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Plötzlich hörte er, wie sich durch den Tunnel hinter ihm Schritte näherten. Jakes Kopf fuhr herum auf der hektischen Suche nach einem Versteck, aber es blieb nicht genug Zeit. Also zog er sich vorsichtig in eine dunkle Ecke zurück, während sechs Gestalten in roten Kutten im Gleichschritt in den Raum marschierten. Mit ihren brennenden Fackeln begannen sie, die dicken Wachskerzen auf den Lüstern anzuzünden. Als einer von ihnen plötzlich auf Jake zukam, hielt er den Atem an.
Doch der Mann schien keinen Verdacht zu schöpfen, schließlich war Jakes scharlachrote Uniform die perfekte Verkleidung an diesem Ort, und der Soldat reichte ihm lediglich eine Fackel. Als er ihm dann befahl, gefälligst zu helfen, war Jake dennoch überrascht: Der Soldat sprach Englisch.
Jake nahm die Fackel entgegen und konnte kurz das Gesicht seines Gegenübers sehen. Es war ein groß gewachsener Teenager mit kurz geschorenem Haar, kalten Augen und einem Auftreten, das auf erschreckende Weise erwachsen wirkte. Jake ließ den Blick über die anderen Soldaten schweifen: Er sah sowohl Jungen als auch Mädchen, doch irgendwie waren sie alle gleich – zusammengekniffene Münder in ausdruckslosen, harten Gesichtern, wie Maschinen. Jake wusste instinktiv, dass er sich genauso gebärden musste, wenn er nicht auffallen wollte.
Während er sich daran machte, die Kerzen zu entzünden, nahm einer der Wächter einen großen Schlüsselring von seinem Gürtel und schloss die Gittertür auf, die den Durchgang zu dem Raum links versperrte.
»Svegliati! Wacht auf! An die Arbeit!«, bellte er.
Jake hörte ein paar gemurmelte Worte und das Rasseln von Ketten. Wenige Augenblicke später kam eine traurige Prozession von einem Dutzend Männern, alle an den Händen gefesselt und an den Füßen aneinandergekettet, in das Atelier geschlurft. Sie mussten einst wohlhabend gewesen sein, denn die löchrigen Fetzen, die ihnen vom Leib hingen, waren einmal feinstes Tuch gewesen. Doch jetzt wurden sie wie Vieh zu den Tischen getrieben, wo ihnen die Handfesseln abgenommen und die Füße sogleich an die am Boden befestigten Eisenringe gekettet wurden.
Jake hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dies die vermissten Architekten waren.
Einer von ihnen versuchte, dem alten Mann neben sich ein Stück Brot zuzustecken. Der greise Nachbar nahm es dankbar lächelnd entgegen, doch schon im nächsten Augenblick fuhr ein Knüppel auf seine Hand nieder, und das Brot fiel zu Boden, wo der Wächter es mit dem Stiefel beiseitetrat, in Jakes Richtung.
»An die Arbeit mit euch!«, brüllte der Soldat.
Der alte Mann gehorchte, setzte sich an seinen Tisch, nahm mit knochigen, zittrigen Fingern den Federkiel zur Hand und begann zu zeichnen.
»Und damit meine ich euch alle!«, schrie der Wärter weiter und ließ den Knüppel krachend auf einen der Tische niedersausen.
Jake versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, tastete aber unwillkürlich nach dem Schwert unter seiner Kutte. Während die Architekten sich an die Arbeit machten, studierte er ihre Gesichter genauer: Sie waren alle blass, die leeren Augen voller Verzweiflung, doch der bemitleidenswerteste von allen war der alte Mann, dem der Wärter das Stück Brot verweigert hatte. Während er zeichnete, flackerten seine Augenlider, und er murmelte ständig vor sich hin.
Der Anblick des geschundenen Greises erfüllte Jake mit hilflosem Zorn.
Als eine weitere Tür geöffnet wurde und sich alle Blicke in ihre Richtung wandten, bückte Jake sich ohne nachzudenken nach dem Stück Brot. Dann trat er einen Schritt nach vorn und legte es dem alten Mann auf den Schoß. Als dieser ihn verblüfft anstarrte, warf Jake ihm einen kurzen strengen Blick zu und zog sich dann wieder zurück.
Unterdessen betrat ein hünenhafter Mann den Raum, gefolgt von einem gefährlich aussehenden Hund.
Jake konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken: Es war von Bliecke mit seiner unverkennbaren Narbe im Gesicht, der ihn und Nathan im Hafen verfolgt hatte.
Von Bliecke griff nach einem Wasserkrug, trank einen großen Schluck daraus und goss sich den Rest über den Kopf, um wach zu werden. Der Mastiff gähnte und streckte sich, dann lief er neugierig schnüffelnd durchs Atelier.
Stocksteif stand Jake da, während die Bestie sich ihm näherte. Erst jetzt sah er, wie übel zugerichtet das Vieh war: Ein Ohr hing in Fetzen, der ganze Schädel war vernarbt, ein Auge halb geschlossen, und auf einer Flanke wuchs so gut wie kein Fell mehr.
Das Tier schien Witterung aufgenommen zu haben, denn Jake spürte seine kalte, feuchte Schnauze an der Hand, und als er versuchte, sie wegzuziehen, zog der Mastiff knurrend die Lefzen nach oben.
»Felson!«, rief von Bliecke. Widerstrebend ließ der Hund von Jake ab und trottete hinüber zu seinem Herrn, der einen halb abgenagten Knochen in eine Ecke warf, auf den Felson sich sofort begierig stürzte.
Jake atmete auf.
Von Bliecke zog ein altmodisches Rasiermesser unter seinem Umhang hervor, klappte die blitzende Klinge aus und fuhr sich damit über den stoppeligen Schädel, ohne den kleinen Schnitten, die er sich dabei zufügte, auch nur die geringste Beachtung zu schenken.
In dem Bewusstsein, dass dieser Mann möglicherweise wusste, wo Nathan, Topaz und Charlie – und nicht zuletzt seine Eltern – waren, beobachtete Jake ihn aus dem Augenwinkel, so genau es nur irgend ging. Vielleicht wusste das Ungeheuer sogar etwas über den Verbleib seines Bruders Philip.
Beinahe eine ganze Stunde lang stand Jake so da, wobei er weder die entführten Architekten aus den Augen ließ noch von Bliecke, der damit beschäftigt war, sein persönliches Waffenarsenal zu polieren. Da sah er, wie sich auf dem Kanal jenseits des Fensters eine schwarze Gondel mit ebenso schwarzem Sonnendach näherte. Die Gondel legte an, vier Soldaten in roten Umhängen stiegen aus, und als ihnen die junge Frau folgte, die unter dem schwarzen Sonnendach gesessen hatte, nahmen sie sofort Haltung an und senkten die Köpfe.
Von Bliecke hatte die Neuankömmlinge ebenfalls bemerkt. »Mina Schlitz …«, sagte er leise und zog eine Braue nach oben.
Alle im Raum erstarrten beim Klang des Namens – die Gefangenen genauso wie deren Wärter.
Einen Moment später ertönte ein lautes Klopfen an der Tür.
Felson kam sogleich herbeigelaufen und schnupperte am Türspalt. Plötzlich zog er den Schwanz ein und verkroch sich winselnd unter einem der Zeichentische.
Von Bliecke ging zu der Tür, schob die vier großen Riegel zur Seite und öffnete sie.
Mina Schlitz betrat den Raum, gefolgt von ihrer Garde.
Jake war überrascht: Sie war noch ein Teenager, etwa in Jakes Alter, hatte dunkle Augen, rabenschwarzes, glattes Haar – und eine Ausstrahlung, zu der ihm nur die Worte »arrogant« und »eiskalt« einfielen. Sie trug eine Seidenbluse mit plissierten Ärmeln, darüber ein eng sitzendes Wams. Ein samtenes Barett krönte ihr alabasterweißes Gesicht, und um den Hals trug sie eine Perle, die an einem schmucklosen Stück scharlachroten Fadens hing. Um ihren Unterarm wand sich eine dünne, auf dem Rücken rot gezeichnete Schlange, die Mina mit blassen Fingern zärtlich streichelte.
»Guten Tag, Miss Schlitz … hattet Ihr eine angenehme Reise?«, murmelte von Bliecke und neigte das Haupt.
Das Mädchen ignorierte seine Frage und küsste die Schlange auf den Kopf, um sie dann behutsam in einen kleinen, an ihrem Gürtel befestigten Käfig zu legen. Keiner wagte auch nur einen Mucks zu machen, während ihre kalten Augen durch den Raum schweiften.
»Macht eure Pläne fertig«, wies sie die Architekten mit einer Stimme wie Säure an und wandte sich dann an von Bliecke. Sie hatte einen leichten deutschen Akzent, aber ansonsten war ihr Englisch makellos: »Kommandant, die gefangen genommenen Agenten sind sofort nach Schloss Schwarzheim zu überstellen.«
Jake spitzte die Ohren. Damit konnten nur Topaz und die anderen gemeint sein. Die Nachricht, dass sie noch am Leben waren, beruhigte ihn ein wenig.
»Und Doktor Talisman Kant, ich dach …«, antwortete von Bliecke auf Deutsch, aber Mina fiel ihm ins Wort.
»Englisch!«, unterbrach sie barsch. »Englisch ist die königliche Sprache.«
Seufzend gehorchte von Bliecke. »Und Doktor Kant? Das Treffen in Bassano?«, fragte er.
»Eure Befehle wurden geändert. Ich werde Doktor Kant treffen.« Mina musterte ihre Leibgarde. »Diese Soldaten werden mich begleiten. Nach dem Treffen werde ich mich ebenfalls auf Schloss Schwarzheim einfinden. Das wäre alles.«
Mit einem finsteren Blick wandte von Bliecke sich ab, packte sein Waffenarsenal ein, pfiff nach Felson und ging.
Jakes Puls raste, als er von Bliecke den Raum verlassen sah. Nichts hätte er lieber getan, als ihm zu folgen. Schließlich hatte von Bliecke Befehl, »die gefangen genommenen Agenten sofort nach Schloss Schwarzheim zu überstellen«, und hätte ihn somit direkt zu Topaz und den anderen geführt. Aber Jake musste bleiben wo er war und versuchte stattdessen, sich die wichtigen Details der kurzen Unterhaltung einzuprägen: Bassano, Doktor Talisman Kant, Schloss Schwarzheim …, wiederholte er in Gedanken.
Von Bliecke war gerade bei der Tür angelangt, als Mina erneut das Wort an ihn richtete: »Um Euer selbst willen hoffe ich, dass Euch keine weiteren Fehler mehr unterlaufen werden.«
Wie vom Blitz getroffen, hielt von Bliecke inne.
»Vier Jahre minutiöser Vorbereitung liegen hinter uns«, sagte Mina mit leiser, scharfer Stimme. »Es bleiben nur noch vier weitere Tage bis zur Apokalypse. Ein Versagen kommt nicht infrage.«
Von Bliecke nickte steif und trat hinaus.
Jake wurde blass. Von allen unheilverkündenden Andeutungen, die er seit seiner Ankunft in Venedig gehört hatte, war das ganz sicher die beunruhigendste. Noch vier Tage bis zur Apokalypse, hatte sie gesagt. Welche Apokalypse? Was war es, das sie vier Jahre lang minutiös vorbereitet hatten?
»Schließt eure Arbeit ab!«, befahl Mina. Sie schritt die Tischreihen entlang, sammelte die Pläne der Architekten ein und verstaute sie in einer großen Mappe. Dann läutete sie mit einer Glocke, woraufhin zwölf weitere Soldaten in den Raum marschierten.
»Achtung!«, rief sie, und die ganze Gruppe, einschließlich Jake, stellte sich in einer Reihe auf. »Wir nehmen den Veneto-Tunnel. Wartet bei den Kutschen auf mich.«
Die Soldaten wandten sich um und marschierten in einer Reihe zu dem Gewölbe mit dem gigantischen Krater und der Wendeltreppe, die hinunter in die Tiefe führte. Jake reihte sich ein. Mit wehenden Umhängen stiegen sie im trommelnden Gleichschritt hinab in eine unterirdische Welt. Je tiefer sie gelangten, desto dunkler wurde es. Auch die Luft wurde stetig wärmer und das Moos an der Wand des Bohrlochs immer feuchter, und Jake fragte sich, wie viel tiefer sie noch so hinabsteigen würden. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah zu Mina Schlitz, die ihnen folgte.