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»Ein Ende? Ganz und gar nicht«, erwiderte Charlie. »Er hinterließ drei Kinder. Xander war das älteste, der Fürst der Finsternis, wie er genannt wird, derjenige, zu dem wir gerade auf dem Weg sind. Der zweite Sohn, Alric, verschwand, als er vierzehn war, und wurde seither nicht mehr gesehen. Das dritte Kind war seine Tochter Agata, die Schlimmste von allen.«
»Schlimmer als ihr Vater?«
»Nur damit du eine ungefähre Vorstellung hast: Als Fünfjährige hat sie versucht, Xander in einem zugefrorenen See zu ertränken. Das ist auch der Grund, weshalb er bis zum heutigen Tag keine Wärme spüren kann – oder sonst irgendetwas. Ein anderes Mal erwischte Agata ihre Kammerzofe dabei, wie sie eins von ihren Gewändern anprobierte. Danach zwang sie sie, sich auf einen rotglühenden Eisenthron zu setzen, mit einer rotglühenden Krone auf dem Kopf und einem rotglühenden Zepter in der Hand, was sie natürlich nicht überlebt hat. Nein, Agata Zeldt ist ohne Zweifel die grausamste Frau, die je auf Erden gewandelt ist.«
»Worüber unterhaltet ihr euch?«, kam eine leise Stimme von hinten.
Jake drehte sich um und sah Topaz mit glasigen Augen von ihrem Strohlager aufblicken.
»Über gar nichts«, sagte Charlie eilig. »Wie das Wetter morgen wohl werden wird.«
Topaz schenkte Jake ein warmes Lächeln, ließ den Kopf sinken und schlief sofort wieder ein.
Jake betrachtete die mondbeschienene Landschaft und die schneebedeckten Berge um sie herum. Mit einem Mal beschlich ihn große Angst vor dem, was sie auf Schloss Schwarzheim vorfinden würden.
18
DIE GEFLECKTE ROSE
Océane Noire stand am Eingang des Prunksaals, begrüßte die Partygäste und verlor nur ein einziges Mal die Fassung. »Mon Dieu!«, rief sie beim Anblick einer bestimmten Person. »Sie hat doch tatsächlich diese grässliche Tasche dabei.« Damit war Rose Djones gemeint, die in dem Kleid, das Olympe de Gouges ihr gegeben hatte, eigentlich ganz bezaubernd aussah – bis auf die Reisetasche, die immer und überall über ihre Schulter hing. Und die Tatsache vielleicht, dass das Kleid so eng war, dass sie sich darin kaum bewegen konnte.
Um genau sieben Uhr fünfundvierzig ertönte ein Gong, und die Gäste nahmen ihre Dinnerplätze ein. Überall standen Schildchen mit Namen darauf, denn Océane wollte unbedingt bestimmen, wer neben wem saß. So hatte sich die Gastgeberin neben Jupitus Cole platziert und Rose in das ungemütlichste Eck gleich neben dem Kücheneingang verbannt. Sie hatte natürlich keine Ahnung, dass dies Rose nur entgegenkam, da sie ohnehin vorhatte, sich nach einer gewissen Zeit davonzustehlen, um ihren Geheimauftrag zu erfüllen.
Während des Desserts bot sich dann die Gelegenheit: Es wurde ein Mandarinen-Feigen-Gelee serviert, das zu einem Porträt der Jubilarin geformt war, und Roses Tischgenossen, die alle ziemlich weit unten in Océanes Gunst rangierten, vergnügten sich damit, ihre Miniatur-Océanes zu einem wenig schmeichelhaften Brei zu verrühren, bevor sie das Dessert verspeisten. Galliana nutzte die entstandene Ablenkung und nickte ihrer Verbündeten kurz zu, woraufhin Rose sich unbemerkt davonschlich.
So schnell das Kleid es zuließ, eilte sie die Treppen hinauf und über die verlassenen Korridore zu Mr Coles Suite. Dort zog sie ihre Handschuhe an, kramte den Schlüssel hervor, den Galliana ihr gegeben hatte, und schlüpfte durch die Tür.
Jupitus’ Räumlichkeiten waren genauso nüchtern und streng gehalten, wie sie es erwartet hatte: dunkle Möbel und ebenso dunkle Porträts, die von den Wänden starrten, und über allem hing der abgestandene Geruch von längst verstaubten Duftschalen.
»Ach, du meine Güte«, murmelte sie und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Das ist ja die reinste Gruft.«
Rose ging hinüber zum Schreibtisch und durchsuchte vorsichtig einen Stapel perfekt Kante auf Kante ausgerichteter Papiere. Die untersten beiden zog sie heraus, damit Galliana sie auf Fingerabdrücke überprüfen konnte. Sie steckte die zwei Dokumente gerade in ihre Tasche, da entdeckte sie etwas, bei dessen Anblick ihr Herz einen Schlag lang aussetzte: Auf dem Schreibtisch stand eine kleine gläserne Dose mit goldenen Scharnieren und einem wunderschön verzierten Deckel; aber es war nicht die Dose, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, sondern deren Inhalt – eine getrocknete Rosenblüte, unverkennbar mit ihren weißen und roten Tupfen. Unten an der Dose befand sich eine winzige Schublade. Rose öffnete sie und zog ein paar handgeschriebene Notizzettel daraus hervor. Keuchend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.
Im Prunksaal war das Fest in vollem Gang. Nach dem Dinner waren alle Tische zur Seite geschoben worden, um Platz zum Tanzen zu schaffen, und das Orchester legte los. Es spielte die beliebtesten Tanzmelodien der 1820er-Jahre, von der Regency-Quadrille über den ausgelassenen Danse Espagnole bis hin zum für die damalige Zeit geradezu rasend schnellen Walzer, und dementsprechend ausgelassen war die Stimmung.
Mitten hinein in dieses fröhliche Tohuwabohu stolperte Rose Djones mit aschfahlem Gesicht. Sie umrundete die Tanzfläche, wich Norland aus, der so exaltiert mit der Bibliothekarin Lydia Wunderbar tanzte, dass man befürchten musste, die beiden könnten sich verletzen, und ging direkt auf Galliana zu.
»Hier. Das ist für die Fingerabdrücke«, sagte sie und reichte ihr die beiden Dokumente, die sie aus Jupitus’ Büro entwendet hatte.
»Hast du sonst noch was gefunden?«, fragte Galliana, ohne ihre Komplizin anzusehen.
»Ich habe jede einzelne Schublade durchsucht: nichts.«
»Rose? Geht’s dir auch gut? Du siehst blass aus.«
»Nein, mir geht’s ganz und gar nicht gut«, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. »Ich habe etwas anderes gefunden, das mich ziemlich beunruhigt. Weißt du noch, wie ich vor Jahren, als ich noch auf Mont Saint-Michel lebte, eine Weile lang versucht habe, eine neue Rosenart zu züchten? Ist nur ein einziges kümmerliches Pflänzchen dabei rausgekommen, das ganze drei Wochen durchgehalten und danach nie wieder geblüht hat. Die Blüten waren rot und weiß getupft«, erklärte sie wie in Trance. »Eine davon habe ich in Jupitus’ Suite gefunden, getrocknet und aufbewahrt in einer Glasdose.«
Galliana warf Rose einen fragenden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Tanzenden.
»Und nicht nur das«, sprach Rose weiter. »In der Dose waren auch alte Notizzettel von mir: Einkaufslisten, Memos, belanglose Kritzeleien, die er nur aus meinem Mülleimer gestohlen haben kann.« Ihre Stimme hatte sich mittlerweile zu einem nervösen Tremolo aufgeschwungen.
»Meine gute Rose, unser Mister Cole ist eindeutig verliebt in dich.«
»Red keinen Quatsch«, gab Rose barsch zurück. »Wir hassen uns.«
Eine halbe Stunde später ereilte sie der zweite Schock des Abends. Rose war gerade auf dem Weg zur Bar, um ihre überstrapazierten Nerven mit einem Glas Rumpunsch zu beruhigen, als sie eine leise Stimme hinter sich hörte:
»Der Spion. Ich bin es nicht.«
Rose drehte sich um und schaute einem äußerst ernst dreinblickenden Jupitus Cole ins Gesicht. »Verzeihung?«, erwiderte sie unschuldig.
»Ich weiß, dass Sie in meiner Suite waren. Ich war selbst soeben dort und habe Ihr Parfüm gerochen. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht – es ist ganz gleich –, aber wenn Sie versuchen, den Doppelagenten in unseren Reihen aufzuspüren, sollten Sie Ihre Zeit besser auf jemand anderen verwenden.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«, stammelte Rose.
»Tun Sie nicht so«, erwiderte Jupitus und fixierte sie mit kaltem Blick. »Wenn Sie wirklich etwas über diese Angelegenheit in Erfahrung bringen wollen, folgen Sie mir.« Mit diesen Worten drehte er sich um und marschierte schnurstracks aus dem Saal hinaus.
Einen Moment lang stand Rose nur verdattert da. Ihr Blick schoss verstohlen von rechts nach links, dann wusste sie, was zu tun war – sie leerte ihr Glas in einem Zug und folgte ihm.
Mister Cole wartete am Fuß der großen Treppe, einen Kerzenleuchter in der Hand. »Hier entlang«, sagte er mit kühler Stimme und ging die Stufen hinauf. Schweigend führte er Rose zwei Stockwerke nach oben und dann über einen Flur zum Eingang der Bibliothek der Gesichter. Der Lärm des rauschenden Festes war immer noch dumpf in der Ferne zu hören.
»Ich konnte letzte Nacht nicht einschlafen«, erklärte Jupitus, »und kam auf dem Weg zur Küche hier entlang. Im Lauf der Jahre hat sich eine Tasse heißer Schokolade als gutes Heilmittel für mein sensibles Nervenkostüm erwiesen. Doch als ich gerade um jene Ecke kam, sah ich eine Gestalt in einem blauen Umhang aus der Bibliothek huschen. Sein Gesicht konnte ich leider nicht erkennen.«
»Sein Gesicht? Es war definitiv ein Mann?«
»Sein Gebaren ließ keinen anderen Schluss in Betracht kommen«, antwortete Jupitus knapp. »Er schloss gerade die Tür hinter sich und eilte in einer Weise über den Flur, die mir sofort verdächtig erschien.«
»Sind Sie ihm gefolgt?«
»Ich entschied mich, stattdessen in der Bibliothek nach dem Rechten zu sehen.« Cole öffnete die Tür und bedeutete Rose, ihm zu folgen.
Der riesige Raum war nur schwach von Kerzenlicht erhellt. Das letzte Mal, dass Rose die Bibliothek betreten hatte, lag fünfzehn Jahre zurück, und sie hatte vollkommen vergessen, wie unheimlich es hier drinnen war mit den hohen Wänden voller Gesichter. Hunderte Antlitze von Freunden und Feinden der Geschichtshüter blickten finster auf sie hinab. Eine Glocke erklang, Hebel und Getriebe setzten sich in Bewegung, und die gestrengen Gesichter wurden durch neue, nicht weniger strenge ersetzt.
»Diese Tür hier stand nur einen hauchdünnen Spalt weit offen«, fuhr Jupitus im Flüsterton fort und deutete auf einen verborgenen Eingang in einer dunklen Ecke. Er drückte die Geheimtür auf und schob Rose hindurch, hinein in die dahinterliegende pechschwarze Dunkelheit.
»Nehmen Sie meine Hand«, wisperte er. »Man stolpert nur allzu leicht über all die Gestänge und Hebel hier.«
Rose rührte sich nicht von der Stelle. Sie überlegte kurz, dann streckte sie zögernd eine Hand aus, die Jupitus umgehend ergriff. Rose war überrascht, wie warm seine Finger waren – sie hatte erwartet, Jupitus würde sich kalt wie ein Fisch anfühlen.
Unter den wachsamen Augen der Porträts führte er sie tiefer hinein in die Dunkelheit. Ein flackernder Schimmer von Jupitus’ Kerze beleuchtete das normalerweise unsichtbare Räder-und Gangwerk, das die Bilder der Bibliothek unermüdlich drehte.
In der dunkelsten Ecke blieb Jupitus schließlich vor einer Röhre stehen, die von oben aus der Decke kam und senkrecht an der Wand entlang ins darunterliegende Stockwerk führte.
»Dieses Rohr«, erklärte er, »führt vom Kommunikationsraum im Stockwerk über uns hinunter in die Privaträume der Kommandantin.«