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Sofort zog Mina ihr Schwert, sprang auf die Truhe zu und hebelte den Deckel auf.
Instinktiv brach Jake aus seinem Versteck hervor und stürzte sich auf Mina. Er versuchte, sie zu packen, aber sie war zu schnell – mit einem harten Fausthieb schickte sie ihn zu Boden und presste ihm mit unbarmherziger Kraft einen Absatz ins Genick.
»Eure Widerspenstigkeit geht mir allmählich auf die Nerven«, knurrte sie durch die zusammengebissenen Zähne.
Bis auf das spärliche Licht, das ein paar pechschwarze Kerzen spendeten, war Zeldts Kabine stockdunkel. Der Raum war genauso prunkvoll wie schauerlich dekoriert: Eine komplette Wandseite wurde von Glasvitrinen eingenommen, in denen die einbalsamierten Köpfe getöteter Feinde zur Schau gestellt waren. Zeldt besaß Trophäen aus jedem Zeitalter. Es waren alte und junge Gesichter darunter, manche davon trugen noch ihre exotischen Kopfbedeckungen, und alle hatten sie den gleichen Ausdruck des Entsetzens in den Augen, für alle Zeiten konserviert in dem Moment, als sie kaltblütig hingerichtet worden waren.
Beinahe unsichtbar saß Zeldt an einem Schreibpult, auf dem eine Karte ausgebreitet lag. Neben ihm stand der Kapitän der Lindwurm und wartete auf letzte Befehle für die Reise.
Als Mina in Begleitung von zwei Wachen mit Jake und Topaz die Kabine betrat, blickte er nicht einmal auf. Mina trat neben ihren Herrn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kerzenschimmer erhellte sein blasses Gesicht, als er kaum merklich den Kopf drehte. Ohne erkennbare Gefühlsregung wandte er sich wieder dem Kapitän zu, überreichte ihm die Seekarte und schickte ihn hinaus. Er warf noch einen letzten Blick auf ein Stück Pergament auf dem Pult, dann erhob er sich endlich und schritt auf seine Gefangenen zu, bis er Jake Auge in Auge gegenüberstand.
Jake sprach als Erster. »Euer Plan scheint nicht aufgegangen zu sein«, sagte er provozierend.
Zeldt erwiderte nichts.
»Sieht ganz so aus, als würde die Renaissance stattfinden wie geplant«, ließ Jake nicht locker. »Eine die Welt so tief greifend zum Positiven verändernde Entwicklung lässt sich wohl doch nicht so leicht aufhalten, wie Ihr dachtet, verehrter Prinz.«
»Jake«, flüsterte Topaz, »mach es nicht noch schlimmer für dich.«
Es kam ein Klopfen von der Tür. Ein finster dreinblickender Matrose verkündete: »Fünf Minuten bis zum Horizontpunkt«, und verschwand.
»Für gewöhnlich bekommen nur würdige Gegenspieler einen Platz in meiner kleinen Sammlung«, sagte Zeldt ganz ruhig und deutete mit ausladender Geste auf seine Trophäensammlung. »Gegner von einer gewissen Verve und Intelligenz. Und obgleich du eine solche Ehre nicht verdienst, könnte es mir eine Zeit lang gefallen, dein banales Antlitz mit all deiner fehlgeleiteten Hoffnung darin zu sehen. Es wäre ein sehr passender Beleg für meinen unerschütterlichen Glauben, dass die Finsternis stets obsiegen wird.« Zeldt senkte seine Stimme und deutete auf die grausigen Überreste des Kopfes eines Aristokraten aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Dieser feine Herr dort hat, wie selbst dir auffallen dürfte, seine besten Tage bereits hinter sich – die französische ›Einbalsamierkunst‹ scheint mir doch einiges zu wünschen übrig zu lassen –, doch könntest du, wie ich meine, den Gentleman durchaus für eine Weile ersetzen.«
Mina lächelte boshaft, als Zeldt eine Schublade mit einem ganzen Arsenal von mit größter Handwerkskunst gefertigten Waffen öffnete. Er strich mit den Fingern über jedes einzelne Stück und entschied sich für eine Pistole.
»Dies hier ist ein intelligent gefertigtes Gerätchen. Wie du wahrscheinlich wissen wirst, können wir bedauerlicherweise keine echten Explosiva mit uns führen, doch diese kleine Waffe verschießt mittels Druckluft mit Schwefelsäure gefüllte Kügelchen. Sie werden ein hübsches Loch in deinen Schädel fressen und dann dein Gehirn verdampfen lassen.« Zeldt reichte Mina die Waffe. »Stellt sie auf maximalen Druck.«
Mina tat wie geheißen und überprüfte noch einmal den Abzug, bevor sie Zeldt die Pistole zurückgab.
Zeldt reichte die Waffe an Topaz weiter. Als die keine Anstalten machte, sie entgegenzunehmen, ergriff der Prinz ihre Hand und legte Topaz’ Finger um den Griff, ging hinüber zu einem schwarzen Diwan, der vor dem grauenhaften Schaukasten stand, und setzte sich mit überkreuzten Beinen.
»Bitte, erschießt ihn«, sagte er mit einer Seelenruhe, die Jake das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Non.« Topaz schüttelte den Kopf. »Vous êtes fou. Ihr müsst den Verstand verloren haben.«
»Aber, aber. Schmeicheleien werden Euch nicht helfen, das wisst Ihr doch, meine Liebe.«
Zeldt nickte Mina zu, sie packte Jakes linke Hand – die von dem Tau beinahe bis auf den Knochen durchgescheuert war – und bohrte ihren Dolch in die Wunde.
Jake schrie auf und krümmte sich vor Schmerz. Galle schoss seine Speiseröhre hinauf, und seine Finger zuckten unkontrolliert.
»Er wird ohnehin sterben. Wie viel Schmerz gedenkt Ihr, ihm bis dahin zuzumuten? Kommt schon, erschießt ihn«, wiederholte Zeldt.
Mina bohrte die Spitze ihrer Klinge noch weiter in Jakes zitternde Hand, bis sie eine Sehne gefunden hatte. Ihre Mundwinkel bogen sich vor Verzückung nach oben, als sie die Sehne beinahe durchtrennte.
Jake musste würgen. Ihm war übel vor Schmerz. Entfernt hörte er das bösartige Zischeln von Minas Schoßtier.
»Hört auf!«, schrie Topaz. Tränen schossen aus ihren Augen. »Ich werde es tun. Hört nur auf, ihm wehzutun, ich flehe Euch an!«
Zeldt blickte Jake mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das kleine Luder scheint dich wirklich ins Herz geschlossen zu haben. Nimm das als warme Erinnerung mit in dein feuchtes Grab. Und jetzt erschießt ihn.«
Mit zitternder Hand zielte Topaz auf Jakes Kopf.
Jakes Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den kalten Lauf an der Schläfe spürte. »T-Topaz?«, stotterte er.
»Es tut mir leid … Es tut mir so unendlich leid.« Ein Sturzbach von Tränen ergoss sich über ihre Wangen. »Aber die Folter wäre noch weit schlimmer für dich.« Mit diesen Worten krümmte sie den Finger um den Abzug.
Jake hörte auf zu atmen. Angst lähmte jeden Gedanken, und tausend Bilder schossen durch seinen Kopf, von seinen Eltern, seinem Bruder, seinem gesamten Leben – alles zog in Sekundenbruchteilen an ihm vorbei.
Zeldt richtete sich auf. Im flackernden Zwielicht war sein Gesicht kaum zu unterscheiden von den Trophäen in der Vitrine dahinter.
Topaz betätigte den Abzug, fuhr blitzschnell herum – und feuerte auf Zeldt. Die Schwefelpatrone zischte um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und schlug in der Glasvitrine ein, deren Frontscheibe in tausend Stücke zersprang.
Der Prinz blickte sich überrascht um, und ein Teil der Säure spritzte ihm ins Gesicht. Schreiend und blind vor Schmerz schlug er um sich, während der Kopf eines tapferen persischen Fürsten vom Regal kippte und mit einem nassen Klatschen auf den Boden schlug.
»Lauf!«, schrie Topaz Jake zu und trat Mina den Dolch aus der Hand.
Doch Jake war immer noch benommen vor Schmerz. Sein Kopf drehte sich. Er konnte die rettende Tür zwar sehen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht, und er blieb regungslos sitzen.
Mina ging zum Gegenangriff über, zog ihr Schwert und ließ es auf Topaz niedersausen. Die Klinge zerteilte Topaz’ Umhang von oben bis unten, doch sie selbst schien keinen Kratzer abbekommen zu haben.
Jake humpelte los. Es kostete ihn alle Kraft, Minas Dolch vom Boden aufzuheben und ihn Topaz zuzuwerfen.
Topaz pflückte ihn mit einer schnellen Bewegung aus der Luft und stieß damit nach ihrer Gegnerin, die mit ausgestrecktem Schwertarm auf sie zustürzte, während Topaz versuchte, sie mit dem kleinen Messer in Schach zu halten.
»Lauf!«, schrie sie erneut.
»Ich hätte dich töten sollen, als wir noch Kinder waren«, fauchte Mina. »Ohne dich wären wir alle besser dran gewesen, du verdorbene kleine Prinzessin!«
»Wenn du mir auch nur ein Haar krümmst«, gab Topaz verächtlich zurück, »wird dein geliebter Prinz dich in Stücke schneiden lassen.«
Zeldt, der immer noch nichts sehen konnte, hatte Topaz’ Worte gehört und hob gebieterisch die Hand. »Mina, leg das Schwert weg!«, polterte er. »Niemand tut ihr etwas an!«
Fassungslos lauschte Jake dem Wortwechsel, während er ein Stück Stoff von der Polsterung des Diwan riss und sich damit die zerschnittene Hand verband. Doch es half nichts mehr. Der sengende Schmerz raste seinen Arm hinauf, rollte über Jake hinweg und verschlang ihn wie ein gefräßiges Ungeheuer. Jake sank bewusstlos zu Boden.
Als Mina kurz zögerte, nutzte Topaz die Gelegenheit, packte eine der Kerzen und warf sie in die Pfütze dampfender Chemikalien, die sich aus der geborstenen Vitrine ergossen hatte. Flammen schossen empor und breiteten sich in alle Richtungen aus, leckten an dem Kopf des gefallenen persischen Kriegers und den Wänden der Kabine.
Da beschloss Mina, dieses eine Mal nicht zu gehorchen, und stieß ihr Schwert mit einem wilden Schrei in Richtung von Topaz’ Herz.
Topaz parierte mit dem Dolch, packte die Schlange an Minas Handgelenk und schleuderte sie ins Zentrum der lodernden Flammen.
Fauchend und zischend wand sich das Tier im Feuer.
»Nein, nein!«, kreischte Mina, stürzte auf die Flammen zu und griff mitten hinein.
»Wach auf, wach endlich auf!«, brüllte Topaz den bewusstlosen Jake an, aber er reagierte nicht.