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»Ich bin der Köder, deshalb muss ich …« Miriam sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen zerzauste sie ihre Frisur und trug etwas rote Farbe aus einem kleinen Holzschächtelchen auf ihre Lippen auf. »So wird das nun mal gemacht«, erklärte sie Jake. »Wenn wir einen männlichen Köder bräuchten, würde Alan dasselbe tun.«
»Aber ohne den Lippenstift.«
»Schon gut!«, sagte Jake. »Tut einfach, was ihr tun müsst.«
Miriam zwinkerte Alan noch einmal zu, dann hüpfte sie durchs Unterholz auf die beiden Wachen zu.
»Sieht sie nicht einfach umwerfend aus?«, meinte Alan und blickte ihr stolz hinterher. »Sie ist wie ein teurer Wein, der mit jedem Jahr noch besser wird.«
Gespannt beobachteten die drei, wie Miriam auf die Soldaten zulief und ihnen auf Deutsch etwas zurief, mit den Armen wild in Richtung des Flusses gestikulierend, stets darauf bedacht, ihre weiblichen Vorzüge möglichst gut zur Geltung zu bringen.
»Hilfe!«, übersetzte Alan genüsslich. »Mein Sohn ist in den Fluss gefallen! Er kann nicht schwimmen!«
»Glaubst du, sie werden wirklich darauf reinfallen?«, fragte Jake besorgt.
In dem Moment beugten sich die Wachen über das Geländer und spähten in die Richtung, in die Miriam deutete – Miriam versetzte ihnen einen Handkantenschlag ins Genick und stieß sie ins Wasser.
Schwimmend und fluchend versuchten die beiden, das Ufer zu erreichen, brüllten und klammerten sich am Schilf fest, aber die Strömung war zu stark und riss sie mit.
»Los«, sagte Alan und lief zum Bootshaus, aus dem gerade zwei weitere Wachen stürmten, die das Geschrei ihrer Kameraden gehört hatten.
»Miriam!«, schrie Alan, als die beiden versuchten, sie von hinten in die Zange zu nehmen.
Miriam reagierte blitzschnell und duckte sich mit einer Rolle rückwärts nach unten weg, woraufhin die Angreifer ins Leere griffen und krachend mit den Schädeln zusammenprallten.
Als sie sich wieder hochgerappelt und ihre Schwerter gezogen hatten, war Alan schon fast bei ihnen. Er schwang sich an dem niedrigen Ast eines neben dem Bootshaus stehenden Baumes mit beiden Füßen voraus in die Luft und fällte den einen mit einem genau gezielten Tritt.
»Hier!«, rief Miriam und warf ihrem Mann ein Rapier zu.
Alan fing es mit einer Hand auf und lieferte sich mit dem noch verbliebenen Soldaten einen Kampf, bei dessen Anblick Jakes Unterkiefer staunend nach unten klappte. Sein Vater drängte den Angreifer immer weiter zurück, versetzte ihm mit der flachen Seite der Klinge einen letzten Schlag und beförderte ihn schließlich mit einem Wurf in den Fluss.
»Mum, Dad …? Habt ihr wirklich gerade …?« Jakes Mund stand immer noch offen. Waren das wirklich seine schusseligen Eltern, die nicht einmal ihr Badezimmereinrichtungsgeschäft ordentlich führen konnten?
»Das war noch gar nichts. Wir sind noch nicht einmal richtig warm«, sagte Alan und tat, als würde er sein Wams abstauben.
Zu viert eilten sie ins Bootshaus, in dem drei kleine Schiffe auf den Wellen schaukelten. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Fischerboote, verfügten aber ganz offensichtlich über eine Spezialausrüstung, denn jedes davon hatte einen Schornstein, geschickt als einen auf dem Deck herumstehenden Kochkessel getarnt.
Miriam sprang an Bord des ersten, der Aal, wie Jake aus dem Augenwinkel sah, während er seiner Mutter mit Paolo im Schlepptau folgte. Alan machte die Leinen los, stieß das Schiff mit einem kräftigen Tritt vom Steg ab und sprang hinterher.
Den drei hilflos im Fluss treibenden Soldaten war es mittlerweile gelungen, sich an einem über dem Wasser hängenden Ast festzuhalten. Fluchend und die Fäuste schüttelnd brüllten sie den Agenten hinterher, als diese mit der Aal an ihnen vorbeitrieben.
Miriam winkte ihnen freundlich zu, während Alan unter Deck ging und den Kessel anfeuerte.
Zehn Minuten später quoll der Dampf nur so aus dem Schornstein der Aal, und das kleine Schiff jagte rheinabwärts Richtung Norden.
Seite an Seite galoppierten Nathan und Charlie die schnurgerade Straße entlang Richtung Süden. Sie eilten durch Mannheim, Heilbronn und Metzingen. Mr Drake saß vor dem Wind geschützt hinter Charlies Rücken und war offenbar sehr glücklich darüber, wieder mit seinem Herrn vereint zu sein. Ab und zu streckte er neugierig den Kopf hervor, um einen Blick auf die vor ihnen liegende Straße zu werfen und sich das bunte Federkleid zerzausen zu lassen.
In jeder Stadt, durch die sie kamen, fragten die beiden Agenten die Bewohner atemlos, ob sie eine fensterlose, blutrote Kutsche hätten vorbeikommen sehen, und jedes Mal deuteten die braven Stadtbürger mit ehrfürchtig geweiteten Augen nach Süden – und jedes Mal hasteten sie weiter.
Mit dampfendem Kessel pflügte die Aal durchs schattige Rheintal, dessen hundert Meter hoch aufragende Wände das Rauschen des Wassers zurückwarfen. Sie kamen an Schlössern und Burgen jeder Größe vorbei, an den grimmigen Wachtürmen von Asterstein, Hammerstein und Stahlberg, an den hoch oben auf den Felsen thronenden Festungen Rolandseck, Linz und Godesburg.
Nachdem sie die Bonner Stadtmauer hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den verkehrsreicheren Niederrhein und mussten sich bald zwischen Fähren und Handelsschiffen hindurchschlängeln, die die wachsenden mittelalterlichen Städte Europas mit Gütern versorgten. Sehr zur Verwunderung der Kaufleute und Matrosen überholte die kleine Aal sie alle. Als sie an einer großen Galeone vorbeijagten, die weißen und schwarzen Marmor geladen hatte, pfiff die Besatzung den vieren gut gelaunt zu, was Miriam – sehr zum Vergnügen ihres Mannes – mit Pfiffen und Kusshänden ihrerseits beantwortete.
Immer wieder zog Alan ein kleines Teleskop aus seinem Wams und suchte damit den Horizont ab. Jake fiel auf, dass das Fernglas mit dem vertrauten Emblem der von zwei Planeten umkreisten Sanduhr verziert war. Jedes Mal warf Alan danach einen Blick auf seinen Chronometer, ein faszinierendes, würfelförmiges Gerät von der Größe eines kleinen Apfels, das zusätzlich mit einem Kompass und einer Sonnenuhr ausgestattet war, und schaute gespannt in den Himmel. Und jedes Mal war die blasse, beinahe unsichtbare Mondscheibe der Sonne ein Stück näher gerückt.
Jake hingegen konnte an nichts anderes denken als an Topaz. Stur schaute er geradeaus in der Hoffnung, die roten Segel der Lindwurm zu entdecken. Natürlich wusste er, dass er nichts tun konnte, selbst wenn sie das Schiff des Prinzen aufspüren sollten, was ihn aber nicht davon abhielt, es zu versuchen. Innerhalb der letzten Stunde musste Topaz hier durchgekommen sein. Eine fürchterliche Ahnung beschlich ihn, dass Zeldt sie womöglich genau in diesem Moment auf irgendeine teuflische Art und Weise folterte. Die Gewissheit, dass Topaz ihre Qualen mit stoischem Gleichmut ertragen würde, machte die Vorstellung nicht leichter für Jake.
Endlich entdeckten Charlie und Nathan von einer Hügelkuppe aus das rote Fuhrwerk. Etwa eine halbe Meile vor ihnen zogen die Pferde die Kutsche mit der tödlichen Fracht den nächsten Anstieg hinauf. Die beiden Agenten hatten ihre Pferde weit über tausend Höhenmeter die kurvenreiche Passstraße hinaufgetrieben und gönnten ihnen jetzt, da vor ihnen ein flaches Plateau lag, über das der Wind ein paar Nebelfetzen trieb, eine kleine Pause.
Als der scharlachrote Wagen hinter dem nächsten Hügelkamm verschwand, blickten Charlie und Nathan einander kurz an und gaben ihren Pferden erneut die Sporen. Mr Drake verkroch sich unter Charlies Wams und schaute mit einem Auge neugierig auf die Straße, um ja nichts zu verpassen.
Als das Fuhrwerk wieder in Sicht kam, hatten sie ein ganzes Stück aufgeholt. Der nächste Anstieg war noch steiler, und sie trieben ihre Pferde noch schneller an. Endlich war das von vier schnaubenden Rössern über die schmale Straße gezogene Gespann, unter dessen mahlenden Rädern faustgroße Steine nach links und rechts schossen wie Musketenkugeln, zum Greifen nahe.
Hinter der nächsten Kurve begann die Straße auf der einen Seite steil abzufallen. Jenseits der Böschung gähnte ein wolkenverhangener, felsiger Abgrund, vor ihnen lag die ganze Pracht der Alpen – und die Kutsche. Sie konnten jetzt sogar die Köpfe der beiden Soldaten auf dem Kutschbock erkennen.
»Wir werden sie zum Anhalten bewegen müssen!«, rief Nathan.
»Verstanden, aber wie?«, schrie Charlie zurück. »Die beiden machen auf mich nicht den Eindruck, als würden sie vernünftig mit sich reden lassen!«
»Dann werden wir eben schlagkräftige Argumente ins Feld führen!«
Während ihrer gebrüllten Unterhaltung schaute ein vom Wind gebeutelter Mr Drake nervös zwischen den beiden Agenten hin und her.
»Du musst endgültig den Verstand verloren haben!«, fluchte Charlie, doch Nathan lächelte ihn nur an. »Was tut man nicht alles …«, seufzte er schließlich, zog Mr Drake unter seinem Wams hervor und reichte ihn Nathan. Als Charlie dann auch noch die Zügel losließ und sich tollkühn balancierend auf den Sattel seines galoppierenden Pferdes stellte, wandte der Papagei den Blick ab.
Meter um Meter machte Charlie auf die Kutsche gut, und als er schließlich auf gleicher Höhe war, ging er in die Hocke und sprang mit einem hohen Satz auf das Fuhrwerk. Doch Holz und Eisenbeschläge waren nass vom Nebel, Charlie verlor den Halt und war im Begriff, geradewegs auf der anderen Seite wieder hinunterzuschlittern, als er sich gerade noch rechtzeitig auf den Bauch drehte und mit den Fingern festhalten konnte. Ächzend zog er sich hoch und kam wieder auf die Beine.
Nathan beobachtete wild gestikulierend die zirkusreife Vorstellung, während Mr Drake, dem Herzinfarkt nahe, aufgeregt mit den Flügeln schlug.
Charlie drehte den Kopf und sah, wie einer der Kuttenmänner zu ihm aufs Dach des Fuhrwerks kletterte. Während das Gespann nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt über die holprige Passstraße ratterte, kam die hünenhafte rote Gestalt furchtlos auf Charlie zugestürmt, packte ihn mit einer riesigen Hand am Kragen und hob ihn in die Luft.
Das war der Moment, in dem Mr Drake genug hatte. Mit einem Schrei breitete er die Flügel aus und stürzte sich auf das Gesicht des Angreifers. Der ließ Charlie taumelnd los und verlor auf dem feuchten Kutschdach das Gleichgewicht. Noch während der Soldat fiel, bekam er den Aufschlag von Charlies Kniehose zu fassen und drohte den jungen Agenten mit nach unten zu reißen. Doch genau in dem Moment, als Charlie ebenfalls hinfiel, riss der Stoff, und Zeldts Scherge stürzte, einen Fetzen von Charlies Hose in der Faust, in den Abgrund.
Aber Charlie war noch nicht gerettet. Mit letzter Kraft hielt er sich an den Eisenbeschlägen fest, während seine Füße schon beinahe die unter ihm vorbeijagende Schotterstraße berührten.
Nathan schüttelte unterdessen beim Anblick von Charlies teilweise freiliegender Unterhose – ein buntes Paar Shorts mit aufgestickten Paradiesvögeln – verständnislos den Kopf. »Das Muster ist ein bisschen übertrieben, findest du nicht?«, rief er.
»Ich hab sie zu Ehren von Mr Drake angezogen!«, brüllte Charlie zurück. »Außerdem konnte ich ja nicht ahnen, dass ich heute noch einen Freiluft-Striptease hinlegen würde!«
Während das Gespann weiter dahinholperte, wurde Nathan endlich klar, dass sein Freund es nicht aus eigener Kraft zurück nach oben schaffen würde. Also setzte er alle Hoffnung auf sein unverletztes Bein, dirigierte sein Pferd noch ein Stückchen näher heran und sprang.
Mit einem Schmerzensschrei landete er sicher auf dem metallbeschlagenen Dach, da spürte er einen schneidenden Hieb im Nacken: Der Kutscher hatte die Zügel in eine Hand genommen und malträtierte Nathan vom Kutschbock aus mit der Peitsche.
Nathan zog den kostbaren Schal von seinem Hals, knotete ihn flink zu einem Lasso und warf es seinem Angreifer über den Kopf. Mit einem Ruck zog er den Mann zu sich herauf.
Der Soldat knurrte wie ein wildes Tier und erwischte Nathan mit dem Griff der Peitsche im Gesicht.