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»Nur zur Erklärung«, meinte Topaz mit einem Seufzer zu Jake, »Nathan ist nicht nur ein eitler Gockel, sondern auch ein gefühlloser Trampel. Aber das hast du wahrscheinlich schon mitbekommen.«
Allmählich gelangten sie tiefer in die Stadt. Auf einem Platz hatte sich eine kleine Menschenmenge um einen Mann versammelt, der auf einem niedrigen Podest stand und mit heiser geschriener Stimme einen leidenschaftlichen Vortrag hielt. Er hatte einen langen, ungepflegten Bart, trug eine schmutzige Robe und hielt mit ausgemergelten Armen eine Wassermelone in die Luft.
»Was sagt er?«, fragte Nathan an Paolo gewandt. »Mein Italienisch ist ein wenig eingerostet. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass er nicht versucht, diese Melone an den Mann zu bringen, oder?«
Noch bevor Paolo antworten konnte, erklärte Topaz: »Er sagt, die Erde wäre nicht flach wie eine Scheibe, sondern rund wie diese Melone. Und er sagt, dass wir uns nicht im Mittelpunkt des Universums befinden, dass sich die Sonne nicht um die Erde dreht, sondern umgekehrt.«
Paolo nickte stumm.
»Da ist der gute Mann seiner Zeit ja ganz schön weit voraus«, merkte Charlie an. »Die alten Griechen hatten zwar schon lange vorher dieselbe Idee, aber Kopernikus wird seine Theorie von den Himmelssphären erst 1543 veröffentlichen, wenn mich nicht alles täuscht.«
Charlie hatte recht: Die meisten der Umstehenden starrten den Mann nur verständnislos an, und ein paar pfiffen oder buhten. Da drängte sich eine Gruppe von Soldaten in Helm und Rüstung durch die Menge und ergriff den Sprecher. Sie zogen ihn von seinem Podest und befahlen den Zuhörern, wieder ihrer Wege zu gehen, während sie den immer noch schreienden Mann mit sich zerrten.
»Solche Szenen sieht man hier in letzter Zeit immer häufiger«, meinte Paolo. »Die Menschen haben die Nase voll von den neuen Philosophien.«
»Die neuen Philosophien?«, fragte Nathan.
»Er meint die Anfänge des Humanismus, der sich über Europa ausbreitet«, antwortete Topaz.
»Tatsächlich? Ich habe zwar nicht dich gefragt, aber … Humanismus. Selbstverständlich.«
»Natürlich hat er nicht die geringste Ahnung, von was er da redet«, flüsterte Topaz Jake zu. »Wahrscheinlich hält er Humanismus für eine Infektionskrankheit, die man sich in brackigem Wasser zuzieht.«
»Der Humanismus ist eine Weltanschauung, welche die Würde aller Menschen betont«, referierte Nathan in ausgesucht britischem Akzent, »unabhängig von der religiösen Überzeugung. Eine weitere Grundannahme des Humanismus ist, dass wir alle – ein jeder, der auf Erden wandelt – gleich sind.«
»Jeder und jede«, warf Topaz ergänzend ein.
Paolo blickte verunsichert zwischen Nathan und Topaz hin und her, und Charlie erklärte ihm hinter vorgehaltener Hand: »Sie tun nur so. In Wirklichkeit lieben sie sich heiß und innig.«
Nachdem sie den Platz überquert hatten, setzten sie ihren Weg an einem Kanal entlang fort. Unterwegs sah Jake einen Schausteller, der gerade versuchte, seinem Kapuzineräffchen einen besonders komplizierten Trick beizubringen, ein anderer beschwor mit einer Flöte Kobras in einem geflochtenen Korb. Da blickte Paolo sich kurz um, eilte die Stufen zu einem heruntergekommen aussehenden Gebäude hinauf und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. An der Tür sah Jake ein hölzernes Schild, in das, ziemlich derb, das Emblem der Geschichtshüter geschnitzt war.
Sie betraten einen hellen Raum mit hoher Decke, in dem gerade Hochbetrieb herrschte. Mindestens acht Männer mit Hauben auf dem Kopf rannten hin und her, von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt.
»Eine Pizzabäckerei!«, rief Nathan begeistert.
»Eigentlich Fladenbrot, Galette genauer gesagt. Ein neues Rezept aus Frankreich«, korrigierte Paolo.
»Für mich sieht es aus wie Pizza«, erwiderte Nathan achselzuckend. »Unbestreitbar eine vortreffliche Tarnung für ein Geheimdienstbüro.«
»Oh, es ist ganz und gar keine Tarnung – hier wird wirklich gebacken, und zwar das beste Brot der Stadt. Das Büro ist nur ab und zu besetzt und befindet sich im Hinterzimmer.«
»Ich liebe die Arbeitsphilosophie der Italiener, sie ist so … laissez faire«, schwärmte Nathan und schnappte sich im Vorübergehen eine frische Galette vom Backblech.
»Mach nur so weiter«, meinte Topaz, die den bösen Seitenblick des Bäckermeisters gesehen hatte.
»Emmentaler, würde ich sagen«, erklärte Nathan ungerührt. »Charlie, was meinst du?«
Charlie nahm ebenfalls ein Stück und kaute nachdenklich darauf herum. »Ich würde eher auf Gouda tippen, wenn auch von ungewöhnlich nussigem Geschmack«, urteilte er schließlich. »Und Muskat. Interessantes Rezept.«
Wieder drehte sich der Kopf des Bäckermeisters. In Charlie schien er – ganz im Gegensatz zu Nathan – einen Fachmann zu erkennen und nickte ihm anerkennend zu.
»Wenn alle ihren Heißhunger gestillt haben, könnten wir uns dann mit diesem Code Purpur beschäftigen, dessentwegen wir eigentlich hier sind, und dem möglicherweise kurz bevorstehenden Weltuntergang?«, fragte Topaz verärgert, um die beiden wieder zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen.
Zu viert gingen sie weiter in das kleine Hinterzimmer der Bäckerei, das bis oben hin vollgestopft war mit Tomatenkisten und frischem Basilikum. Es sah nicht nur aus wie ein Lagerraum, es war auch einer, und nicht im Geringsten zu vergleichen mit der streng geschäftsmäßigen Atmosphäre in London oder Mont Saint-Michel.
»Das ist das Büro?«, fragte Topaz ungläubig und deutete auf einen klapprigen Tisch, auf dem zwischen verschiedenen Sorten von Hart-und Weichkäse ein ebenso klapprig aussehender Meslith-Schreiber stand.
Paolos betretener Blick war Antwort genug.
Topaz ging zu dem Tisch und inspizierte die Maschine. »Von hier müssen Miriam und Alan Djones ihren SOS-Ruf abgesetzt haben«, sagte sie.
Neugierig trat Jake neben Topaz, um das Gerät ebenfalls in Augenschein zu nehmen. Als er die Hand ausstreckte und den Kristallstab an der Rückseite berührte, bekam er einen heftigen Stromschlag.
»Das passiert, wenn man eine Meslith-Antenne berührt. Lektion gelernt«, kommentierte Charlie und wandte sich an Paolo. »Was genau haben die beiden in Venedig gemacht?«
Paolo zog ein zerknittertes Bündel von Notizzetteln aus der Hosentasche und versuchte, seine eigene Handschrift zu entziffern. Der oberste Zettel schien ihm einiges an Problemen zu bereiten, aber schließlich hatte er es: »Ach, das ist die Einkaufsliste meiner Mutter. Sie sammelt venezianische Glaskunst. Sie liebt diese Farben!«
»Wie faszinierend«, murmelte Nathan.
Paolo nahm den nächsten Zettel zur Hand. »Da ist es: Sie kamen Dienstagabend in Venedig an. Am Mittwoch suchten sie das Haus von Signore Philippo im Norden der Stadt auf. Er ist ein berühmter Architekt, der Anfang dieses Monats auf dem Weg zur Arbeit auf mysteriöse Weise verschwand.«
»Auf mysteriöse Weise?«, wiederholte Nathan. »Könnte er nicht einfach ausgerutscht und in einem Kanal ertrunken sein?«
»Nein, das ist es ja gerade«, widersprach Paolo und wurde plötzlich lebhaft. »In den letzten Monaten sind mindestens zehn Architekten auf diese Weise verschwunden, und das nicht nur in Venedig – Florenz, Parma, Padua, überall dasselbe. Es ist das Gesprächsthema in der Stadt.«
»Warum sollte jemand ausgerechnet Architekten um die Ecke bringen?«, fragte Nathan mit einem gelangweilten Seufzer. »Eine vergleichsweise harmlose Berufsgruppe, wie ich meinen würde.«
»Vielleicht wurden sie gar nicht ermordet«, warf Jake ein, »sondern entführt, weil jemand ihre Dienste braucht.«
Topaz blickte Jake beeindruckt an, doch Nathan zuckte nur gleichgültig die Achseln. »Sind Djones und Djones von diesem Ausflug zurückgekehrt?«, fragte er.
»Kurz«, antwortete Paolo. »Dann, um sieben Uhr abends, gingen sie zum Markusdom. Danach habe ich die ganze Nacht auf sie gewartet. Doch sie kamen nicht.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Topaz drückte kurz Jakes Hand.
»Haben sie dir gesagt, dass sie zum Markusdom wollten?«, unterbrach Charlie schließlich die Stille.
»Sie haben mich nach dem Weg dorthin gefragt«, erwiderte Paolo.
»Waren deine Eltern religiös?«, fragte Nathan in Jakes Richtung.
»An Weihnachten hat meine Mutter immer Lebkuchen gebacken, aber religiös? Nicht dass ich wüsste.«
»Il y a quelque chose ici«, rief Topaz aus, die gerade ein anscheinend leeres Stück Pergament untersuchte. »Jemand hat das hier als Schreibunterlage benutzt. Man sieht, wie sich die Buchstaben durchgedrückt haben.«
Nathan wollte nach dem Pergament greifen, aber Topaz zog den Zettel weg und hielt ihn gegen das Licht. »Kennst du diese Handschrift?«, fragte sie Jake.