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Die Pferde, aufgescheucht von der Keilerei in ihrem Rücken, gingen durch. Panisch jagten sie durch die engen Kurven der Straße, während sich Charlie, immer noch um sein Leben kämpfend, an der Kutsche festklammerte.
Nathan zog die Schlinge um den Hals seines Widersachers immer enger, und der Soldat packte ihn mit beiden Händen am Schädel, als wollte er ihn zwischen seinen schwarzen Fingernägeln zerquetschen. Plötzlich weiteten sich Nathans Augen vor Entsetzen: Die Pferde hielten mit voller Geschwindigkeit auf die nächste Serpentine zu, und diesmal würden sie es auf keinen Fall schaffen.
Charlie hielt den Atem an.
Als auch der Kutscher den Kopf drehte, stieß Nathan ihn mit einem letzten Aufbäumen seiner Kräfte vom Dach.
Hilflos hing der Scherge halb in der Luft, den mächtigen Hals in Nathans Halstuch gefangen.
»Dieser Schal ist aus feinster Spinnenseide aus der Provinz Jiangxi gewoben!«, brüllte Nathan gegen den tosenden Fahrtwind an. »Das ist einer der seltensten und teuersten Stoffe der Welt! Mein Vater hat ihn als Geschenk von Shi Huang dem Großen, Begründer der Qin-Dynastie, bekommen, und er ist, offen gesagt, mehr wert, als Ihr in Eurem ganzen Leben je verdienen werdet!«, schrie er dem Kutscher ins blau anlaufende Gesicht. »Ich sage dies nur, um Euch begreiflich zu machen, dass diese unselige Schlägerei mir einen weit größeren Verlust zufügt als Euch …«
Mit diesen Worten ließ Nathan seinen geliebten Schal los, und damit seinen Widersacher, der in den hundert Meter tiefen Abgrund stürzte.
Nathan richtete sich auf, setzte sich auf den Kutschbock und zog so lange an den Zügeln, bis die Pferde endlich stehen blieben. Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend: Ganz Südeuropa lag zu seinen Füßen.
»Italien«, seufzte er theatralisch. »Nie wirst du erfahren, wie nahe du am Rand der …«
»Es ist noch nicht vorbei, Nathan«, schnitt Charlie ihm das Wort ab und zog die Überreste seiner Kniehose hoch, um seine blassen Beine und bunten Shorts wieder zu verhüllen. »Wenn die anderen den Dom nicht rechtzeitig erreichen, dann war’s das.«
28
DIE ALLES VERSCHLINGENDE SONNENFINSTERNIS
Die Aal fuhr um eine weitere Flussbiegung, und eine mittelalterliche Stadt kam in Sicht. Ehrfürchtig erhob sich Jake und sog den Anblick in sich auf. Ein schier endloses Panorama von Holzhäusern, deren Dächer aussahen wie Hexenhüte, erstreckte sich über beinahe das gesamte Tal. In der Mitte ragte ein gewaltiges Bauwerk auf, so groß, dass es fast ein Viertel der Stadt in Schatten tauchte.
»Der Kölner Dom«, sagte Alan mit leuchtenden Augen. »Im Moment das höchste Gebäude der Welt.«
»Tatsächlich?«, fragte Jake beeindruckt.
»Absolut – Köln dürfte zurzeit die reichste Stadt Europas sein. Es ist eine ›Freie Reichsstadt‹, sozusagen ein eigener souveräner Staat. Diese Tatsache und seine Lage direkt am Rheinufer, mitten im Zentrum Europas, sind die Gründe für seine Blüte.«
»Dein Vater sieht nicht nur gut aus«, sagte Miriam lächelnd, »er hat auch was im Kopf.«
Im Hafen wimmelte es nur so von Schiffen.
»Wie ein gordischer Knoten aus Booten«, schimpfte Miriam, während Alan versuchte, die Aal sicher durch das Knäuel aus Schiffen und durcheinanderschreienden Seeleuten zu manövrieren. Um ein Haar hätte er eine mit verängstigt dreinschauenden Eseln beladene Kogge gerammt. Zwei kleine Ruderboote hatten nicht so viel Glück und stießen prompt zusammen, woraufhin zwischen dem unrasierten Getreidehändler in dem einen und der stattlichen Dame mit Federhut und Samtumhang in dem anderen ein hitziger Streit entbrannte.
Während die Aal langsam auf einen der Anlegestege zutuckerte, begutachtete Jake fasziniert den riesigen Dom, jenes fantastische Bauwerk aus hoch aufragenden Spitzentürmchen und gotischen Pfeilern. Doch so groß er auch sein mochte, es war deutlich zu erkennen, dass er noch nicht fertig war. Hoch oben auf dem Dachstuhl sah Jake die Stümpfe zweier erst halb fertiggestellter Türme, zwischen denen sich ein riesiger hölzerner Kran gen Himmel reckte. Jake war wie hypnotisiert. Er hatte schon einige große Kirchen gesehen, ihren Anblick aber immer als etwas vollkommen Alltägliches hingenommen. Das hier jedoch, den Kölner Dom in seinen Entstehungswehen zu sehen, erfüllte ihn mit größter Ehrfurcht vor menschlicher Tatkraft und menschlichem Streben.
»Diese halb fertigen Türme da … Dort will Zeldt seine Bombe verstecken«, sagte er.
Alan warf einen Blick auf den Chronometer. »Fünf Minuten nach eins. Noch fast eine ganze Stunde bis zur Sonnenfinsternis. Wie wär’s mit einem Kaffee bis dahin?«
»Wenn es erst fünf nach eins ist, warum zeigt diese Uhr dann fünf vor zwei?«, fragte Paolo und deutete auf einen Uhrenturm gleich neben dem Hafen.
Alan sah ebenfalls hin und verglich die Anzeige mit dem Chronometer. Dann schüttelte er ihn kräftig, überprüfte die Uhrzeit erneut – und lief kreidebleich an.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst kein italienisches Fabrikat kaufen«, meinte Miriam kopfschüttelnd. »In diesem Land geht alles einen Tick langsamer.«
Die Sonnenfinsternis des 20. Juli 1506 hatte bereits begonnen.
Der hektische Lärm um sie herum schien ein wenig leiser zu werden und wurde von unvermittelt einsetzendem Vogelgezwitscher übertönt, bis plötzlich wie mit einem Paukenschlag völlige Stille herrschte. Nur ein paar Kiebitze, die sich im Schatten unter einer Brücke zusammendrängten, gaben aufgeregte Laute von sich.
Jake sah, wie ein kleines Mädchen nach oben deutete, und im nächsten Moment ertönten von überall her Rufe ungläubigen Staunens. An der ganzen Ufermauer entlang blieben die Leute wie angewurzelt stehen oder rannten sich gegenseitig über den Haufen. Nach und nach starrte jedes Gesicht himmelwärts.
Jake blickte auf und sah, wie sich Stück für Stück eine schwarze Scheibe über die gleißende Nachmittagssonne schob. Das Schauspiel war in vollem Gang.
»Nicht in die Sonne schauen, Jake!«, rief Miriam. »Das ist gefährlich für die Augen.«
Überall zogen Mütter ihre Kinder dichter an sich; eine Gruppe Marktschreier schaute verängstigt nach oben; eine alte Nonne deutete mit zitterndem Finger auf den Himmel und murmelte ein Gebet. Hunde bellten nervös, Boote krachten führerlos gegeneinander.
»Den Kaffee verschieben wir dann wohl besser auf später«, sagte Alan, sprang auf den Steg und half den anderen aus dem Boot.
»Sollte ich nicht vielleicht besser hierbleiben?«, fragte Paolo. »Ich möchte niemanden bei der Arbeit behindern.«
Alan lachte nur und schob ihn vor sich her in die Menge. »Du willst doch wohl nicht den ganzen Spaß verpassen! Es wird ganz schön was geboten sein.«
»Das befürchte ich ja gerade«, murmelte Paolo.
Jake hätte sie nie gesehen, wenn die Menschen auf dem großen Platz zwischen Hafen und Dom nicht immer noch reglos dagestanden hätten, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt. Es waren mindestens fünfhundert, und nur einer davon rannte: eine kleine, schlanke Gestalt, die mit wehendem schwarzem Umhang auf einen Pier am anderen Ende des Hafens zueilte.
Es war Mina Schlitz.
Jake beobachtete, wie sie die Laufplanke der Lindwurm hinaufrannte. Sobald sie an Bord gesprungen war, legte das Schiff ab.
»Dad!«, rief Jake so laut, dass sein Vater wie angewurzelt stehen blieb. »Zeldt, er ist immer noch hier!« Er deutete auf die davonsegelnde Galeone.
Jetzt sah Alan sie auch, aber er kannte ihre Befehle. »In dieser Sache können wir nichts tun«, sagte er entschlossen. »Wir haben nicht mal mehr fünf Minuten, um die Bombe zu entschärfen.«
Jake blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er folgte seinem Vater in die Menge, seine Gedanken in Aufruhr. Er wusste, dass seine Verpflichtung dem Auftrag galt, den sie im Dom zu erledigen hatten – einem unfassbar wichtigen Auftrag. Doch etwas, das beinahe ebenso stark war wie sein Pflichtgefühl, zog ihn fort vom Dom, in die exakte Gegenrichtung: zur Lindwurm und zu Zeldts Geisel, Topaz St. Honoré. Während er sich durch die ängstlich staunende Menge schob, wanderten Jakes Augen immer wieder zurück zu den roten Segeln des Schiffs, doch als er und die anderen endlich die Treppen des Doms erreichten, waren sie verschwunden.
Alle, die sich im Dom befunden und soeben erst von dem Ereignis gehört hatten, kamen aus dem Portal gestürmt, um das Heraufdämmern der Apokalypse mit eigenen Augen zu sehen, und die Agenten mussten sich regelrecht durchkämpfen, bis sie endlich das Hauptschiff erreichten, einen schier endlosen Gang mit unzähligen Säulen und Pfeilern zu beiden Seiten. Das Licht, das durch die riesigen Fenster hereindrang, wurde immer schwächer.
»Dieses Gerüst da müsste der schnellste Zugang sein«, rief Alan und deutete auf ein hohes Holzgestell vor dem Hauptfenster, dessen Stufen bis hinauf unters Dachgewölbe führten. Von dem Gestell herab hingen mehrere Flaschenzüge und Seile mit Eimern daran, mit denen die Arbeiter ihr Material nach oben transportierten.
Jake bahnte sich einen Weg durch den Menschenstrom, der sich unablässig nach draußen vors Portal ergoss, und erreichte als Erster das Gerüst. Er sprang auf die unterste Stufe und rannte Ebene um Ebene hinauf. Je höher er kam, desto mehr konnte er durch die hohen Kirchenfenster von der dahinterliegenden Stadt erkennen, bis hinter den bunten Butzenscheiben schließlich auch die blassen Umrisse der Lindwurm wieder in Sicht kamen.
»Wusstest du, dass die Heiligen Drei Könige hier begraben sind?«, fragte Alan mit Begeisterung in der Stimme, während er mit polternden Schritten hinter Jake die knarzenden Stufen hinaufeilte. »Nach ihnen ist auch die größte Glocke des Doms benannt, die Dreiköniginnenglocke. Sie ist die schwerste in ganz Europa.«
»Hochinteressant«, rief Miriam dazwischen, »aber ich würde sagen, uns bleiben nicht mal mehr zwei Minuten, um den Weltuntergang zu verhindern.«
Sie liefen noch schneller und hatten bald eine schwindelerregende Höhe erreicht. Die Menschen im Kirchenschiff unter ihnen waren nur noch kleine Pünktchen, die sich durch die großen Flügeltüren nach draußen stürzten.
Als sie auf der achten Ebene angekommen waren, sah Jake, wie die Lindwurm gerade hinter einer Flussbiegung verschwand. Mit doppelter Geschwindigkeit eilte er weiter, seine Eltern dicht dahinter, Paolo keuchend und schnaufend am Ende, bis sie auf Höhe des Glockengestühls angekommen waren.