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»Wer sind diese Leute?«, fragte Jake.
»Ich kenne ein paar der Namen. Manche von ihnen gehören zu den reichsten Menschen im sechzehnten Jahrhundert, Kaufleute, Händler, Minenbesitzer … Die Anmerkungen geben Aufschluss darüber, womit sie ihr Geld verdienen. Was zum Teufel hat Zeldt bloß vor? Die Sache scheint mir ungefähr so klar wie ein Nebeltag in London.«
»Warte, lass mich mal einen Blick drauf werfen«, sagte Topaz und nahm die Liste. Ihr war ein Gedanke gekommen. »Mon Dieu!«, rief sie plötzlich. »Wie blind wir waren! Die Antwort ist direkt vor unserer Nase: Findet Gipfel von Superia – Gästeliste der Superia-Konferenz. Bei dem Gipfel handelt es sich nicht um einen Berg, sondern um diese Konferenz!«
Charlie entriss ihr die Liste und ging sie noch einmal durch. »Mademoiselle St. Honoré, ich muss sagen, Ihr habt Euch selbst übertroffen.«
»Jetzt haben wir doppelten Grund, nach Schloss Schwarzheim zu fahren, und das schnell«, sagte Topaz entschlossen und packte eilig ihre Sachen zusammen.
»Wo ist dieses Schloss?«, fragte Jake.
»En Allemagne, in Deutschland. Eine Zweitagesreise von hier entfernt, jenseits der Alpen. Wir dürfen keine Sekunde mehr verlieren. Charlie, hast du die Achse schon repariert?«
»Du hast zwar das Superia-Rätsel gelöst«, erwiderte Charlie achselzuckend, »aber was technische Dinge angeht, bin ich immer noch der unangefochtene Meister.«
»Das müsstest du gar nicht sein, wenn du dich nicht von diesem Händler in Padua hättest übers Ohr hauen lassen.« Topaz wandte sich an Jake. »Er hat unser ganzes Geld für einen Haufen Holzschrott ausgegeben.«
»Und für zwei der besten Pferde, die ich je zu Gesicht bekommen habe«, verteidigte sich Charlie.
»Ich habe genug Geld«, warf Jake ein und zeigte ihnen den Lederbeutel, den Nathan ihm gegeben hatte.
Topaz spähte durch ein Astloch nach draußen, um zu überprüfen, ob die Luft rein war, dann gingen sie zu dem reparierten Pritschenwagen. Jake fand, dass er eigentlich recht ordentlich aussah. Daneben standen Topaz’ Stute und zwei wunderschöne kastanienbraune Pferde und tranken Wasser aus einem Trog.
Topaz streichelte zärtlich die Mähne ihrer Stute, dann führte sie sie ein paar Schritte weg und gab ihr einen Klaps auf die Flanke. »Ab mit dir! Nach Hause«, befahl sie und deutete auf ein Haus auf einem Hügel am Horizont. »Hab sie mir von einem schläfrigen Stallburschen ›geliehen‹«, erklärte sie Jake. »Für deine Rettung brauchte ich ein etwas schnelleres Pferd als die beiden braunen.«
Die Stute rührte sich nicht vom Fleck und blinzelte Topaz nur mit großen Augen an.
»Los jetzt!«, rief sie noch einmal. Endlich gehorchte die Stute und galoppierte über ein Feld davon.
Topaz und Charlie spannten die beiden Braunen vor die Kutsche.
Ein endloser Strom von Gedanken und Fragen wirbelte durch Jakes Kopf, allen voran die über das Schicksal seines Bruders Philip.
»Ständig wird von diesem Prinz Zeldt gesprochen«, sagte Jake, »und ich habe immer noch keine Ahnung, wer er ist. Was genau hat er getan?«
Topaz befestigte die Leinen am Zaumzeug, als hätte sie nichts gehört, und es dauerte beinahe eine ganze Minute, bis Charlie schließlich antwortete: »Diese Frage sollten wir besser nicht mit leerem Magen erörtern.«
Sie stiegen auf den Pritschenwagen, Topaz nahm die Zügel. Dann fuhren sie los, den Bergen am Horizont entgegen.
Die Räder des Wagens mahlten laut über die steinige Straße, und sie wurden ordentlich durchgeschüttelt. Dennoch war Jake überrascht, wie schnell sie vorankamen. Schon nach einer halben Stunde hatten sie eine alte Römerstraße erreicht, deren Pflaster durch jahrhundertelange Benutzung beinahe komplett glatt geschliffen war, und sie legten noch etwas an Geschwindigkeit zu. Topaz’ goldene Locken flatterten in der Brise, und Mr Drakes buntes Gefieder kräuselte sich, während er mit dunklen Augen von Charlies Schulter aus die vorbeiziehende Landschaft beobachtete.
»Wie seid ihr in Venedig entwischt?«, schrie Jake gegen den Wind, das Knirschen der Wagenräder und das Klappern der Hufe an.
»Mr Drake hat uns gerettet«, antwortete Charlie stolz und gab dem Papagei eine Erdnuss. »Sie führten uns gerade ab, da hat mein bunter Freund hier ein geniales Ablenkungsmanöver inszeniert. Auf einem der Häuserdächer über uns hielt ein großer Taubenschwarm gerade ein Schläfchen – die Tauben von Venedig sind berühmt für ihre Fettleibigkeit und ihr reizbares Gemüt – und Mr Drake hat sie kreischend aufgescheucht. Ein so lautes Durcheinander von Flügeln und Federn hat die Welt noch nicht gesehen! Wir haben die kurze Verwirrung genutzt und sind in den nächsten Kanal gesprungen, und nach einer äußerst unangenehmen Tauchtour sind wir schließlich im Hafen an Bord eines chinesischen Schiffs geklettert.«
»Daher die Raketen«, rief Topaz von vorn und ließ die Zügel schnalzen.
Jake betrachtete die in morgendliches Sonnenlicht getauchte Hügellandschaft. Er fragte sich, was sie hinter dem Horizont erwartete, welche Gefahren auf sie lauern mochten, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Charlie hatte Schloss Schwarzheim als den schlimmsten von Prinz Zeldts Unterschlupfen bezeichnet. Was genau er wohl damit gemeint hatte? Und wer war dieser Prinz Zeldt, der angeblich tausendmal schlimmer war als alle Schreckensgestalten der Geschichte, von denen Jake je gehört oder gelesen hatte? Am meisten jedoch beschäftigte ihn die Frage, ob sie auf Schloss Schwarzheim erfahren würden, wo seine Eltern waren.
Den ganzen Tag fuhren sie weiter über alte Römerstraßen und hielten unterwegs nur kurz an Raststätten an, um die Pferde zu wechseln. Die Sonne beschrieb ihre Bahn übers Firmament, die beiden, die gerade auf der Rückbank saßen, spielten Karten oder unterhielten sich, und Charlie sang – sehr zur Beschämung von Mr Drake – sogar ein paar Lieder. Am späten Nachmittag wurde Jake schließlich mit den Zügeln betraut. Anfangs hatte er noch Probleme, die Pferde richtig zu lenken, und Topaz und Charlie mussten ihm eine Fahrstunde geben, doch schon nach kurzer Zeit hatte er den Bogen raus.
Als der Abend allmählich heraufdämmerte, erklommen sie die ersten Serpentinen des Brennerpasses. Die Pferde keuchten vor Anstrengung. Dann wurde die Straße wieder flacher, und sie machten eine längere Pause in der Dorftaverne, wechselten noch einmal die Pferde und aßen köstliches Sauerkraut mit Würsten.
Als sie weiterfuhren, war Charlie an der Reihe, den Kutscher zu spielen. »Setz dich doch zu mir auf den Kutschbock«, sagte er zu Jake und zündete die Laternen an. Jake nahm die Einladung gern an; Topaz machte es sich unterdessen hinten bequem. Dann ließ Charlie die Leinen schnalzen, und sie trotteten davon in die Dunkelheit.
Im spärlichen Licht der Laternen ging Topaz noch einmal die Gästeliste der Superia-Konferenz durch, den Mund ständig halb geöffnet, so sehr musste sie gähnen.
»Ich weiß, dass du offiziell die Leiterin dieser Mission bist«, sagte Charlie über die Schulter, »aber ich muss jetzt wirklich darauf bestehen, dass du dich endlich einmal ausruhst. Du hast seit zwei Tagen nicht eine Minute geschlafen.«
»Ich will jetzt nicht schlafen. Ich bin hellwach«, widersprach Topaz, auch wenn ihre schweren Augenlider etwas ganz anderes sagten. »D’accord – zehn Minuten«, stimmte sie schließlich zu. Sie legte die Liste beiseite und häufte etwas Stroh als Kopfkissen auf. »Nur ein kleines Nickerchen.« Mit diesen Worten streckte sie sich aus und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Mr Drake, der ebenfalls sehr erschöpft zu sein schien, erhob sich von Charlies Schulter in die Luft, landete neben Topaz im Stroh, plusterte sein Gefieder auf, steckte den Schnabel unter den Flügel und schloss die Augen.
Die Nacht war mild. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinandergesessen hatten, räusperte sich Charlie und flüsterte: »Wenn Topaz dabei ist, sprechen wir normalerweise nicht über Zeldt und seine Familie. Wir alle haben genug Grund, sie zu hassen, aber Topaz noch viel mehr. Wegen ihrer Eltern.«
»Haben sie ihre Familie umgebracht?«, fragte Jake gerade heraus.
»Schhhh …«, machte Charlie und warf einen kurzen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Topaz immer noch schlief.
»Entschuldigung«, erwiderte Jake flüsternd.
Charlie überlegte, wie er die Frage am besten beantworten sollte. »Sie haben sie nicht direkt umgebracht, aber so etwas Ähnliches«, sagte er schließlich.
Jake nickte ernst.
»Die Zeldt-Dynastie reicht zurück bis zu den Anfängen der Geschichtshüter«, sprach Charlie weiter, »noch bevor sie sich überhaupt Hüter nannten. Rasmus Ambrosius Zeldt wurde in der nördlichen Eiswildnis Schwedens geboren; er war ein Zeitgenosse von Sejanus Poppoloe, der das Atomium entdeckt und die ersten Horizontpunkte kartografiert hat. Eine tiefe Freundschaft verband die beiden, sie waren die Visionäre der damaligen Wissenschaft und mutige Entdecker. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte zu erforschen, sie zu verstehen und auf keinen Fall zu verändern. Rasmus jedoch wurde immer labiler.«
»Labil?«
»Geistig labil«, erklärte Charlie düster. »Etwa zu dieser Zeit – während einer Englandreise ins siebzehnte Jahrhundert, als dort gerade der Bürgerkrieg tobte – lernte er seine Frau Matilda kennen. Sie ist übrigens auch der Grund, warum die Zeldts immer noch Englisch sprechen. Machttrunken von seiner Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, verfiel Rasmus dem Wahnsinn und trennte sich von Sejanus und den anderen Beobachtern, die sich der Gesellschaft angeschlossen hatten, und nannte sich fortan König. Nicht König von Schweden oder Europa oder der ganzen Welt, nein, König der Zeit. Damals war das noch eher Geschwätz und Angeberei. Fünf Generationen vergingen, und die selbst ernannte ›Herrscherfamilie‹ geisterte durch die Zeit wie ein drohender Schatten, dann erblickte König Sigvard das Licht der Welt, und seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war.«
»Sigvard?«
»Der Vater all unserer Sorgen«, erwiderte Charlie geheimnisvoll.
»Was hat er angestellt?«, fragte Jake.
Charlie zögerte einen Moment, bevor er weitersprach: »Er hat der Geschichte den Krieg erklärt.«
Bei diesen Worten lief Jake ein kalter Schauer über den Rücken.
»Er schwor sich, die Welt zu verändern, sie in den Abgrund zu stürzen, im Dunkel zu versenken. Um das Handwerkszeug für sein teuflisches Vorhaben zu erlernen, reiste er quer durch die Menschheitsgeschichte, zu allen großen Verbrechen, die je begangen wurden. Er hat alles aus erster Reihe mitverfolgt: die spanische Inquisition, die Hexenprozesse von Salem, die Verfolgung von Juden und Christen, die Hugenottenkriege, die mörderischen Umtriebe der Phansigars im vorkolonialen Indien, die Eroberungskriege der Araber, die Kreuzzüge … König Sigvard hat alles aus nächster Nähe beobachtet, Einfluss genommen, wo er konnte, gelernt, was zu lernen war, seine Machtübernahme vorbereitet und einen erbarmungslosen Krieg angefangen. Seit dieser Zeit bekämpft der Geheimdienst der Geschichtshüter die Zeldt-Dynastie.«
»Ist er noch am Leben?«
»Er starb vor ein paar Jahrzehnten, im alten Mesopotamien. Und weißt du, wie? Ein Dachziegel ist ihm auf den Kopf gefallen! Bekam eine Hirnblutung, der er wenig später erlegen ist. Nach all den Jahren seiner Schreckensherrschaft, nach allem, was er verbrochen hatte, starb er bei einem lächerlichen Unfall, bei dem ihm ein harmloser Stein auf den Kopf fiel!«