünger war … Die Formen in meinen Augen, wissen Sie, ich sah nur Sechsen und Siebenen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Es ist wundervoll, zu den Geschichtshütern zu gehören, in welcher Funktion auch immer.«
Da fiel Jake etwas ein, das er auf der Escape gehört hatte. »Sagten Sie nicht, Sie wären einmal in Österreich gewesen? Hätten Mozart auf dem Piano spielen hören …?«
»Ach, du meine Güte, Sie haben aber ein gutes Gedächtnis, Sir! Sie haben selbstverständlich vollkommen recht, doch diese Gelegenheit sollte mein erster und einziger Einsatz als Geheimagent bleiben. Dennoch war es ganz wunderbar«, antwortete Norland, und seine Augen wurden feucht, als er an jene Tage zurückdachte. »All die Pracht und die Herrlichkeit am habsburgischen Hof, all die Bälle und Tänze und die hochgestellten Persönlichkeiten mit ihren gepuderten Perücken …« Er machte eine Verbeugung, als fordere er eine Hofdame zum Tanz auf, und wischte sich die Tränen der Rührung vom Gesicht.
»So, hier wären wir«, sagte er schließlich, als sie vor einer schweren Eichenholztür angekommen waren. »Dieses hier war das Lieblingsgemach Ihrer Eltern. Sie waren ganz vernarrt in das Licht.« Er führte Jake in ein kleines, rundes, gleich unterm Dach eines der Schlosstürme gelegenes Zimmer. »Ich gehe davon aus, dass Sie vorhaben, später wieder nach unten zu kommen, um die anderen zu verabschieden. Bis dahin – fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Norland wandte sich zum Gehen und blieb im Türrahmen noch einmal stehen. »Da es mir gerade einfällt: Diese Sache mit der Entführung tut mir aufrichtig leid. Es war nicht böse gemeint.«
»Schon in Ordnung«, gab Jake mit einem Zwinkern zurück. »War mal was anderes als diese langweiligen Freitagnachmittage.«
Der Butler wirkte immer noch ein wenig bedrückt. »Sie verzeihen mir doch, oder? Ich habe nur meine Befehle befolgt, Sir, wie Sie sicherlich verstehen werden.«
»Klar, vergeben und vergessen«, erwiderte Jake.
»Tatsächlich? Sie sind ein absoluter Gentleman!«, rief Norland erleichtert aus. »Wir beide werden bestens miteinander auskommen, das weiß ich jetzt schon«, fügte er seinerseits mit einem Zwinkern hinzu und schloss die Tür hinter sich.
Jake stellte seine Schultasche ab und sah sich um. Das Dachkämmerchen bot gerade genug Platz für das frischbezogene Himmelbett mit den dicken Kissen darauf und einen antiken, handbemalten Schrank.
Gedankenverloren ließ er sich auf das Bett fallen, streckte sich aus und starrte an die weiß getünchte Decke. Galliana hatte gesagt, er solle sich ausruhen, aber sein Kopf war viel zu voll von neuen Eindrücken, und außerdem hörte er Lärm von draußen: Es war Nathan, der Befehle erteilte. Jake stand wieder auf, öffnete das Fenster und schaute hinaus.
Der Anlegesteg lag direkt unterhalb seines Dachkämmerchens. Die Escape war verschwunden – wahrscheinlich in den geheimen Hafen im hohlen Inneren der Insel –, und an ihrer Stelle lag ein anderes, kleineres Schiff vor Anker; es war die Campana, die Topaz ihm zuvor gezeigt hatte. Ihr Rumpf war in einem kräftigen Ockerton lackiert, das Vorschiff stieg steil an, und sie hatte das für eine Galeere typische quadratische Segel. Nathan, der, wenn er Befehle brüllte, noch mehr wie ein Amerikaner klang, beaufsichtigte gerade ein paar Matrosen, die das Schiff beluden.
Jake ließ das Fenster offen und ging zum Schrank hinüber. Als er ihn öffnete, wurde er mit einem Schlag leichenblass: Er hatte erwartet, ihn leer vorzufinden, aber das war er nicht – und den Gegenstand, den er darin erblickte, kannte er nur allzu gut: Es war ein roter Koffer, der Koffer, den seine Eltern im Laden dabeigehabt hatten, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Jake nahm ihn, legte ihn aufs Bett und öffnete den Deckel. Sofort erkannte er die Sachen seiner Eltern, die sie angeblich für einen Kurztrip zu einer Sanitärmesse in Birmingham gepackt hatten, und neuerliche Furcht ergriff ihn. Er zog an dem Reißverschluss des Dokumentenfachs und nahm die beiden Pässe heraus, aus denen ihn die Gesichter seiner Eltern anblickten, wie sie verlegen in die Linse eines Fotoautomaten am Bahnhof von Greenwich lächelten.
Er konnte sich bestens an den Tag erinnern. Alan und Miriam hatten fünf Versuche gebraucht, um ein ordentliches Foto zustande zu kriegen, weil sie immer wieder in albernes Gekicher ausgebrochen waren, und die genervten Kommentare eines hinter ihnen wartenden Pendlers hatten alles nur noch schlimmer gemacht.
Als Jake so zwischen den Gesichtern seiner Mom und seines Dads hin und her blickte, wurde es ihm bewusster denn je – seine Eltern waren verschollen. Nicht nur irgendwo in Europa, sondern in der Zeit selbst. Jake wusste, dass sie ihre Pässe im Italien des sechzehnten Jahrhunderts zwar nicht brauchen würden, aber die Tatsache, dass er ihre Ausweise hier in Händen hielt, unterstrich ihre verzweifelte Lage: Was, wenn sie im Gefängnis saßen oder getrennt wurden? Was, wenn sie vielleicht schon …? Jake rannte zurück zum Fenster. Er brauchte dringend frische Luft.
Unter ihm waren die Matrosen immer noch damit beschäftigt, die Campana zu beladen, aber Nathan war nirgendwo mehr zu sehen.