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Paolo, der immer noch gefährlich nahe am Abgrund stand, straffte die Schultern und nahm den Glasbehälter aus Miriams Hand, um einen Blick auf den todbringenden Inhalt zu werfen.
Da flog die Pestphiole plötzlich wie ein Jonglierball durch die Luft.
Alle hielten den Atem an, sahen Bilder von Tod und Verheerung vor dem inneren Auge, als Paolo das Ding mit der anderen Hand wieder auffing. »Kein Grund zur Aufregung«, meinte er mit einem Achselzucken. »Habe mir lediglich einen kleinen Scherz erlaubt.«
Alan stutzte einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Als der Lachanfall vorüber war, nahm er das Fläschchen trotzdem lieber an sich. Paolos neu erwachter Humor in allen Ehren, aber in dieser Sache konnten und durften sie nicht das geringste Risiko eingehen. Dann kletterten die vier zurück in den Glockenstuhl.
Nachdem die unmittelbare Gefahr abgewendet war, kehrten Jakes Gedanken sofort zu Topaz zurück.
»Ich werde sie holen«, erklärte er mit entschlossenem Blick. »Zeldts Galeone ist noch keine fünf Meilen weit weg. Ich werde die Aal nehmen. Wenn ich allein fahre, werde ich sie schnell eingeholt haben.«
»Die Lindwurm? Jake, das ist keine gute Idee«, entgegnete Miriam.
»Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Was spricht also noch dagegen?«
Jakes Eltern sahen einander an, dann sagte Miriam leise, aber nachdrücklich: »Nun, unter anderem, dass wir anderslautende Befehle haben. Nathans Anweisungen waren sehr strikt. Es wird kein Versuch unternommen, Agentin St. Honoré zu retten, selbst wenn wir unseren Auftrag erfolgreich erfüllen.«
»Befehle?« Jake schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich werde nie wieder in den Spiegel schauen können, wenn ich es nicht wenigstens versuche.«
»Du wirst nirgendwohin mehr schauen, weil du tot sein wirst!« Miriam blickte ihren Mann verzweifelt an. »Sag’s ihm, Alan.«
»Sie hat recht. Das ist kein guter Plan.«
»Topaz’ momentane Lage hat mit dir nicht das Geringste zu tun, Jake«, fügte Miriam hinzu. »Die Sache ist sehr … kompliziert.«
»Überhaupt nichts ist kompliziert!« Jake spürte Zorn in sich aufwallen. »Es ist ganz einfach: Wenn keiner sie rettet, wird sie sterben. Und seit wann kümmert ihr euch um Befehle? Habt ihr etwa eure Befehle befolgt, als ihr losgezogen seid, um Philip zu suchen?«
Jake hatte damit gerechnet, dass seine Eltern nicht begeistert sein würden, und sich in Gedanken bereits einen Plan zurechtgelegt. Er nutzte das betretene Schweigen, das auf seine Frage hin entstanden war, schnappte sich das Fernrohr seines Vaters, rannte zu dem großen Korb voll Mauersteinen, der oben auf dem Gerüst stand, und leerte ihn aus. Mit einem schnellen Blick überprüfte er den Flaschenzug, an dem das Trageseil des Korbes befestigt war, dann schob er ihn über den Rand des Gerüsts und sprang hinein.
Miriam und Alan schrien laut auf, als das Gegengewicht nach oben sauste und Jake mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach unten schoss.
»Tut mir leid. Wartet hier auf mich!«, rief Jake nach oben.
»Jake!«, brüllten seine Eltern hilflos hinter ihm her.
Jake jagte dem steinernen Boden entgegen. Gerade noch rechtzeitig packte er das Seil mit dem Gegengewicht daran, um seinen Sturz vor der Landung abzubremsen. Der Korb schlug auf und zerschellte, Jake sprang heraus und lief durchs Hauptschiff Richtung Portal.
Miriam blickte ihren Gatten an. Sie hatte erwartet, Alan vor Zorn überschäumen zu sehen. Doch was sie stattdessen erblickte, war väterlicher Stolz.
»Würdest du bitte aufhören, so zu schauen?«, fragte sie mit drohender Stimme.
»Hast du denn schon vergessen, wie wir uns kennengelernt haben?«, fragte Alan zurück. »In Ägypten, 872? Du hast zwei feindliche Stellungen durchbrochen und dich bis zwanzig Meter unter die Cheopspyramide durchgegraben, um zu mir durchzukommen. Es scheint, als würde sich die Geschichte manchmal doch wiederholen.«
Alan beobachtete, wie sein Sohn tief unter ihnen aus dem Kirchenportal hinauspreschte und Richtung Hafen davoneilte. »Er ist eben ein Abenteurer durch und durch«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Daran lässt sich wohl nichts ändern.«
29
DIE SCHRECKLICHE WAHRHEIT
Die Aal jagte über den Rhein. Jake peitschte das Schiff durch die Windungen des Flusses, wich Strudeln aus, navigierte zwischen Galeonen, Handelsschiffen und Fähren hindurch, deren Kielwasser klatschend gegen den Bug schlug. Während der ganzen Zeit hatte er den Blick fest auf den Horizont gerichtet und hielt Ausschau nach den roten Segeln von Zeldts Schiff.
Alle zwanzig Minuten vergewisserte er sich, dass der Weg vor ihm frei war, und rannte unter Deck, um Holz für den Kessel nachzulegen. Der ursprünglich große Vorrat ging rasch zur Neige, aber Jake hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er es schaffen würde.
Die Aal eilte an Düsseldorf und Duisburg vorbei. Die Menschen in der Hafengegend schienen sich wie in Zeitlupe und mit größter Vorsicht zu bewegen, als warteten sie immer noch auf die Katastrophe, die unweigerlich auf die beängstigende Sonnenfinsternis folgen musste.
Dann, gleich hinter dem Städtchen Emmerich, stand Jake vor einem Dilemma: Eine halbe Meile vor ihm teilte sich der Fluss, und mit ihm der Schiffsverkehr. Er zog das Fernrohr heraus, konnte die roten Segel der Lindwurm aber nirgendwo entdecken. Unsicher, was er tun sollte, hielt er auf die Landzunge zu, zu deren Seiten sich der Rhein aufteilte. Schließlich entschied Jake sich für den rechten Arm, der ihm etwas breiter erschien.
Es war die falsche Entscheidung. Er hatte die Aal gerade hineingesteuert, da erblickte er auf der anderen Seite die Lindwurm. Hektisch riss er das Ruder herum, und das kleine Schiff begann bedenklich zu schwanken, als es sich in die Kurve legte. Eine hohe Welle klatschte schäumend gegen die Seitenwand, rollte mit voller Wucht über das Deck hinweg und hätte Jake beinahe von Bord gespült. Doch er hielt sich mit aller Kraft am Ruder fest und zwang das Schiff um die Kurve. Im aufgewühlten Wasser an der Spitze der Landzunge hin und her geworfen, geriet die Aal plötzlich in die Fahrlinie einer großen Fähre. Die Passagiere an deren Deck schrien entsetzt auf, es folgte ein dumpfer Knall und das Splittern von Holz. Die Fähre segelte unbeirrt weiter, und die Aal war zwar beschädigt, aber noch fahrtüchtig, und endlich fand Jake sich im ruhigeren Wasser des anderen Seitenarms wieder.
Je näher Jake dem Meer kam, desto breiter wurde der Rhein, und die Aal holte schnell auf. Endlich erreichte er die Bucht von Hellevoetsluis und sah vor sich die endlose Weite der Nordsee.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont und tauchte den Himmel in Rosa-und Zinnoberrot. Es herrschte absolute Windstille, die Luft wurde warm und wärmer.
Jake suchte das Wasser vor sich ab. Etwa fünfzehn Schiffe lagen über die Bucht verteilt. Schließlich entdeckte er die Lindwurm am anderen Ende der Bucht. Nahe dem Ufer lag sie vor einem kleinen Fischerdorf im seichten Wasser vor Anker.
Wieder zog Jake das Fernrohr heraus. Am Heck der Lindwurm war ein Ruderboot vertäut, von dem Proviant an Bord der Galeone gebracht wurde. Kaum war die Aufgabe erledigt, wurden die Leinen losgemacht, und das kleine Boot ruderte zurück ans Ufer, während die Besatzung der Lindwurm den großen, von Muscheln überzogenen Anker lichtete und eilig letzte Vorbereitungen für die bevorstehende Reise traf.
Jake schlüpfte unter Deck, stellte die Dampfmaschine ab und pirschte sich im Schutz der Dämmerung näher heran. Lautlos glitt die Aal übers Wasser.
Während sein kleines Schiff näher herankam, bewunderte Jake die Lindwurm in ihrer ganzen Majestät. Die mächtigen Rumpfplanken rochen immer noch nach den endlosen Wäldern des Rheinlands, aus deren kräftigen Bäumen sie gezimmert waren. Die riesigen Segel schimmerten samten im Rot der untergehenden Sonne.
In regelmäßigen Abständen am imposanten Rumpf entlang sah Jake rechteckige Öffnungen, aus denen warmes Licht in die Dunkelheit der beginnenden Nacht fiel. Hinter einer dieser Öffnungen – am Heck und mit Gittern davor – entdeckte er eine vertraute Silhouette. Er richtete das Teleskop auf die Gestalt und sah, wie sie verloren hinaus auf die Wellen starrte. Es war Topaz.
Da ertönte eine strenge Befehlsstimme, und mit einem tiefen Rumoren erwachte die Maschine der Lindwurm zum Leben. Blasen stiegen im zuvor noch spiegelglatten Kielwasser auf, und der hölzerne Behemoth setzte sich in Bewegung, hinaus aufs offene Meer.
Jake wollte Topaz etwas zurufen, aber es standen zu viele Wachen an Deck. Da entdeckte er die Seile, mit denen das Ruderboot festgemacht gewesen war. Nicht weit von Topaz’ Fenster hingen sie bis hinab in die Wellen.
Als die Lindwurm längsseits kam, stieß Jake sich mit aller Kraft von der Aal ab, packte im Sprung das glitschige Seil – und krachte mit voller Wucht gegen den Rumpf der Galeone. Hilflos am Seil baumelnd sah er, wie die Aal führerlos auf den Hafen des kleinen Dörfchens zutrieb, wo sie zwischen den anderen Fischerbooten verschwand.
Als Jake nach unten blickte, bemerkte er, dass er direkt über der gigantischen Schiffsschraube hing, deren Blätter das Wasser unter ihm aufwirbelten. Anfangs hatte sie sich noch ganz langsam gedreht, doch jetzt, da die Lindwurm Fahrt aufgenommen hatte, peitschten ihre Blätter nur so durchs Wasser. Erschrocken über den bedrohlichen Anblick, verlor Jake einen Moment lang die Konzentration und lockerte seinen Griff um das Seil. Sofort rutschte er nach unten, das Tau schnitt in seine Handfläche, und er konnte seinen Fall gerade noch rechtzeitig bremsen. Unter den Sohlen seiner Stiefel spürte er die Wirbel der sichelnden Schiffsschraube.
Er wickelte das Tau um den Unterarm und zog sich ein Stück hinauf. Seine Stirn war schweißnass, Wellen klatschten gegen seine Stiefel, und Jake begann hin und her zu schaukeln, bis er mit der anderen Hand das zweite Tau erwischte. Mit zusammengebissenen Zähnen hangelte er sich an blutigen Händen hinauf bis zu Topaz’ Fenster und spähte keuchend in die Kabine.
Bis auf die Möbel aus dunklem Holz und die abschreckenden Porträts von Zeldts grausamen Vorfahren war sie leer. Eines der Gemälde zeigte Zeldt selbst, wie er mit grimmigem Blick eine Weltkugel im eisernen Griff seiner leichenblassen Hand hielt. Der Anblick jagte Jake einen kalten Schauer über den Rücken und machte ihm auf unangenehme Weise seine prekäre Lage als Eindringling an diesem verbotenen Ort bewusst.
Vor einem Kamin standen zwei Stühle mit hohen, breiten Lehnen. Hinter dem, der näher beim Fenster stand, kam eine zierliche Hand zum Vorschein und nahm ein Buch von einem Beistelltisch.
»Topaz?«, flüsterte Jake.
Die Hand hielt inne.
»Ich bin’s, Jake!«
Aufgeschreckt sprang Topaz auf die Füße. Sie trug einen langen schwarzen Umhang, der ihr Gesicht noch blasser erscheinen ließ. Als sie Jake am Fenstergitter baumeln sah, schnappte sie laut nach Luft. Hektisch warf sie das Buch von sich und eilte zum Fenster.