123878.fb2 Jake Djones und die H?ter der Zeit - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

Jake Djones und die H?ter der Zeit - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

Doch das hier war etwas anderes. Diesmal war er allein. So allein, wie man nur sein konnte. Jake war in einem fremden Land, in einer ihm unbekannten Stadt, in einem anderen Zeitalter, durch einen tödlichen Feind von seinen Freunden getrennt. Noch einmal zog er die Papiere seiner Eltern heraus und betrachtete die Fotos. Sie verschwammen vor seinen Augen. Jake wusste, er durfte auf keinen Fall die Kontrolle verlieren, und so fasste er einen Entschluss: Er durfte und er würde nicht verzweifeln, sondern seine Angst mit Vernunft niederkämpfen.

Nathan hatte gesagt, er solle zum Markusdom gehen, Jake sei ihre einzige Hoffnung. Und genau das würde er tun. Seine Eltern und die anderen finden. Nathan hatte ebenfalls gesagt, er wäre zu wertvoll, als dass Zeldts Soldaten ihn töten würden. Mit Sicherheit galt das auch für die anderen – sie waren alle zu wertvoll und deshalb noch am Leben, irgendwo.

Jake wusste, was er zu tun hatte, aber ihm war immer noch mulmig zumute. Immerhin waren die anderen Agenten, die weit erfahrener waren als er selbst, alle gefangen genommen worden. Er selbst war ein absoluter Neuling in diesem Metier. Mit seinen Chancen, den roten Häschern zu entkommen, stand es also nicht gerade zum Besten. Und dieser Prinz Zeldt war, wie Nathan ihm eingeschärft hatte, die Verkörperung des Bösen und hatte eine ganze Armee im Rücken. Jake hingegen war allein, ein Schuljunge, der sich ins sechzehnte Jahrhundert verirrt hatte. Wie in aller Welt sollte er das überleben?

»Hör auf! Genug jetzt!«, sagte Jake zu sich selbst. »Dir bleibt gar keine andere Wahl als zu überleben.«

Entschlossen nahm er die Schere zur Hand und rückte damit den braunen Locken zu Leibe, die seine Mutter so sehr liebte. Lautlos fielen sie auf das schmutzige Pflaster, und innerhalb weniger als einer Minute hatte Jake sich vom unbedarften Lockenschopf in einen jungen Soldaten verwandelt.

Er atmete noch einmal tief ein, steckte die Schere ein, hob Kutte und Brustpanzer auf, straffte seine Schultern und ging los. Als er die Stufen der Rialtobrücke erreichte, spähte er wachsam in die Dunkelheit vor ihm und ging vorsichtig hinauf. Auf dem Scheitel der Brücke angekommen, sah er eine Gruppe von Leuten dicht beieinanderstehen, die aus Flaschen tranken und sich mit rauen Stimmen unterhielten. Als er auf ihrer Höhe war, verstummte das Gespräch abrupt, und sie starrten ihn unverhohlen an.

Jake blieb stehen. »Kirche? Duomo? San Marco?«, fragte er in gebrochenem Italienisch.

Einen Moment lang bekam er keine Antwort, dann deutete eine Frau mit verfilztem, rotem Haar und einem übel geschwollenen Auge wortlos auf eine düstere Straße am anderen Ende der Brücke.

Jake nickte und ging weiter, während die Gruppe ihm schweigend nachblickte und sich schließlich wieder ihrer Unterhaltung widmete.

Als Jake die Piazza San Marco erreichte, schlug die Turmuhr gerade fünf Uhr. Der Platz war riesig. Der Campanile ragte hoch in den Morgenhimmel auf. Gleich daneben sah Jake die märchenhaft anmutenden Kuppeln und Türmchen des Doms, und zu beiden Seiten der Piazza erstreckten sich imposante, ockerfarbene Gebäude mit mehrstöckigen Arkaden davor, deren von Sonne und Seeluft gebleichten Baumwollmarkisen sich sanft in der morgendlichen Brise blähten. Die Sonne ging bereits auf, während die ersten, noch verschlafenen Venezianer sich an ihr Tagwerk machten.

Jake blickte sich vorsichtig um, während er die Piazza überquerte. Als er an einem alten, bärtigen Mann in zerrissener Kleidung vorüberkam, der ihn mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, beschleunigte er seine Schritte und fand zu seiner Überraschung die Eingangstüren des Doms weit offen.

Im Inneren der Kirche wimmelte es bereits vor Geschäftigkeit. Die Sitzbänke waren entfernt worden, überall lagen Sägespäne auf dem marmornen Boden, Gänse und Schafe liefen frei umher, und irgendwo sah Jake sogar eine Kuh, die gemächlich wiederkäute; dazwischen Menschen, die eifrig um Stoffe, Gewürze und Töpferwaren feilschten, sich lebhaft unterhielten oder in schattigen Winkeln vor sich hin dösten.

Vor einer der Längsseiten ragte ein hölzernes Gerüst auf. Oben auf der zerbrechlich wirkenden Konstruktion stand ein Mann mit einem rechteckigen Hut auf dem Kopf und arbeitete an einem Fresko. Die Umrisse der Figuren waren bereits fertig, und der Maler schickte sich an, die Flächen dazwischen mit einem leuchtend blauen Himmel zu füllen.

Wie hypnotisiert trat Jake näher an das Gerüst und fragte sich, ob es sich bei dem Maler um einen berühmten Meister handelte; Leonardo da Vinci oder Michelangelo vielleicht, überlegte er.

Der Maler, der Jakes neugierige Blicke zu spüren schien, schaute kurz nach unten und zwinkerte ihm zu, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit.

In diesem Moment registrierte Jake am Rand seines Gesichtsfelds eine Gestalt, bei deren Anblick er unwillkürlich die Luft anhielt: Sie war in eine scharlachrote Kutte gewandet und schritt zielstrebig durch die Kirche. Jake senkte den Kopf und drehte sich ein Stück weg, beobachtete den Mann aber weiter aus dem Augenwinkel.

Schon wenige Momente später verschwand er in einer Art hölzernem Verschlag am anderen Ende des Kirchenschiffs.

Möglichst unauffällig ging Jake in dieselbe Richtung, und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Beichte, Markusdom, Amerigo Vespucci. Der hölzerne Verschlag, in dem der Kuttenträger verschwunden war, war nichts anderes als ein Beichtstuhl! Jake stellte sich hinter eine der Steinsäulen und spähte vorsichtig um die Ecke.

Der Beichtstuhl hatte zwei Abteile. Die eine Kabine, in der wahrscheinlich der Priester saß, war verschlossen, die Tür zur anderen stand offen, und hinter dem nur halb zugezogenen Vorhang sah Jake den leuchtend roten Umhang.

Bis er plötzlich verschwand.

»Was?!«, entfuhr es Jake, während er sich ein Stückchen weiter hinter der Säule hervorwagte, um besser sehen zu können. Kein Zweifel: Die Beichtkabine war leer.

»Per piacere.«

Eine helle Stimme direkt neben seinem Ohr ließ Jake zusammenfahren. Als er sich umdrehte, stand vor ihm eine alte Frau, die ihm die von tiefen Falten zerfurchten Hände entgegenstreckte. Eines ihrer Augen war durchgehend milchig weiß.

»Per piacere«, wiederholte sie und stieß ihm die knochigen Finger in die Rippen.

Jake lächelte verhalten und dachte an den Lederbeutel, den Nathan ihm gegeben hatte. Ganz langsam zog er ihn hervor, nahm eine Münze heraus und gab sie der alten Frau.

Zuerst reagierte sie nicht, doch dann verwandelte sich der ungläubige Ausdruck auf ihrem Gesicht in helles Freudenstrahlen. »Dio vi benedica«, flüsterte die Frau lächelnd, während sie Jake mit ledrigen Fingern über die Wange strich. Dann verbeugte sie sich, trat ein paar Schritte zurück und verschwand im Gedränge der Leute.

Jake richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Beichtstuhl. Es muss eine Geheimtür darin sein, dachte er. Ein Eingang. Zu was auch immer.

Die Vorstellung behagte ihm zwar nicht sonderlich, aber Jake wusste, dass er irgendwie dort hineingelangen musste. Mit pochendem Herzen blickte er auf die Kutte und den Brustpanzer unter seinem Arm: Dies war der Moment, beides anzulegen.

Der Harnisch war leicht und stabil, bedeckte Jakes Brust und Bauch und passte wie angegossen. Nur der Umhang schien etwas zu lang und reichte bis zum Boden.

Jake zog die Kapuze tief ins Gesicht und ging los. Mit einem letzten entschlossenen Schritt zog er den Vorhang beiseite und betrat die offene Kabine. Als er darin keinen Hinweis auf eine weitere Tür entdeckte, legte er beide Hände auf die Rückwand und drückte dagegen.

Nichts.

»Chi volete vedere?«, zischte eine Stimme hinter dem Trenngitter, die Jake das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vage konnte er die Umrisse eines Gesichts erkennen.

»Chi volete vedere?«, wiederholte der Mann und zog an einer langstieligen Pfeife, deren Rauch in dünnen Schwaden in Jakes Kabine kroch.

Er sprach zwar so gut wie kein Italienisch, aber Jake war sicher, dass chi »wen« bedeuten musste. Und noch etwas fiel ihm ein: der Name, den seine Eltern aufgeschrieben hatten. Der Name des Mannes, nach dem Amerika benannt war.

»Amerigo Vespucci …«, sagte er.

Einen Moment blieb es totenstill, dann hörte Jake ein leises Klicken, und die Rückwand der Kabine glitt zur Seite. Dahinter lag ein Tunnel. Jake schlüpfte hinein, und die Tür schloss sich hinter ihm.

13

IM SCHATTEN DES BÖSEN

Der Gang vor ihm war dunkel und feucht, die Wände aus massivem Stein. Jake sah, wie der Mann mit der roten Kutte den Tunnel bereits am anderen Ende wieder verließ, und machte sich an die Verfolgung.

Er trat in einen großen, nur schummrig beleuchteten Vorraum mit kreisförmigem Grundriss, über den sich eine hohe Gewölbedecke spannte. Das wenige Licht kam von einem weiteren Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite. Die Augen fest darauf gerichtet, durchquerte Jake mit schnellen Schritten den Raum und stolperte unvermittelt über einen kleinen Absatz. Als er hörte, wie Kieselsteine durch eine Öffnung im Boden fielen, blieb er abrupt stehen.

Jake blickte nach unten und schnappte unwillkürlich nach Luft: Vor seinen Füßen gähnte ein gigantisches Bohrloch, das sich unendlich weit in die Tiefe zu erstrecken schien. An der Seite des Schachts entlang führte eine steinerne Wendeltreppe hinab in die Dunkelheit. Die Luft, die ihm daraus entgegenwehte, war kalt und feucht, und von unten drang das Echo tropfenden Wassers an Jakes Ohren. Dem Geräusch nach zu urteilen, reichte der Schacht bis tief unter die Kanäle der Stadt.

Jake trat einen Schritt zurück und lief, immer wieder ehrfürchtig in den Abgrund starrend, am Rand des Bohrlochs entlang, bis er den zweiten Durchgang erreichte, durch den die scharlachrote Gestalt verschwunden war.

Dahinter befand sich ein noch größerer Raum. Es war eine Art Atelier, doppelt so hoch wie alle, die Jake bisher gesehen hatte, und die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster waren vergittert. Der Kuttenmann, dem er auf den Fersen war, eilte durch das Atelier auf einen weiteren Durchgang zu.

Jake zögerte einen Moment. »Ich kann das nicht«, sagte er zu sich selbst. Er wollte schon umkehren, da fiel ihm der Entschluss ein, den er auf dem Weg hierher gefasst hatte. Du hast gar keine andere Wahl. Jake gab sich einen Ruck und betrat das Atelier.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und er brauchte eine Weile, um sich an das gespenstische Zwielicht zu gewöhnen. Die hohen Fenster erlaubten einen Blick auf einen schmalen Kanal. Vor ihnen stand eine lange Reihe provisorisch anmutender Tische mit einfachen Holzbänken. Von der Decke hingen große Kerzenleuchter, und zu seiner Linken entdeckte Jake einen weiteren Durchgang, der jedoch von einem schweren eisernen Gitter versperrt war.

Er bewegte sich vorsichtig auf einen der Tische zu und blieb erneut mit dem Fuß an etwas hängen. An etwas Metallischem, dachte er, und als er nach unten schaute, sah er die schweren Eisenringe, die entlang der Tischreihe in den Boden eingelassen waren.

Sein Blick wanderte weiter zu den großen Pergamentbogen, die auf den Tischen ausgebreitet lagen. Jake betrachtete die komplizierten Zeichnungen und Diagramme darauf, sah Tintenfässer und Federkiele, die neben den Bogen bereitlagen, und als er noch genauer hinschaute, durchfuhr es ihn wie ein Stromstoß.

»Superia …«, flüsterte Jake. »Findet Gipfel von Superia.« So hatte die Nachricht gelautet, die seine Eltern zum Nullpunkt, nach Mont Saint-Michel, geschickt hatten – und so lautete auch die Überschrift, die in Fraktur über jedem der Pergamentbogen geschrieben stand.

Daneben sah er die Zeichnung einer Schlange, die sich um einen Schild wand; das gleiche Wappen, das auch in Jakes Brustharnisch graviert war. Die restliche Fläche war übersät mit detaillierten Zeichnungen eines Gebäudes von beeindruckenden Proportionen. Mindestens vierzig Stockwerke, genauso hoch wie ein moderner Wolkenkratzer, schätzte Jake. Doch der Baustil war altertümlich mit den gotischen Rundbogenfenstern und Wasserspeiern auf den zahllosen Simsen. Außerdem war, wie in dem Atelier, jedes einzelne der mindestens tausend Fenster vergittert. Das Bauwerk sah aus wie eine düstere Zukunftsvision eines Menschen aus dem sechzehnten Jahrhundert, dachte Jake, und irgendetwas an dieser Tatsache beunruhigte ihn. Er ging weiter zum nächsten Tisch. Die Zeichnungen dort waren Entwürfe für ein gigantisches Tor in einer mächtigen Mauer, genauso finster und ebenfalls mit vergitterten, bullaugenartigen Fenstern.