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»Sieht aus wie ein Gefangenenlager«, murmelte Topaz erschüttert.
Auf einem weiteren Bild waren die ausgemergelten Einwohner der Stadt zu sehen, die wie Vieh durch das Tor getrieben wurden. Auf einem anderen sah man sie unter den wachsamen Augen von mit Peitschen bewaffneten Aufsehern auf den Feldern arbeiten oder in düsteren Minenschächten verschwinden.
Schließlich erschien eine Karte Europas.
»Ich gehe von einer Anzahl von acht solcher Städte aus, alle autark, alle auf dem alten Kontinent«, erklärte Zeldt. »Denn das ist es, was Europa ist: alt, müde und vollgefressen.«
Auf der Karte erschien an acht Stellen Zeldts Schlangenwappen, und Topaz schüttelte ungläubig den Kopf. »Das sind alle wichtigen Hauptstädte«, flüsterte sie. »Sieh doch: London, Paris, Rom, Madrid, Athen … Was zum Teufel hat er vor?«
Wieder veränderte sich die Landkarte, und Europa wurde durch zwei voneinander getrennte Landmassen ersetzt. Die Umrisse waren ungenau, aber Jake erkannte sie als den amerikanischen Doppelkontinent.
»Es ist der neue Kontinent, jenseits des Atlantiks, auf den wir unser Interesse konzentrieren werden«, verkündete Zeldt stolz, während sein Publikum fasziniert auf das unkartografierte Gebiet starrte.
»Seit seiner Entdeckung vor vierzehn Jahren hat Amerika sich als ein Land mit noch nie da gewesenem Potenzial gezeigt. Es gibt Gold in Mengen, die Eure kühnsten Fantasien bei Weitem übersteigen, Kupfer, Quecksilber und Eisen im Überfluss. In unterirdischen Stätten lagert eine noch unentdeckte Substanz, die unser Leben von Grund auf verändern wird. Es ist das Paradies auf Erden, und wir werden es beherrschen, jeden einzelnen Morgen davon.« Zeldts Stimme wurde jetzt laut und schrill. »Und es ist der Kontinent, auf dem wir mindestens fünfzig sichere Städte errichten werden!«
Überall auf der Karte des noch unerschlossenen Amerika erschien flimmernd Zeldts grässliches Schlangenwappen, und die Augen der Gäste, vom Widerschein der Projektion in gespenstisches Licht getaucht, erstrahlten vor Habgier. Nur Jake und Topaz bemühten sich um einen ungerührten Gesichtsausdruck.
Dann verblasste die Projektion und wurde ersetzt durch den Schriftzug, mit dem die Präsentation begonnen hatte: SUPERIA. In übergroßer Fraktur schwebten die Buchstaben in der Luft, bis sie schließlich verblassten.
Mina drehte den Regler an der Wand zurück und legte den Hebel um, und der Spalt im Boden schloss sich wieder. Ein Rest Rauch entschwebte unter die Gewölbedecke, und Zeldts düsterer Zukunftsausblick war vorbei.
»Morgen muss ich in einer Familienangelegenheit das Land verlassen, und ich möchte alle Anwesenden – und deren Familienmitglieder – dazu einladen, innerhalb der Mauern meines Schlosses zu bleiben, bis das Schlimmste vorüber ist. Selbstverständlich wärt Ihr auch an jedem anderen Ort in Sicherheit, doch wer bleibt, hat es hier am besten. Wir haben genug Speis und Trank für mindestens ein Jahr, und meine Dienerschaft steht Euch selbstredend zur Verfügung.«
Jake und Topaz wechselten einen schnellen Blick.
»Womit nur noch eines zu tun bleibt …«, flüsterte Zeldt. »Öffnet nun die Schatullen und füllt Eure Kelche.«
Alle Gäste schienen zu wissen, was Zeldt gemeint hatte, und klappten die Schildpatt-Kästchen vor ihnen auf.
Jake und Topaz beeilten sich, es den anderen gleichzutun. Jake überkamen sogleich unangenehme Erinnerungen, als er auf das weiße, Talkum-ähnliche Pulver in seiner Schatulle blickte. »Ich kenne das Zeug«, flüsterte er Topaz zu. »Es ist eine der beiden Substanzen, die Mina Schlitz Talisman Kant für die Truhe Gold abgekauft hat.«
Alle folgten Zeldts und Minas Beispiel und schütteten das Pulver in die mit Wasser gefüllten Kristallkelche. Jake und Topaz blieb nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun. Blubbernd und zischend reagierte das Wasser mit dem Wirkstoff, bis sich die Flüssigkeit schließlich beruhigte.
Zeldt erhob seinen Kelch und erklärte mit lauter, enthusiastischer Stimme: »Auf die Zukunft. Auf die Zukunft unserer Welt!«
Die Anwesenden wollten gerade trinken, als eine weitere Stimme ertönte. »Einen Moment«, sagte der Mann mit der spitzen Nase, der neben Jake saß, und hob die Hand. »Pieter De Smedt aus Gent«, stellte er sich mit hoher, näselnder Stimme vor.
Jake wurde auf unangenehme Weise bewusst, dass nun alle in seine Richtung schauten.
Die Augenbrauen fragend nach oben gezogen, starrte Zeldt den Mann an.
»Ich bin sicher, ich bin nicht der Einzige in diesem Raum, den diese Frage beschäftigt« – er deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf den Kelch in seiner aufgedunsenen Hand, und die Juwelenringe daran funkelten im schwachen Feuerschein – »aber woher wissen wir, was dieser sogenannte ›Trank‹ bewirkt? Immerhin könnte alles nur ein Trick sein, um an unser Geld zu kommen.«
Mina verzog verärgert den Mund, und Pieters andere Sitznachbarin, die groß gewachsene, arrogante Frau mit dem afrikanischen Kopfschmuck, warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
Zeldt lächelte dünnlippig. »Ist es nicht offensichtlich, dass ich Euch alle ebenso brauche wie Ihr mich? Ich dachte, ich hätte hinreichend klargestellt, dass wir in dieser Sache zusammenarbeiten … wozu jedoch selbstredend keine Verpflichtung besteht.« Zeldts Stimme war jetzt klar und scharf wie ein Rasiermesser. »Wünscht Ihr abzureisen?«
De Smedt schien die Sache in Gedanken abzuwägen. Es folgte eine lange Pause, und schließlich sagte er mit bebenden Nasenflügeln, die schmalen Lippen trotzig gespitzt: »Die Sache ist die … ich traue Euch nicht.«
Aufgeregtes Murmeln erhob sich, und alle Augen schossen in Zeldts Richtung, um seine Reaktion zu sehen.
Doch das Gesicht des Prinzen blieb ungerührt. Er senkte lediglich kurz den Blick in Minas Richtung.
Ohne zu zögern, ging Mina um die Tafel herum zu De Smedts Stuhl. Mit einer schnellen Bewegung legte sie ihre Schlange direkt vor ihm auf den Tisch, griff mit der anderen Hand nach der Peitsche, die an ihrem Gürtel hing, und schlang sie ihm um den Hals.
Mit einem hohen, winselnden Schrei schnappte De Smedt nach Luft. Sein Gesicht wurde rosa, dann violett, und die Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen, während er hilflos nach der Schlinge um seinen Hals griff und dabei den Kelch umwarf.
Minas Schlange wand sich genüsslich, während ihre Herrin die Schlinge immer enger zog.
Jake versteckte seine bebenden Hände unter der Tafel, ein Auge auf die Schlange gerichtet, das andere auf Pieter De Smedts Gesicht. Er wollte aufstehen und dazwischengehen, sofort, doch Topaz hielt ihn zurück, eine Hand fest auf seinen Oberschenkel gepresst, während die Frau mit dem Kopfschmuck De Smedts Todeskampf mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen beobachtete.
Der Belgier stieß ein letztes Keuchen aus, Mina löste die Schlinge, dann sackte sein Kopf vornüber und schlug mit einem dumpfen Knall auf die Tafel. Die Schlange huschte blitzschnell zur Seite.
Wortlos stellte Mina De Smedts Kelch wieder auf, packte den Kragen seines Wamses und schleifte den leblosen Körper ein Stück von der Tafel weg, um ihn wie eine benutzte Serviette auf dem Boden liegen zu lassen.
Jake fragte sich, ob irgendwelche Angehörigen des Belgiers anwesend waren. An den Mienen der anderen Gäste konnte er es nicht ablesen, denn keiner wagte auch nur die geringste Reaktion zu zeigen.
Endlich nahm Mina ihre Schlange wieder an sich, küsste sie auf den Kopf und steckte das grausige Wesen zurück in den kleinen Käfig.
Jakes Blick wanderte zu De Smedts leeren, toten Augen, und Topaz verstärkte den Druck auf seinen Oberschenkel, um zu verhindern, dass er einen fürchterlichen Fehler beging.
»Du musst jetzt stark sein, Jake«, flüsterte sie ihm zu. »Mach keinen Fehler. Mina steht immer noch hinter uns.«
Ein rothaariger Mann, der ein paar Stühle entfernt von ihnen saß, drehte fragend den Kopf in ihre Richtung, da bekam Jake die in ihm aufsteigende Wut endlich unter Kontrolle, und er nickte Topaz kurz zu.
Zwei Wachen trugen die Leiche aus dem Saal, und die Doppeltüren schlossen sich hinter ihnen.
»Sonst noch jemand …?«, fragte Zeldt.
Alle Gäste schüttelten eifrig den Kopf, hoben die Kelche und begannen einer nach dem anderen zu trinken.
Jake blickte Topaz fragend an.
Topaz wusste, dass es auffallen würde, wenn sie nicht ebenfalls tranken – außerdem spürte sie, wie Minas Blick bereits in ihre Richtung wanderte. Mit einem knappen Nicken erhob sie ihren Kelch und schluckte.
Jake folgte ihrem Beispiel und bereitete sich auf einen ähnlich widerlichen Geschmack wie den des Atomiums vor, aber er schmeckte nur Wasser.
Zeldt erhob sich. »Miss Schlitz wird Euch, verehrte Freunde, mit ausreichend Elixier für Eure Familien versorgen.«
Mina zog Zeldts Stuhl zurück, und er war schon auf dem Weg zu der kleinen Tür, als er sich noch einmal umdrehte und in geheimnisvollem Tonfall hinzufügte: »Doch nun, seid meine Gäste. Ich wünsche allseits gut zu speisen.« Mit diesen Worten entschwand er in die Dunkelheit.
Nur Augenblicke später schwangen die Doppeltüren erneut auf, und eine ganze Armee von Dienern kam herein, um das Dinner zu servieren.
Wie sich mit der Dekoration der Eingangshalle bereits angedeutet hatte, war das Hauptgericht des Abends Fleisch. Es gab gedünsteten Schinken mit Nelkensoße und Weißkohl, Coq au vin, Gans in Mandelsoße, geröstete Entenbrust im Gewürzmantel und eine gigantisch große Platte Rotwildpastete, eigens mit einem prächtigen Geweih dekoriert.
Topaz war der Appetit vergangen und Jake erst recht, aber sie wussten, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als zu essen, wenn sie keinen Verdacht erregen wollten. Manche der Gäste fingen Gespräche mit ihren Sitznachbarn an, aber es blieb die Ausnahme: Eine Versammlung steinreicher Geschäftsleute, von denen jeder sich für etwas Besseres hielt als sein Gegenüber, war nicht gerade der ideale Ausgangspunkt für ein unbeschwertes Fest.