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»Welche Erinnerung …?«, fragte Jake.
»Sehen wir uns doch einmal die Suite an«, erwiderte Topaz und ignorierte die Frage. Sie verschwand in den nächsten Raum, und Jake folgte stumm. Er hatte begriffen, dass die Unterhaltung fürs Erste beendet war.
Das Schlafzimmer war beinahe noch größer als der Wohnraum. Das riesige Himmelbett war mit extravaganten Samtvorhängen verziert, und das nur unwesentlich kleinere Badezimmer, in dem eine große, dampfende Badewanne magische Düfte nach Rose und Bergamotte verbreitete, war mit terrakottafarbenem Marmor gefliest.
Der atemberaubendste Anblick jedoch bot sich ihnen von der Terrasse aus. Draußen war es eisig kalt, und der Wind pfiff ihnen um die Ohren, doch sie bemerkten es kaum.
»Das nenne ich ein Panorama«, sagte Jake ehrfürchtig. Ihm war, als schaue er in die Unendlichkeit: Der Rhein wand sich bis zum Horizont, wo er zwischen den bewaldeten Hügeln verschwand, dazwischen lagen romantische Dörfer und Städtchen, weitere Schlösser thronten auf Bergkuppen nah und fern. Der Ausblick wäre zu jedem Zeitpunkt der Geschichte atemberaubend gewesen, doch so schön wie jetzt, im Jahr 1506 – lange vor allen »Segnungen« der Moderne wie Autos, Flugzeugen und Retortenstädten –, dachte Jake, würde er nie wieder sein. Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu Topaz um, die genauso staunte wie er.
»C’est incroyable, non? Zeitreisen sind etwas Wunderbares«, sagte sie, als hätte sie Jakes Gedanken gelesen. »Es ist, wie wenn man den Sternenhimmel betrachtet: Je genauer man hinschaut, desto mehr sieht man.«
Nachdem sie alle ein ausgiebiges Bad genossen hatten (in einer Wanne mit fließend warmem Wasser aus goldenen Hähnen in der Form von Delfinen), wählten sie die geeignete Garderobe für den Abend aus. Ohne Nathans Expertenrat fiel ihnen die Aufgabe nicht leicht, doch schließlich entschied sich Jake für ein elegantes spanisches Wams aus leuchtend blauem Samt und dazu als Accessoire eine schwere goldene Halskette. Topaz wiederum wählte ein cremefarbenes Gewand aus schimmerndem Brokat. Nur Charlie blieb bei seinem einfachen Dienerkittel und den Kniehosen.
Um Punkt sieben kam ein Diener, um sie abzuholen. Schweigend führte er sie durch ein Labyrinth aus Treppen und Fluren zu einer prunkvollen Doppeltür.
»Du musst draußen bleiben«, teilte der Diener Charlie in barschem Tonfall mit. »Warte drüben bei den anderen Bediensteten.« Er deutete auf eine schmale Treppe, die zu einem Aufenthaltsraum für Personal führte, wo bereits eine Handvoll düster dreinblickender Leibdiener auf den Ruf ihrer Herrn wartete.
»Aber … gewöhnlich begleite ich Herrn und Frau Volsky überallhin«, stammelte Charlie und hätte dabei beinahe den russischen Akzent vergessen.
»Nur die geladenen Gäste dürfen diesen Saal betreten«, gab der Diener ungerührt zurück und hob eine Hand, um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen.
Charlie blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. »Ich will einen genauen Bericht von dem Bankett – alles, was im Laufe des Abends serviert wird, jedes einzelne Gericht, verstanden?«, flüsterte er Jake ins Ohr.
Jake nickte, und Charlie begab sich widerstrebend in den Aufenthaltsraum, in dem ihn vierzig Diener griesgrämig anstarrten, woran auch ein warmes Lächeln und ein freundliches Zwinkern seinerseits nichts änderten.
Jake und Topaz, die Volskys von Odessa, ließen sich unterdessen durch die Doppeltür geleiten, die sich wie durch Zauberhand von selbst öffnete. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ den beiden das Blut in den Adern gefrieren, und einen Moment lang konnten sie kaum atmen, doch irgendwie schafften sie es, sich nichts anmerken zu lassen, und traten ein.
22
DAS KOMMENDE IMPERIUM
Genauso wie Charlie, der soeben den unfreundlichen Blicken der anderen Diener begegnet war, erging es nun auch Jake und Topaz. Doch was sie in den Augen der Gäste erblickten, war noch weitaus beunruhigender.
Der Bankettsaal von Schloss Schwarzheim war ein großer, spärlich beleuchteter, kreisrunder Raum, in dem etwa ein Dutzend Kaminfeuer eine glühende Hitze verbreiteten. In der Mitte befand sich eine runde Tafel aus beinahe durchsichtigem Marmor. Wie ein Gespenst schien sie über dem steinernen Boden zu schweben. Die Menschen, die sich um diese Tafel versammelt hatten, waren beeindruckend – und sehr beängstigend.
Prinz Zeldts Gäste waren das spätmittelalterliche Äquivalent einer Millionärsversammlung. Wie die Agenten der Gästeliste entnommen hatten, handelte es sich bei ihnen nicht um berühmte Persönlichkeiten oder Aristokraten, sondern um Männer und Frauen, deren selbst erwirtschafteter, immenser Reichtum ihnen große Macht verlieh. Unter ihnen befanden sich Getreide-und Viehhändler aus Osteuropa, Kohlebarone aus dem Baltikum, Holz-und Wachshändler aus Skandinavien, ein Salzhändler aus Kleinasien, ein Silberbaron aus Bayern und ein Elfenbeinhändler aus Afrika; des Weiteren mehrere Bankiers aus deutschen und italienischen Städten sowie Makler aus Amsterdam und Kopenhagen.
Jake und Topaz wurden zwei leere Stühle auf der linken Seite zugewiesen. Sie setzten sich und versuchten, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen und das Auftreten der anderen Gäste zu imitieren.
Jake ließ den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen. Manche davon waren alt, andere erstaunlich jung und wieder andere mittleren Alters. Ein wenig fühlte er sich, als wäre er wieder in der Bibliothek der Gesichter. Einige der Gäste sahen beinahe aus, als wären sie achtbare Bürger, andere hatten finstere, vernarbte Gesichter und verschossen heimtückische Blicke. Es waren mehr Männer als Frauen im Saal, wobei Letztere zumeist wesentlich imposantere Erscheinungen waren als ihre männlichen Begleiter; so hatte Jake eine gebieterisch dreinblickende Dame mit afrikanischem Kopfschmuck gesehen, die gut und gern zwei Meter groß gewesen sein musste. Und alle strahlten sie dieselbe arrogante Machtbesessenheit aus, trugen Kleidung aus allerfeinstem Tuch, die teuersten Juwelen und die ausgesuchtesten Parfüms. Bestimmt wohnten sie allesamt in prächtigen Villen, ausgestattet mit den erlesensten Möbeln und emsigen Bediensteten.
Noch nie im Leben hatte Jake sich so eingeschüchtert gefühlt. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen saß er an einer Tafel, an der sich eine außergewöhnliche Gruppe von Menschen zusammengefunden hatte. Das erste Mal war im Prunksaal von Mont Saint-Michel gewesen, die Gesellschaft dort absolut faszinierend, der Saal erfüllt von Leichtigkeit und angeregter Unterhaltung. Dies hier war das genaue Gegenteil: Der runde Bankettsaal glich einer dunklen Kammer, über die sich eine bösartige Stille gesenkt hatte.
Jake erhaschte einen Seitenblick auf seinen Sitznachbarn. Er hatte einen kleinen Kopf und eine spitze Nase; die aufgedunsenen Hände auf dem Tisch verschränkt, starrte er stur ins Leere. Ein teures, lilafarbenes Wams schmiegte sich eng an seine schmalen Schultern.
Dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um seine Umgebung genauer zu inspizieren. Einer der vier noch leeren Stühle war etwas größer als die anderen, reicher verziert, und es war der einzige mit Armlehnen. Sie hatten die Form von Schlangen.
In der Mitte der Tafel hielt eine kristallene Hand eine saphirblaue Kugel, die ein sanftes Licht verströmte und offensichtlich die Erde darstellen sollte. Vor jedem der Gäste stand ein Kristallkelch mit einer transparenten Flüssigkeit darin, daneben ein Kästchen aus Schildpatt. Keine Spur von einem bevorstehenden Abendessen.
Die Doppeltür schwang auf, und zwei weitere Gäste traten ein: ein ältlicher Mann und seine junge, vornehme Frau. Ihre Gesichter waren rot und von Zornesfalten durchzogen, als hätten sie gerade gestritten. Mit schnellen Schritten, wobei der Mann leicht hinkte, durchquerten sie den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Als Nächstes öffnete sich genau am anderen Ende eine kleine, unscheinbare Tür. Im Vergleich zu dem prunkvollen Haupteingang wirkte sie irgendwie fehl am Platz, wie eine Geheimtür für die Dienerschaft. Als Jake Mina Schlitz heraustreten sah, durchzuckte ihn ein kleiner Schauer.
Mina ging einmal im Kreis um die Tafel und musterte die Gäste, die halb den Kopf drehten, während sie hinter ihnen vorüberschritt. Endlich setzte sie sich auf den freien Stuhl neben dem großen mit den Armlehnen, zog ihre rote Schlange hervor und streichelte sie.
Eine weitere Gestalt erschien in der kleinen Tür. Aus der Entfernung wirkte sie eher unscheinbar, aber der Ausdruck auf Topaz’ Gesicht ließ etwas anderes erahnen, denn ihre Augen wurden plötzlich hart, und Jake fiel auf, wie sie die Kiefermuskeln anspannte.
»Ist er das?«, fragte Jake flüsternd. »Prinz Zeldt?«
Topaz nickte, und Jake sah, wie sie zu zittern begann. Die Finger fest verschränkt, presste sie die Hände in den Schoß und schob ihren Stuhl ein Stück zurück, um sich hinter Jake vor Zeldts Blicken zu verstecken.
»Schon gut, es wird nichts passieren«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Willkommen«, sagte der Prinz mit dünner, kaum hörbarer Stimme und nahm Platz. Einige Gäste hatten ganz offensichtlich Schwierigkeiten, Zeldt zu verstehen, behielten es aus Furcht aber lieber für sich.
»Willkommen bei der Superia-Konferenz. Für viele der Anwesenden ist dies das erste Treffen«, flüsterte er. »Für andere wiederum wird es das letzte sein, doch das Band zwischen uns wird nie zerreißen.«
Es folgte gemurmelte Zustimmung, und alle Augen richteten sich auf Prinz Zeldt, während er weitersprach: »Im Frühling des Jahres 1492 begab es sich, dass ein gewisser Marsilio Ficino, ein wohlfeiler, blutleerer Gelehrter, Folgendes niederschrieb.« Zeldt veränderte seine Stimmlage ins leicht Nasale. »Ich zitiere: ›Wenn es je ein Zeitalter gab, das mit Fug und Recht als das goldene zu bezeichnen wäre, dann gewiss das unsere. Dieses Jahrhundert hat die schönen Künste, dem Tode nahe, wieder zum Leben erweckt: Wissenschaft, Rhetorik, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik …‹« Zeldt ließ den Blick über die ihn wie gebannt anstarrenden Gesichter seiner Zuhörer schweifen. »›Vorbei das Dasein als Gottes Spielzeuge, rückte sich der Mensch selbst ins Zentrum des Geschehens. Er beginnt, das Universum zu begreifen und sein Schicksal selbst zu gestalten …‹« Er legte eine dramatische Pause ein und spuckte den nächsten Satz so angewidert aus, dass jedem der Zuhörer ein kalter Schauer über den Rücken lief. »›Es ist das Zeitalter der Geburt des freien Menschen‹«.
Plötzlich sprang Zeldt auf und funkelte seine Gäste an, als wäre niemand anderer als sie für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich.
»Die Geburt des freien Menschen?«, wiederholte er schnaubend. Wieder legte Zeldt eine dramatische Pause ein, und ein verächtliches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Wohl kaum.«
Gemurmelte Zustimmung erhob sich im Saal, dann verhaltener Applaus.
»Ich bin ein Mann der Tat, nicht des Wortes«, sprach der Prinz weiter, »also werde ich direkt zur Sache kommen. Ich bin sicher, Ihr alle könnt es kaum mehr erwarten zu erfahren, wie unsere neue Welt aussehen wird.«
Jake blickte Topaz an – er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Unsere neue Welt …?«, fragte er, doch Topaz zuckte nur die Achseln.
Der Prinz nickte Mina zu, die ihre Schlange zurück in den Käfig steckte und einen neben ihrem Stuhl aus dem Boden ragenden Hebel umlegte.
Verborgene Zahnräder und Getriebe setzten sich ratternd in Bewegung, und ein dünner Spalt öffnete sich im Boden des Bankettsaals.
Jake reckte den Hals, um etwas erkennen zu können, und sah, wie durch den Spalt dünner Rauch aufstieg.
Mina stand auf und ging zur rückwärtigen Wand, wo sie an einer Art Regler drehte, woraufhin ein heller Lichtstrahl auf den zarten Rauchschleier fiel. Ein schemenhaftes Bild begann darauf Gestalt anzunehmen: die wohlbekannte Schlange mit dem Schild, und darunter in Fraktur das Wort …
SUPERIA
Normalerweise waren die anwesenden Kaufleute, Händler und Bankiers ganz sicher nicht leicht zu beeindrucken, und wenn es einmal doch geschah, ließen sie es sich bestimmt nicht anmerken. Nicht so an diesem Abend: Der Anblick von Zeldts Camera obscura ließ sie bewundernd aufkeuchen.
Da veränderte sich das Bild, und es erschien eine düstere Stadt von kolossaler Größe, mit Wolkenkratzern und einer hohen, unüberwindlichen Mauer darum herum.
»Dies ist ein Entwurf unserer ersten sicheren Stadt«, sagte Zeldt mit leuchtenden Augen.
»So sahen die Zeichnungen in Venedig aus«, flüsterte Jake Topaz zu und dachte an die mittelalterlichen Wolkenkratzer, deren Pläne er gesehen hatte.