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Jake gehorchte schließlich und wickelte das Seidentuch fest um den Schnitt in seinem Arm.
»Folge mir«, sagte Topaz und ging auf die Häuser zu. »Du siehst ganz anders aus mit den kurzen Haaren«, meinte sie. »Verwegener.«
»Ich bin so froh, dich am Leben zu sehen«, erwiderte Jake mit pochendem Herzen und hoffte, Topaz würde irgendwie auf seinen Kommentar reagieren, am besten, ihn in die Arme schließen. Sie tat es nicht.
»Was Nathan widerfahren ist, wissen wir nicht«, sagte sie stattdessen und mäanderte zwischen ein paar Heuballen hindurch, bis sie vor einer Scheune standen. Dort angelangt, klopfte Topaz in einer Art Morsecode gegen das Tor.
»Er kam zum Schiff zurück und hat mir das hier gegeben«, sagte Jake und deutete auf seine zerfetzte Kutte und den verbeulten Brustpanzer.
»Wir haben uns schon gefragt, wo du die Sachen herhast.«
Unterdessen ertönte als Antwort eine Abfolge von Klopfzeichen aus dem Schuppen.
»Er war ziemlich übel zugerichtet«, sprach Jake weiter, »und hat sich ihnen schließlich ausgeliefert.«
»Dann haben sie Paolo wahrscheinlich auch gekriegt«, sagte Topaz mit einem Seufzen. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich im Kampf besser gehalten hat als Nathan.« Wieder klopfte sie einen bestimmten Rhythmus an das Scheunentor, wieder kam eine codierte Antwort.
»Jetzt mach schon auf, Charlie!«, knurrte Topaz ungeduldig.
Ein hölzerner Riegel wurde beiseitegeschoben, das Tor schwang auf, und Jake hörte einen schrillen Begrüßungsschrei, mit dem Mr Drake aufgeregt einmal im Kreis durch das Innere des kleinen Heuschobers flog.
»Ich muss zugeben, ganz im Gegensatz zu Topaz hätte ich nicht darauf gewettet, dass du es schaffst«, ließ Charlie ihn wissen und schob seine Brille zurecht.
Mit einem breiten Grinsen drehte Jake sich zu Topaz um, die sich gerade die Maske vom Kopf zog. Sie nahm ihren Umhang ab, und Jake konnte sie in ihrer vollen Pracht bewundern. Nach den zwei Tagen, die er sie nicht gesehen hatte, erschien sie ihm mehr denn je wie eine Göttin. Ihre blauen Augen strahlten noch heller als zuvor, und ihre Wangen leuchteten nur so von den Aufregungen der vergangenen Stunde. Nichts hätte Jake lieber getan, als ihr die Arme um den Hals zu schlingen, aber er entschied sich, seine Wiedersehensfreude lieber an Charlie auszuleben, und schloss ihn in eine kräftige Umarmung.
»Danke, dass ihr mich gerettet habt! Danke euch beiden!«, rief er.
Charlie warf Topaz einen fragenden Blick zu, während Jake ihn beinahe erwürgte.
»Ich habe in der Zwischenzeit einiges herausgefunden«, verkündete Jake und ließ Charlie endlich los. »Ihr werdet beeindruckt sein. Es gibt jede Menge neue Informationen.«
»Sag uns zuerst«, fiel Topaz ihm ins Wort, »ob du Prinz Zeldt gesehen hast. War er in Venedig? Wurde sein Name erwähnt?«
»Nun, gesehen habe ich ihn nicht«, erwiderte Jake, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als sich in Festungen zu schleichen, um dort finstere Feinde auszuspionieren, »aber dieser von Bliecke bringt gerade Nathan und Paolo zu ihm. Er hält sich in einem Schloss namens Schwarzheim auf.«
»Schloss Schwarzheim! Wusste ich’s doch«, meinte Charlie und schlug mit der Faust gegen das Scheunentor. »Hab ich’s nicht gesagt?« Dann wandte er sich an Jake: »Man weiß nie, wo sich der Kerl gerade versteckt hält. In jedem Winkel der Geschichte hat er einen Unterschlupf, und es heißt, Schloss Schwarzheim – den Namen hat natürlich er sich ausgedacht –, sei der schrecklichste von allen.«
»Was hast du sonst noch herausgefunden?«, fragte Topaz mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.
Jake atmete einmal tief durch und blickte den beiden ernst ins Gesicht. »Mina Schlitz sagte, es blieben nur noch ›vier Tage bis zur Apokalypse‹.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Mr Drake kniff die Augen zusammen und blickte zwischen den dreien hin und her.
»Welche Apokalypse?«, hakte Topaz schließlich nach.
Jake zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Und das hat sie gestern gesagt?«, fragte Topaz weiter.
Jake nickte.
»Dann bleiben uns also noch drei Tage …«
Topaz wechselte einen Blick mit Charlie und wandte sich dann wieder an Jake. »Am besten erzählst du uns alles, was du weißt.«
17
DIE DUNKLE DYNASTIE
Jake wiederholte jedes Detail, das sich in den letzten beiden Tagen zugetragen hatte – angefangen von den in Kutten gehüllten Männern, die die Campana gestürmt hatten über die Geheimtür in dem Beichtstuhl im Markusdom bis hin zu den Zeichnungen der Architekten und der Ankunft von Mina Schlitz. Er berichtete von dem Tunnel unter Venedig, der Reise nach Bassano, von dem unheimlichen Talisman Kant und den beiden ominösen Glasbehältern und zeigte ihnen zum Abschluss das Stück Pergament mit der Gästeliste für die Konferenz auf Schloss Schwarzheim, das er aus Minas Pavillon gestohlen hatte.
Charlie und Topaz überlegten eine ganze Weile, bevor sie wieder etwas sagten.
»Diese Zeichnungen von den Gebäuden«, fragte Charlie schließlich, »wie haben die ausgesehen?«
»Gruselig, wie eine mittelalterliche Endzeitvision«, antwortete Jake.
»Die armen Architekten«, meinte Topaz kopfschüttelnd. »Wir werden sie da rausholen müssen.«
»Und über jeder der Zeichnungen stand das Wort Superia?«, fragte Charlie weiter.
Jake nickte.
»War auf irgendeiner davon auch ein Berg abgebildet? Der Gipfel von Superia?«
»Ich habe zumindest keinen gesehen.«
»Und Talisman Kant?«, warf Topaz ein. »Du hast gesagt, Mina hätte ihm für die beiden Glasfläschchen eine ganze Truhe voll Gold gegeben.«
»Für ein paar Gramm Bienenwachs und Talkum«, ergänzte Charlie trocken.
»Ich habe nur gesagt, dass das Zeug so ähnlich aussah«, verteidigte sich Jake.
»Ziemlich teuer für Bienenwachs und Talkum, würde ich meinen«, gab Charlie zu bedenken.
»Und du kennst diesen Kant?«, fragte Jake Topaz.
»Ich habe nie persönlich seine Bekanntschaft gemacht«, erwiderte sie, »aber ihm eilt ein gewisser Ruf voraus. Er ist ein unfassbar grausamer Mensch, verdorben bis ins Mark. Nennt sich Wissenschaftler und führt Experimente an seiner eigenen Familie durch – seinen Sohn hast du ja gesehen. Seiner Frau erging es noch schlimmer; sie hat beide Beine in einem Säurebad verloren.«
»Steht er im Dienst von Prinz Zeldt?«
»Ursprünglich war auch er ein Geschichtshüter«, antwortete Charlie, »aber das ist lange her. Als man herausfand, dass er mit Iwan dem Schrecklichen in Korrespondenz stand und Folterinstrumente für ihn entwickelte, war klar, dass ihm andere Dinge am Herzen liegen als das Wohl der Menschheit, und er wurde sofort ausgeschlossen. Seitdem arbeitet er für jeden, in jedem Zeitalter, vorausgesetzt, der Preis stimmt. Zeig mir noch mal diese Liste.«
Jake reichte ihm das Pergament.