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Die Diamanten rasten auf den Rand seines Gesichtsfelds zu, und die Farben blitzten mit unbeschreiblicher Intensität, als er schließlich ein Geräusch wie von einem Überschallknall hörte.
Und mit einem Mal war alles wieder normal. Jake befand sich wieder auf dem Deck, Tante Rose neben ihm, und lauter Jubel brach aus, als alle einander zu dem erfolgreich absolvierten Zeitsprung beglückwünschten.
Charlie drehte sich zu Jake um und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise«, sagte er. »Willkommen im Jahr 1820.«
6
DIE GESCHICHTE LEBT
Jake war vollkommen erschöpft von den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden, aber er war fest entschlossen, so lange wach zu bleiben, bis er einen handfesten Beweis dafür hatte, dass er sich tatsächlich in einem anderen Jahrhundert befand. So stand er reglos am Bug, und seine Lider wurden schwerer und schwerer.
Alle außer dem Kapitän waren unter Deck gegangen, um sich auszuruhen. Rose hatte noch eine ganze Weile mit ihm an der Reling ausgeharrt, doch als sie begonnen hatte, immer ausgiebiger zu gähnen, hatte Jake vorgeschlagen, sie solle es sich doch im Salon auf einem der Sofas neben dem prasselnden Feuer gemütlich machen. Rose hatte Jakes Anregung dankbar aufgegriffen und ihm noch eine Wolldecke gebracht, dann war sie mit den Worten »Wahrscheinlich kann ich sowieso nicht schlafen« unter Deck verschwunden. Kaum eine Minute später hatte Jake von unten ihr lautes Schnarchen gehört.
In die warme Decke gewickelt schaute Jake hinaus auf die wogende See und die flimmernden Lichter der Küste. Er dachte an seine Eltern, und eine eigenartige Mischung von Gefühlen rumorte dabei in seinem Innern. Natürlich machte er sich Sorgen, aber irgendwie fühlte er sich auch von ihnen verraten. Immerhin hatten sie ihn belogen, hatten behauptet, sie würden eine Messe für Sanitäreinrichtungen in Birmingham besuchen. Stattdessen waren sie nicht nur zu einer Reise quer durch England aufgebrochen, sondern sogar quer durch die Jahrhunderte.
Jake schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. »Bestimmt gibt es eine plausible Erklärung für alles«, sagte er laut zu sich selbst und widmete sich wieder dem grandiosen Anblick, der sich ihm bot. Seit dem Verschwinden seines Bruders hatte er auf schmerzvolle Weise gelernt, dunkle Gedanken rasch aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
Allmählich erstarb die kühle, erfrischende Brise, und binnen Minuten trat ein tropisch warmer Wind an ihre Stelle. Eine übermächtige Schläfrigkeit befiel Jake, und er setzte sich aufs Deck. Schon wenige Momente später lag er auf der Seite, seine Schultasche als Kissen unterm Kopf, und starrte weiter hinaus auf die See. Dann schlief er ein.
Etwa zur selben Zeit an diesem frühen Morgen des Jahres 1820 bewegte sich in der Nähe des normannischen Dorfes Verre eine maskierte Gestalt vorsichtig zwischen den in kunstvolle Formen geschnittenen Hecken eines weitläufigen Barockgartens, in dessen Mitte ein imposantes Château thronte. Irgendwo zwischen den Schatten blieb die Gestalt schließlich stehen und beobachtete aus der Deckung heraus das Gebäude.
Ein Wächter mit einer Laterne patrouillierte auf dem Grundstück. Der Maskenmann wartete, bis die Wache um eine Ecke herum verschwunden war, dann schlich er über die Wiese auf das Château zu und kletterte an den kräftigen Ästen des Blauregens hinauf zu einem Fenster im ersten Stock. In dem Zimmer ging ein Mädchen nervös auf und ab. Der Eindringling drückte das Fenster auf, sprang über das Sims und riss sich die Maske vom Gesicht.
»Nathan! Gott sei’s gedankt. Ich glaubte schon, du würdest es nicht mehr schaffen!«, rief das junge Mädchen und überschüttete ihn mit Küssen.
Doch Nathan reagierte nicht. Er war daran gewöhnt, dass junge Damen in dieser Weise auf ihn reagierten. Er war sechzehn Jahre alt, hatte einen athletischen Körperbau und ein souveränes Funkeln in den Augen – mit anderen Worten: Er sah einfach umwerfend aus. Außerdem war er stets nach der neuesten Mode gekleidet.
Nathan blickte sich in dem überreich mit Goldtapeten und fliederfarbenen Seidengirlanden geschmückten Schlafzimmer um. »Hoppla«, sagte er mit einem melodischen, amerikanischen Akzent. »Etwas überladen, finde ich. Isabella, dein zukünftiger Gemahl scheint Geld mit Geschmack zu verwechseln.«
»Er wird niemals mein Gemahl sein! Wenn ich morgen nicht mit ihm vor den Traualtar trete, so sagte er, würde er mich zwingen – nötigenfalls mit vorgehaltener Waffe! Und sieh nur, dieses schreckliche Kleid, das ich vor dem Altar tragen soll!« Isabella reckte angewidert das Kinn in Richtung einer Ankleidepuppe, auf die ein wallendes Hochzeitsgewand drapiert war.
»Dieser Mann ist doch wirklich ein Monster!«, rief Nathan erschüttert. »Weiß er denn nicht, dass die Chemisette schon seit Noahs Zeiten nicht mehr in Mode ist?! Wir müssen dich unbedingt von hier wegschaffen.«
Lautlos kletterte er wieder nach unten und hielt dabei die atemlose Isabella auf einem Arm, als würde sie nicht mehr wiegen als die Blätter des Blauregens, an dem er sich festhielt.
»Ich möchte einen Mann wie dich heiraten, Nathan, der stark ist und ein Held«, seufzte sie.
»Isabella, Schatz, haben wir dieses Thema nicht schon oft genug besprochen? Ich wäre ein schrecklicher Ehemann. Ich mag ja unwiderstehlich sein, aber ich bin ebenso unzuverlässig, unreif – einfach zum Aus-der-Haut-Fahren. Es wäre die reinste Verschwendung.« Mit diesen Worten setzte er sie auf der weichen Erde ab. »Wir müssen schnell machen. Hier wimmelt es nur so von Wachen.«
Wenige Minuten später eilten sie quer über die Koppel auf Nathans Pferd zu, das am Waldrand wartete, als plötzlich eine Stimme aus dem Dickicht brach. »Meine Vorahnung hat mich also nicht getäuscht«, brummte sie in einem ländlichen Dialekt. »Gehorsam ist immer noch ein Fremdwort für dich.«
Isabella erzitterte, als ein fettleibiger, rotgesichtiger Adliger zwischen den Bäumen hervortrat und alles andere als erfreut aussah. Begleitet wurde er von einer grimmig dreinschauenden Wache, die das Pferd ihres Herrn an den Zügeln hielt. »Weshalb ich entsprechende Vorkehrungen getroffen habe.«
»Ah, mein lieber Chevalier Boucicault!«, begrüßte Nathan ihn, ohne das geringste Anzeichen von Nervosität zu zeigen. »Welch glücklicher Zufall, Euch hier anzutreffen. Eure Vorahnung hat sich voll und ganz bestätigt: Signorina Montefiore hat in der Tat Bedenken bezüglich ihrer bevorstehenden Heirat. Sie nimmt Anstoß an Eurem Benehmen, ganz zu schweigen von Eurer Kleidergröße.«
Der Chevalier streckte eine Hand aus, und der Wächter legte eine Pistole hinein. »Très amusant«, erwiderte er höhnisch und überprüfte, ob die Waffe korrekt geladen war.
»Und da wir gerade beim Thema sind – sosehr ich Eure Bemühungen, Eure Garderobe betreffend, auch zu schätzen weiß«, sprach Nathan ungerührt weiter und deutete auf die Weste des Chevalier, »muss ich doch darauf hinweisen, dass auch diese Streifen Euch nicht helfen werden. Sie sind sogar überaus nutzlos bei einem Körperbau wie dem Euren.«
Isabella riss die Augen weit auf, als der Chevalier den Hahn seiner Pistole spannte und den Lauf auf Nathans Kopf richtete.
Der Junge reagierte so schnell, dass seine Bewegungen kaum zu sehen waren: Wie aus dem Nichts schoss sein Rapier nach vorn, Funken flogen auf, die Pistole entglitt dem Griff des Chevalier, wirbelte durch die Luft und landete direkt in Nathans Hand.
»Verschwinden wir!«, rief er Isabella zu, sprang auf seine imposante schwarze Stute und zog Isabella mit einer Hand hinter sich in den Sattel.
»Arrêtez! Voleur!«, schrie der Chevalier hinter ihnen her, während sie über die Wiese davonpreschten, und er schaffte es in erstaunlich kurzer Zeit, sein eigenes Reittier zu besteigen, um sofort die Verfolgung aufzunehmen.
»Halt dich gut fest!«, riet Nathan seiner Begleiterin, während sie auf einem schmalen Pfad hinein in den dichten Nadelwald galoppierten.
»Vorsicht, Nathan!«, schrie Isabella, als direkt vor ihnen ein dicker Ast im morgendlichen Nebel auftauchte.
Nathan feuerte die Pistole des Chevalier ab, und der ungebärdige Ast zerbarst in tausend Splitter. Mit höchstmöglicher Geschwindigkeit hasteten sie weiter, während Nathan die nun wertlos gewordene Pistole von sich schleuderte.
Der rotköpfige Chevalier schlug unterdessen so lange mit der Reitgerte auf sein Pferd ein, bis er endlich gleichauf mit den Flüchtigen war.
Nathan zog erneut sein Rapier, begutachtete in der auf Hochglanz polierten Klinge noch kurz seine weißen Zähne, und richtete dann die Waffe auf den Chevalier. In wildem Galopp kreuzten die beiden ihre Degen, die in der frühmorgendlichen Sonne funkelten und blitzten, während Isabella keuchend nach Luft schnappte und sich eine Hand vors Gesicht hielt, um ihren Kopf vor den Ästen der vorbeirasenden Bäume zu schützen.
»Ich muss Euch warnen!«, rief Nathan seinem Gegner zu. »Meine letzte Niederlage in einem Duell datiert auf das Jahr 1812. Damals war ich acht, und mein Gegner war der Chevalier d’Éon, den nicht wenige für den größten Fechter aller Zeiten halten. Eure Chancen stehen also nicht allzu gut, mein Freund.« Und noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, führte er den ersten Stoß.
Boucicaults Oberkörper kippte zur Seite, und es ertönte ein lauter Knall, als sein Kopf gegen einen dicken Kiefernast krachte. Der Chevalier segelte in hohem Bogen durch die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall auf seinem Hinterteil.
»Adieu, mon ami!«, rief Nathan ihm nach und steckte sein Rapier zurück in die Scheide. »Und lasst es Euch noch einmal gesagt sein: Wir schreiben das Jahr 1820! Ein gepflegtes Äußeres ist nicht länger nur ratsam, sondern eine absolute Notwendigkeit.«
Auf einer Klippe hoch über dem Meer, wo ein Einheimischer ihn und seine Begleiterin bereits mit einer Kutsche erwartete, brachte Nathan etwa eine halbe Stunde später seine Stute zum Stehen. Nathan stieg ab, half Isabella aus dem Sattel und lief hinüber zu dem Kutscher, mit dem er sich kurz in gebrochenem Französisch unterhielt. Schließlich überreichte er ihm die Zügel seines Pferdes sowie eine Handvoll Goldmünzen und kehrte zu Isabella zurück.
»Das hier ist Jacques. Er wird dich zurück nach Mailand bringen, zu deiner Familie. Dies ist also der Moment des Abschieds, wie es so schön heißt.«
»Aber Nathan«, flehte Isabella mit Tränen in den Augen. »Weshalb nur? Ich verstehe das nicht! Kann ich nicht mit dir kommen?«
»Nein, das kannst du nicht. Ich bedaure.« Sein weicher Charleston-Dialekt war jetzt noch deutlicher zu hören. »In einer Stunde muss ich zur Arbeit.«
»Ja, ich weiß, dein alberner Beruf«, schmollte Isabella. »Um was geht es dabei eigentlich, bei diesem … deinem großen Geheimnis?«
Nathan atmete einmal tief durch und beschloss, nicht zu antworten. Stattdessen küsste er Isabella auf die Stirn. »Du wirst schneller über mich hinwegkommen, als du glaubst«, sagte er, nicht ohne einen Anflug von Traurigkeit in der Stimme.
»Aber Nathan«, erwiderte Isabella, »ich liebe dich!«
»Und ich liebe das Abenteuer!«, gab er zurück, drehte sich um und rannte auf den Rand der Klippe zu, wo er sich mit weit ausgebreiteten Armen in den Abgrund stürzte.
Isabella schaute ihm verdutzt hinterher. Tränen glitzerten auf ihren Wangen, während Nathan mit kräftigen Zügen hinaus in den Nebel schwamm.
Jake erwachte, als ihm der Duft von frischgebackenem Teig in die Nase stieg. Der Horizont verfärbte sich bereits mit den tiefen Blau-und Rosatönen der Morgendämmerung. Neben sich erblickte Jake einen Teller mit dampfenden Croissants.
»Am liebsten würde man sterben, nicht wahr?«, sagte eine Stimme hinter ihm. Es war Charlie, der mit einem Teleskopfernrohr hinaus aufs Meer schaute. »Selbst wenn man gut drauf ist, beschert einem das Atomium einen Kater, der sich gewaschen hat, aber das erste Mal ist der reinste Albtraum. Nimm dir was von dem Orangensaft«, schlug er vor und deutete auf ein Porzellankännchen neben dem Teller. »Und vergiss die Croissants nicht. Die Füllung ist ein Gedicht und außerdem leicht wie Luft.«