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New York City, Samstag, 16. September, 199-, 9 Uhr.
Dr. Jonas Freibourg ist bei seinem Experiment mit Elektrolyten, gewissen Schimmelpilzen und menschlichen Zellen an einem besonders delikaten Punkt angelangt. Außerdem muß er auf das Baby Leonard aufpassen, da seine Frau Dilys einen Kochkursus besucht. Dr. Freibourg ist mit seinem Söhnchen von New Jersey nach New York gefahren, und nun sitzt Leonard auf einer rosa Decke in einer Ecke des Laboratoriums. Das vierzehn Monate alte Baby wurde mit einer Keksschachtel und ein paar Plastikrasseln versorgt und soll nun möglichst ruhig spielen, während Daddy arbeitet.
9 Uhr 20.
Leonard hat die Kekse aufgegessen, und die Rasseln interessieren ihn nicht mehr. Er verläßt die Decke und kriecht auf dem Boden des Laboratoriums umher. Statt sich auf allen vieren vorwärtszubewegen, zieht er sich mit den Armen nach vorn, verlagert das Gewicht auf die Hände und nimmt eine halb sitzende Position ein.
9 Uhr 30.
Dr. Freibourg schabt die unbefriedigende Kultur aus dem Behälter. Er merkt nicht, daß ein Teil der Masse nicht in den dafür vorgesehenen Mülleimer, sondern daneben fällt.
9 Uhr 30 1/2.
Leonard findet die Teile, die neben dem Abfalleimer gelandet sind und steckt sie wie jedes aufgeweckte Baby, das unbekannte Objekte erforscht, in den Mund.
9 Uhr 31.
Auf dem Rückweg vom Dampfkochtopf tritt Dr. Freibourg auf das Baby. Leonard schreit, und Dr. Freibourg hebt ihn hoch.
»Was ist denn, Lenny? Was hast du denn? Oh, was hast du denn da im Mund?«
Irgend etwas knirscht.
»Spuck das aus, Lenny. Mach schön Aaaaaaa. Aaaaaa…«
Das Baby imitiert seinen Vater. »Aaaaaaa…«
»Du bist aber ein guter Junge. Komm, spuck es Daddy in die Hand. Ja, du bist ein sehr guter Junge. Wunderbar.« Dr. Freibourg kratzt die Reste der Kultur von der Babyzunge. »Ach, das sind ja nur Kekse. Willst du noch eine Schachtel?«
»Ggggg. Nnnn. Kkkkk…« Das Baby hat den Großteil der braunen Masse geschluckt, faßt nach der Nase seines Vaters und versucht, sie in den Mund zu stecken.
Dr. Freibourg verzichtet darauf, weiter an seinen Experimenten zu arbeiten. Er verfrachtet Leonard im Kinderwagen und schiebt ihn durch die Halle zum Aufzug. Sie fahren nach unten. Obwohl das Laboratorium nur einen Häuserblock vom Riverside Park entfernt liegt, will Dr. Freibourg den schönen Tag ausnützen. Und so geht er ein paar Blocks weiter, um sich zu den anderen Eltern und Babies zu gesellen, die den Sonnenschein auf den Bänken des Central Parks genießen.
10 Uhr 15.
Die Freibourgs kommen im Park an. Dr. Freibourg hat einige Schwierigkeiten, als er Leonard aus dem Wagen hebt, merkt aber noch nichts. Er setzt das Baby ins Gras. Leonard packt einen weggeworfenen Tennisball, und es gelingt ihm fast, ihn in den Mund zu stecken.
10 Uhr 31.
Leonard hat sich deutlich vergrößert. Die Kleider werden ihm zu eng, das T-Shirt, die Strickjacke, die Strampelhose. Aber wenn man nur flüchtig hinsieht, merkt man nichts. Sein Vater ist in ein angeregtes Gespräch mit einer hübschen geschiedenen Frau vertieft, die zwei Zwillingspudel besitzt. Ab und zu wirft er einen Blick zu Leonard und stellt zufrieden fest, daß es dem Baby gutgeht.
10 Uhr 35. Leonard entdeckt etwas Helles im Gebüsch auf der anderen Seite der Lichtung. Er kriecht hinüber, um sich das glänzende Ding näher anzusehen. Ein Sonnenstrahl spiegelt sich im Schutzblech eines davonrollenden Fahrrads, und weil sich das Rad immer weiter entfernt, muß auch Leonard weiterkriechen.
10 Uhr 37.
Leonard ist verschwunden. Vielleicht ist das gut so, denn sein Vater würde sicher erschrecken, wenn er das ständig wachsende rosa Fleisch unter dem platzenden T-Shirt und der bereits gerissenen Strampelhose sehen könnte.
10 Uhr 50.
Dr. Freibourg unterbricht seine Unterhaltung mit der geschiedenen jungen Frau, blickt sich nach Leonard um und entdeckt, daß das Baby verschwunden ist. Er ruft: »Lennie! Lennie!«
10 Uhr 51.
Leonard kommt nicht.
10 Uhr 52.
Dr. Freibourg entschuldigt sich bei seiner Gesprächspartnerin und macht sich auf die Suche nach Leonard.
11 Uhr 52.
Nachdem Dr. Freibourg eine Stunde lang vergeblich nach seinem Sohn gesucht hat, kommt er zu dem Schluß, daß Leonard nicht einfach davongekrabbelt sein kann. Er muß entführt worden sein. Dr. Freibourg bittet die Parkpolizei um Hilfe.
13 Uhr.
Leonard ist immer noch verschwunden.
In einem anderen Teil des Parks geht ein kleiner Gangster zu seiner Lieblingswiese. Er sieht etwas großes, rosa Schimmerndes darauf sitzen. Es füllt beinahe die Hälfte der kleinen Lichtung aus, Bevor er davonlaufen kann, richtet sich das rosa Ding auf, packt einen Tannenzweig, um sich daran festzuhalten, stolpert, fällt um und setzt sich auf den Mann.
13 Uhr 45.
Unerklärliche Geräusche im Wald erschrecken ein Liebespaar, das Geräusch laut knackender Zweige, ein dumpfes Dröhnen, begleitet von einem gellenden, unverständlichen Gebrabbel. Das Liebespaar ergreift die Flucht, als das Ding näherkommt, erzählt atemlos einem ungläubigen Polizisten, was es erlebt hat. Der Beamte hält die beiden fest, bis ein Krankenwagen kommt, der sie ins Bellevue-Hospital bringt.
Als eine Familie einen ohrenbetäubenden Lärm hört, den sie für Donnergrollen hält, kehrt sie zu ihrem Picknick-Platz zurück und entdeckt, daß alle Teller mitsamt dem Essen verschwunden sind. Sie nehmen an, daß ein Dieb mit einem Fahrrad am Werk war, und sind sehr erstaunt, als sie am Tatort einen rosa Fetzen finden – einen Streifen von einem Babyhemd, völlig zerdehnt, als sei es von einer wütenden, kräftigen Faust zerrissen worden.
14 Uhr.
Die Parkpolizei wird von zusätzlichen Einheiten verstärkt, die nun ebenfalls die Fahndung nach Leonard Freibourg, vierzehn Monate alt, aufnehmen. Inzwischen ist auch die Mutter des Babies eingetroffen. Nachdem sie ihrem Mann heftige Vorwürfe gemacht hat, läßt sie ihn stehen, um der Polizei nützliche Einzelheiten mitzuteilen. Auf das rosa T-Shirt war ein Segelboot aufgedruckt und auf die Strampelhose ein kleines Hündchen. Die Fahndung wird durch die Tatsache kompliziert, daß die Polizei nicht weiß, wie sehr sich das Baby verändert hat. Die Beamten wissen nicht, daß das Baby, nach dem sie suchen, keineswegs das Baby ist, das sie finden werden.
16 Uhr 45.
Leonard ist hungrig. Beflügelt von seiner Abenteuerlust, ist er bis jetzt glücklich und zufrieden gewesen und hat mit einem entlaufenen Neufundländer gespielt, der, in den neuen Relationen betrachtet, ungefähr so groß war wie sein Lieblingsstoffhund zu Hause. Nun hat der Neufundländer seine letzten Kräfte mobilisiert, um sich davonzustehlen, und Leonard erinnert sich, daß er hungrig ist. Was noch schlimmer ist, seine Laune verschlechtert sich, da er sein Mittagsschläfchen versäumt hat. Er beginnt zu wimmern.
16 Uhr 45 und eine Sekunde.
Dilys Freibourg hört das Wimmern und erklärt mit der unerschütterlichen Bestimmtheit einer Mutter: »Das ist Leonard.«
Als die Polizisten das Geräusch hören, ziehen sie ihre Regenmäntel an. Einer legt den Finger auf den Boden, um zu fühlen, ob die Erde vibriert. Ein anderer sagt: »Wenn ich Sie wäre, würde ich meinen Regenschirm aufspannen, Lady. Bald wird ein teuflisches Gewitter losgehen.«
»Was für ein Unsinn!« sagte Mrs. Freibourg. »Das ist doch nur Leonard. Ich weiß, daß er hier irgendwo steckt.« Sie ruft: »Leonard, komm zu Mummy!«
»Ich weiß nicht, was das ist, Lady, aber wie ein Baby hört es sich nicht an.«
»Wollen Sie etwas behaupten, daß ich mein eigenes Kind nicht kenne?« Sie greift nach einem Sprachrohr und hält es an die Lippen. »Leonard, ich bin’s, Mummy! Leonard – Leonard…«
Leonard hört ihre Stimme.
17 Uhr.
Aus einem Hubschrauber der Polizei wird gemeldet, daß sich in einer abgelegenen Ecke des Central Park ein seltsamer heller Schatten bewegt. Weil der Schatten ziemlich groß ist, bringt ihn niemand in dem Hubschrauber mit dem vermißten Freibourg-Baby in Verbindung. Während der aufgeregte Berichterstatter den hellen Schatten per Sprechfunk schildert und die Männer im Kontrollraum grinsen, weil sie das für einen dummen Witz halten, setzt sich die helle Masse in Richtung Parkmitte in Bewegung.
17 Uhr 10.
In der Umgebung des Hauptspielplatzes entsichern die Polizisten ihre Waffen, als der Lärm knackender Zweige die Luft erfüllt und die Erde zu beben beginnt. Irgend etwas Großes scheint immer näher zu kommen. In den Polizeistationen rings um den Central Park laufen die Telefondrähte heiß, denn die Anwohner, deren Appartments oberhalb der Baumwipfel liegen, haben von ihren Fenstern aus etwas Merkwürdiges gesehen.
17 Uhr 11.
Die Polizisten werfen sich bäuchlings auf den Boden und bringen die Waffen in Anschlag. Die Freibourgs klammern sich aufgeregt aneinander. Ein gräßlicher Gestank liegt über dem Park, ein Geräusch wie von einer Sturmbö klingt auf, und dann betritt eine große Gestalt die Lichtung, die Fäuste voller Äste und Zweige, und gluckst vor Freude.
Die Polizisten treffen Anstalten, das Feuer zu eröffnen.
Mrs. Freibourg läuft vor ihnen auf und ab, um die riesenhafte Kreatur mit ihrem schmalen Körper zu schützen.
»Hört auf, ihr Unmenschen! Das ist mein Baby!«
»Ja, das ist mein Sohn Leonard«, sagt Dr. Freibourg. Und im gleichen Augenblick wird seine Freude von Schuldgefühlen und Verzweiflung verdrängt. »O Gott, die Kultur! Die Beta-Kultur! Und ich dachte, er hätte Kekse gegessen.«
Obwohl Leonard auf dem Weg zu seinen Eltern viele Bäume gefällt und zahllose Autos beschädigt hat, mit Mummy und Daddy geht er sehr sanft um.
»Mmmmmmmmmm«, sagte er und hebt erst seine Mutter auf und dann seinen Vater. Die Familie Freibourg umarmt sich, so gut es unter diesen Umständen geht. Leonard fixiert seinen Vater mit einem eindringlichen, schielenden Blick, den seine Mutter nur zu gut kennt.
»Nein, nein!« sagte sie scharf. »Stell Daddy auf den Boden!«
Leonard stellt seinen Vater ins Gras. Dann packt er einen Polizeisergeanten, mustert ihn interessiert und steckt seinen Kopf in den Mund. Weil Leonard noch nicht viele Zähne hat, übersteht der Sergeant die Prozedur körperlich unversehrt, aber er brüllt und zittert vor Angst.
»Stell ihn sofort runter!« befiehlt Mrs. Freibourg. Dann wendet sie sich an einen Lieutenant. »Holen Sie ihm was zu essen, und dann müssen wir irgendeine Möglichkeit finden, ihn zu wickeln.« Sie zeigt auf eine braune Masse, die an Leonards Fußgelenk hängt und den schrecklichen Gestank verbreitet. Vorwurfsvoll dreht sie sich zu ihrem Mann um. »Du hast ihn nicht einmal gewickelt. Was hast du ihm denn noch alles angetan, als du mit ihm allein warst?«
»Die Beta-Kultur«, sagte Dr. Freibourg unglücklich. Er ist blaß, und seine Lippen beben. »Sie funktioniert.«
»Dann mach das wieder rückgängig, und zwar möglichst bald.«
»Natürlich, mein Liebes«, sagte Dr. Freibourg, und seine Stimme klingt zuversichtlicher, als ihm zumute ist. Er geht zu dem Polizeiauto, das darauf wartet, ihn zum Laboratorium zu fahren. »Ich werde die ganze Nacht durcharbeiten, wenn es sein muß.«
Die Mutter sieht abschätzend zu Leonard hinauf. »Wahrscheinlich wirst du eine ganze Woche brauchen.«
Inzwischen ist ein Lastwagen mit Leonards Abendessen angekommen, ein zweiter hat große Watteballen zum Central-Park transportiert, die als Windel dienen sollen. Die Feuerwehr ist angerückt, um Leonard mit ihren Schläuchen abzuwaschen. Mit einer Zeltplane wird er notdürftig bekleidet, nachdem man ihn mit vereinten Kräften gewickelt hat. Eine Baufirma hat einen Bretterzaun geliefert, aus dem ein provisorisches Gitterbett gebaut wird. »Malen Sie eine Ente drauf«, sagte Mrs. Freibourg zu den Männern. »Ich will, daß er glücklich ist.«
Leonard drückt das lebensgroße Steiff-Nashorn an sich, das die Firma Schwartz zur Verfügung gestellt hat, und schläft ein.
Seine Mutter hält bis Mitternacht neben dem Gitterbett Wache für den Fall, daß Leonard aufwacht und weint. Dr. Freibourg hat die fähigsten Wissenschaftler New Yorks in sein Laboratorium geholt. Gemeinsam versuchen sie, ein Mittel zu finden, das der Beta-Kultur entgegenwirkt.
Alle größeren Fernsehgesellschaften haben Kamera-Teams in den Central-Park geschickt, um ihr Publikum aus erster Hand informieren zu können.
Die bewaffneten Polizeieinheiten haben sich aus der näheren Umgebung des Gitterbetts zurückgezogen, da Mrs. Freibourg mit Nachdruck darauf bestanden hat. Die Stimmung im Park ist ruhig und zuversichtlich. Trotz der Lichter und der lauten, schweren Atemzüge des Babys wird Mrs. Freibourg immer wieder von Müdigkeit überwältigt und nickt ein. Ein paarmal fährt sie erschrocken aus ihrem unglücklichen Schlummer auf. Aber nach Mitternacht schläft sie endgültig ein.
5 Uhr.
Unglücklicherweise ist Leonard wie die meisten Babies ein Frühaufsteher. Er verläßt sein Gitterbett, überquert die 79th Street und watschelt zum Fluß. Obwohl die Leute im Park erwachen, als das Gitterbett krachend auseinanderbricht und ein Lastwagen zufällig umstürzt, den Leonard sorgfältig wieder aufstellt, ist es zu spät, um ihn aufzuhalten. Mit seinen Riesenschritten hat er den Park in Sekundenschnelle verlassen. Über Nacht ist er noch gewachsen, und es erhebt sich die Frage, ob er in ein paar Stunden noch zwischen die Häuser der East 79th Street passen wird.
5 Uhr 10.
Leonard demoliert einen Teil des East River Drive, als er ins Wasser stapft. Er packt ein Taxi, schiebt es auf dem Rest der Straße hin und her und brüllt: »Rmmmmmmmm, Rmmmmmmm, Rmmmmmmmmm, Rmmmmmmmmm!«
5 Uhr 11.
Leonards Mutter trifft am Flußufer ein. Es gelingt ihr nicht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, denn er platscht mit beiden Händen ins Wasser, daß die Boote meilenweit nach allen Seiten fliegen.
Dr. Freibourg ist es inzwischen geglückt, eine Katze um die Hälfte zu verkleinern, aber es gibt keinen Weg, die Dosis zu vervielfachen, ohne alle Laboratorien der Nation zu plündern. Er ist verzweifelt, denn er weiß, daß er dazu keine Zeit hat.
5 Uhr 15.
Da es keine andere Möglichkeit gibt, das Nahrungsproblem zu lösen, versucht die Feuerwehr mit ihren Schläuchen Milch in Leonards Mund zu spritzen, wobei die Hälfte danebengeht. Darüber ist er wütend und beginnt mit seinen Spielsachen um sich zu werfen.
Die National Guard, die gerufen wurde, als Leonard zum Fluß hinunterwatschelte, versucht das Kind mit leichter Artillerie in Schach zu halten.
Natürlich beginnt das Baby zu weinen.
5 Uhr 30.
Trotz der Bemühungen seiner Mutter, ihn mittels Sprachrohr zum Schweigen zu bringen, trotz des Steiff-Nashorns, das mit einem Kran zu ihm hinaufgehoben wird, brüllt Leonard noch immer.
Die obersten Polizeibeamten treffen ein und versuchen an Ort und Stelle eine Lösung des Problems zu finden. Leonard füllt bereits das ganze Flußbett aus, und seine Tränen haben den Wasserspiegel gehoben. Es besteht die Gefahr, daß der FDR Drive überschwemmt wird. Nachdem die Platte »Chitty Chitty Bang Bang« in mehreren Lautsprecherwagen am Flußufer abgespielt worden ist, läßt Leonards Gebrüll nach, und die Gefahr, daß die Gebäude in der Umgebung infolge der Erderschütterungen zusammenbrechen, ist vorerst gebannt. Doch die Schiffahrt hat nach wie vor beträchtliche Probleme, da Leonard mit Schleppkähnen und Hausbooten spielt und sich, wie alle Babies in seinem Alter, nie lange auf ein Spielzeug konzentrieren kann. Wenn ihn die Spielsachen langweilen, wirft er sie einfach in den Hafen, was katastrophale Folgen hat. Nun nimmt er den oberen Teil eines Gebäudes in die Hand und untersucht seinen Inhalt. Er sucht sich einzelne Teile heraus, die seinen Appetit anregen, und verschluckt sie. Nach einer kurzen Debatte kommen die Polizeichefs zu der Überzeugung, daß der Einsatz von Nuklearwaffen in begrenzter Form erforderlich ist. Ein Betäubungsgeschütz wäre wegen des Größenproblems wirkungslos und auch eine massive Dosis von Giften würde nicht den gewünschten Erfolg erzielen. Die verzweifelte Mutter hat einen Teil der Diskussion mitangehört und tritt nun im Fernsehen auf, um einen Appell an die ganze Nation zu richten. Frauenvereine aus der ganzen Stadt rücken an und drohen mit massiven Vergeltungsmaßnahmen, wenn dem Baby auch nur ein Haar gekrümmt wird.
Nun wird das Problem der Wasserverunreinigung akut.
Die UN tagt rund um die Uhr.
Die Regierungschefs aller größerer Staaten haben Telegramme geschickt, um ihre Besorgnis auszudrücken und vorsichtige Hilfsangebote zu unterbreiten.
6 Uhr 30.
Leonard hat das letzte Stückchen von seinem Wolkenkratzer verzehrt, hat keine Lust mehr, mit Schiffen zu werfen, und langweilt sich. Als die Panzerwagen die East 79th Street herabrumpeln und ihre Geschütze richten, als die SAC- Bomben aus dem geheimen Waffenlager geholt werden, richtet sich das Baby auf und watet ins Meer hinaus.
6 Uhr 34.
Das Baby hat das tiefe Wasser erreicht. SAC-Flieger berichten, daß Leonard glücklich auf den Wellen dahintreibt. Er geht nicht unter, weil er so fett ist. Zum Frühstück hat er einen Wal verzehrt.
Dr. Freibourg trifft am Schauplatz des Geschehens ein. »Ich habe das Gegenmittel gefunden, und ich habe auch eine ausreichende Dosis zur Verfügung.«
»Es wäre immer noch zu wenig«, sagt Dilys Freibourg, »und es ist auch zu spät.«
»Aber unser Baby…«
»Er ist kein Baby mehr. Begriffe wie Alter und Zeit spielen in seinem Fall keine Rolle.«
Die Polizeichefs diskutieren über verschiedene Möglichkeiten.
»Wir sollten uns um ihn kümmern.«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, sagte Mrs. Freibourg.
Der Oberste Befehlshaber sieht die Mutter und dann seine Untergebenen an. »Jetzt ist er ohnehin schon in internationalen Gewässern.«
Die Beamten wechseln erleichterte Blicke.
»Dann ist das ja nicht mehr unser Problem.«
Dr. Freibourg blickt schuldbewußt aufs Meer hinaus. »Ich frage mich nur, was aus ihm werden wird.«
»Wohin immer er auch geht, mein Herz wird mit ihm gehen«, sagt seine Frau. »Aber ich habe Angst, daß das viele Salzwasser seiner Haut schaden wird.«
Jared Kirth entdeckte den Meteor, als er unter den Fichten lag und zu den Sternen aufblickte. Er war schläfrig, und der Schlafsack, der seinen schlanken Körper umhüllte, war weich und warm.
Kirth war sehr zufrieden mit sich selbst. Zum Abendessen hatte er sich eine Forelle gefangen, und er hatte noch eine Woche Ferien. Und so lag er reglos unter den Fichten, beobachtete den Nachthimmel, und der Meteor glitt in einem weißglühenden Bogen durch die Atmosphäre.
Aber bevor er aus Kirths Blickfeld verschwand, schien sich der schimmernde Himmelskörper zu drehen. Das war seltsam – und noch seltsamer war die Form des Dings: ein langgestrecktes Ei. Kirth erinnerte sich vage, daß Meteore manchmal wertvolle Erze enthalten, und er prägte sich die Stelle ein, wo der flammende Blitz hinter einem Bergrücken verschwunden war. Am nächsten Morgen packte er seine Anglerausrüstung zusammen und machte sich auf den Weg in jene Richtung.
Nach einer Stunde fand er das Wrack des Raumschiffs. Es lag zwischen hohen Fichten, ein zerbrochener Riese. Infolge der Hitzeentwicklung bei der Luftreibung war der Rumpf an vielen Stellen geschmolzen.
Kirths schmale Lippen preßten sich zusammen, als er auf das Raumschiff blickte. Er erinnerte sich, daß vor zwei Monaten ein Mann namens Jay Arden die Erde verlassen hatte und zum ersten interplanetarischen Flug aufgebrochen war.
Arden war im Weltraum verschwunden. Das hatten die Zeitungen berichtet. Aber nun war sein Raumschiff offensichtlich zur Erde zurückgekehrt. Kirths mageres, von grauen Bartstoppeln bedecktes Gesicht verzerrte sich vor Aufregung, als er in die Senke hinablief, in der das Wrack lag. Er ging um das Raumschiff herum, stolperte über Felsbrocken und fluchte ein paarmal, bis er die Einstiegsluke fand. Das Metall ringsum war geschmolzen, und er konnte die Luke nicht öffnen. Die graue Masse widerstand auch seinen Axthieben. Kirths Neugier wuchs.
Er begann das Wrack genauer zu inspizieren. Die Sonne, die nun über der östlichen Bergkette aufging, enthüllte ihm einen Faktor, den er bisher übersehen hatte. Das Raumschiff hatte auch Fenster, runde Oberlichter, die durch den Schmelzvorgang so verformt waren, daß sie nun genauso undurchsichtig waren wie das graue Metall. Aber sie waren unverkennbar aus Glas oder aus einem ähnlichen Material.
Es war kein gewöhnliches Glas. Es zerbrach nicht unter Kirths Axthieben. Aber ein kleiner Splitter löste sich, und Kirth hämmerte weiterhin auf das undurchsichtige Material ein, bis ein kleines Loch entstanden war. Dämpfe entwichen aus dem Loch, übelriechende Dämpfe. Kirth trat ein paar Schritte zurück und wartete.
Dann nahm er seine Arbeit wieder auf. Aus irgendeinem Grund ließ sich das Glas nun leichter zerbrechen. Es dauerte nicht lange, bis Kirth ein Loch hineingeschlagen hatte, das so groß war, daß er seinen schmalen Körper hindurchzwängen konnte. Als er im Inneren des Raumschiffs angelangt war, zog er seine kleine Taschenlampe aus dem Hosenbund und ließ den Lichtstrahl umherwandern.
Das Schiff hatte nur einen einzigen Innenraum, der sich in einem chaotischen Zustand befand. Zahllose Wrackteile lagen auf dem Boden verstreut. Aber die stinkenden Dämpfe waren entwichen, und nirgends waren Anzeichen einer Gefahr zu erkennen.
So sah also ein Raumschiff von innen aus. Kirth erkannte den Raum nach den Zeitungsfotos wieder, die er vor ein paar Monaten gesehen hatte. Ende 1982 war das Schiff neu und vollkommen gewesen, ein schöner Vogel aus glänzendem Metall. Und nun war es ein häßliches Wrack. Die Kontrollvorrichtungen waren hoffnungslos zerstört. Metalleimer und Kanister lagen auf dem Boden umher, die abgebrochenen Haken an den Wänden verrieten, wo sie gehangen hatten. Und zwischen all den Trümmern lag auch die Leiche Jay Ardens.
Kirth nahm eine sinnlose Untersuchung des Mannes vor. Arden war tot. Seine Haut war blau verfärbt, das Genick gebrochen. Rings um die Leiche lagen ein paar in Zellstoff gewickelte Päckchen verstreut, die offenbar aus einem zerbrochenen Kanister gefallen waren. Kirth wickelte eines der Päckchen aus und hielt einen durchsichtigen Umschlag in der Hand, in dem kleine schwarze Gegenstände steckten, kleiner als Erbsen. Sie sahen wie Samenkörner aus.
Aus einer von Ardens Taschen sah ein Notizbuch hervor. Als Kirth es herauszog, fiel gleichzeitig ein Päckchen auf den Boden. Kirth zögerte, dann legte er das Notizbuch beiseite und öffnete das Paket.
Etwas fiel in seine flache Hand, und sein Atem stockte.
Es war ein Edelstein. Oval, groß wie ein Ei. Im Licht der Taschenlampe funkelte das Juwel strahlend hell. An sich hatte es keine Farbe, und doch schien es alle Regenbogenfarben in sich zu vereinen. Sicher war es so kostbar, daß viele Männer ihr Leben dafür wagen würden. Es war unbeschreiblich schön – und es war nicht von dieser Welt.
Endlich gelang es Kirth, seinen Blick von dem funkelnden Ei loszureißen.
Er schlug das Notizbuch auf. Das Licht war schwach, und so ging er zu der zerbrochenen Luke. Arden hatte offenbar kein richtiges Tagebuch geführt, sondern sich nur kurze Notizen gemacht. Kirth stellte fest, daß ein paar Seiten herausgerissen waren. Als er das Büchlein hin und her drehte, fielen ein paar Fotos heraus. Aufgeregt hob er sie auf und betrachtete sie.
Die Schnappschüsse waren unscharf, aber gewisse Einzelheiten waren deutlich zu erkennen. Ein Foto zeigte einen dicken Barren mit abgerundeten Enden, der sich weiß vor einem schwarzen Hintergrund abzeichnete. Das war ein Bild des Planeten Venus, in einem fernen Teil des Weltraums aufgenommen, was Kirth allerdings nicht wußte. Er sah sich die anderen Fotos an.
Ruinen, grotesk geformt, fremdartig in ihren Konturen, Steinformationen vor einem dunklen Hintergrund. Doch ein Gegenstand war unverkennbar – das Raumschiff. Kirth blinzelte verwirrt.
Denn das große Schiff wirkte zwergenhaft klein neben den gigantischen Ruinen. Die monströsen Steingebilde, Überreste einer fremden alten Stadt, waren höher als der Tempel von Karnak. So unscharf die Fotos auch waren, sie gaben Kirth doch eine ungefähre Vorstellung von der gewaltigen Größe der Strukturen. Er stellte auch fest, daß die Bauten nicht mit irdischen zu vergleichen waren. Nirgends schien es Treppen zu geben, nur geneigte Flächen. Außerdem fiel ihm eine gewisse Grobschlächtigkeit in der Bauweise auf. Keine künstlerische Absicht war zu erkennen, wie sie sogar in den frühesten ägyptischen Bauwerken so deutlich spürbar ist.
Fast alle anderen Fotos zeigten ähnliche Szenerien – alle bis auf eines, das Bild eines Blumenfelds. Verwundert drehte Kirth es hin und her. Solche Blumen hatte er noch nie gesehen. Obwohl es nur eine Schwarzweißaufnahme war, erkannte er doch, daß die Blüten ungewöhnlich schön waren – von einer bizarren, überirdischen Schönheit.
Kirth begann in dem Notizbuch zu blättern. Viel war den unvollständigen Aufzeichnungen nicht zu entnehmen, aber doch immerhin etwas.
»Die Venus scheint ein toter Planet zu sein«, las er. »Man kann die Atmosphäre einatmen, aber offenbar existiert auf diesem Planeten nur pflanzliches Leben. Die Blumen, die wie Orchideen aussehen, wachsen überall. Der Boden unter ihnen ist übersät mit ihrem Samen. Ich habe viele Samenkörner eingesammelt…
Ich habe das Juwel in einer der Ruinen gefunden und noch eine andere Entdeckung gemacht. Auf der Venus muß einmal eine intelligente Rasse gelebt haben. Die Ruinen selbst weisen darauf hin. Aber die neblige, feuchte Atmosphäre und der ewige Regen haben vermutlich alle Schriften, die diese Rasse hinterlassen hat, längst zerstört. Zumindest glaubte ich das bis zu diesem Morgen, als ich in einer unterirdischen Kammer ein Basrelief fand, halb im Schlamm vergraben.
Ich brauchte zwei Stunden, um den Schmutz abzuwischen, und auch dann war noch nicht viel zu sehen. Aber die Bilder sind aufschlußreicher, als es irgendwelche Schriftzeichen der alten Venus-Sprache sein könnten. Ich erkenne auf einigen Bildern ganz deutlich den Stein wieder, den ich gefunden habe. Offenbar hat es früher viele solcher künstlich hergestellter Juwelen gegeben. Und vermutlich hatten sie außer ihrem materiellen Wert noch eine andere Bedeutung.
So unglaublich es scheinen mag – es sind Eier. Wenn ich die Basreliefs richtig interpretiere, schlüpfen unter der richtig dosierten Einwirkung von Hitze und Sonnenlicht Lebewesen aus diesen Eiern…«
Kirth fand noch weitere Aufzeichnungen in dem Notizbuch, aber sie waren technischer Natur und interessierten ihn nicht. Nur eine einzige Eintragung war noch wichtig, denn aus ihr ging hervor, daß Arden ein detailliertes Tagebuch geführt hatte. Kirth durchsuchte das ganze Raumschiff, und schließlich fand er das Tagebuch. Aber es war völlig verkohlt, und die Aufzeichnungen waren unleserlich.
Er inspizierte die diversen Behälter. Einige waren leer, andere waren mit Asche gefüllt und verströmten einen unangenehmen Brandgeruch, als er sie öffnete. Anscheinend hatte Arden von seinem Flug durch den Weltraum nichts weiter mitgebracht als das Juwel und die Samenkörner.
Jared Kirth war zwar nicht auf den Kopf gefallen, aber auch nicht intelligent im eigentlichen Sinn des Wortes. Er war auf einer Farm in New England geboren worden und hatte sich mühsam und beharrlich nach oben gekämpft, wobei er stets bestrebt gewesen war, seine Rechte wahrzunehmen. Nun besaß er ein paar Farmen und einen kleinen Dorfladen und konnte sich einmal im Jahr einen kurzen Urlaub leisten.
In diesem Jahr hatten ihn weder seine Frau noch seine Tochter begleitet, als er zum Angeln in die Berge gefahren war. Er war ein hochgewachsener, hagerer, grauhaariger Mann von fünfzig Jahren, mit kalten Augen und schmalen Lippen, die meist verkniffen zusammengepreßt waren, als müsse er sich ständig gegen irgend etwas zur Wehr setzen.
In Anbetracht seines bisherigen Lebensweges und seiner Wesenszüge ist es kaum verwunderlich, daß Kirth sich nun überlegte, wie er seine Entdeckung zu seinem Vorteil nutzen konnte. Er wußte, daß für das Raumschiff kein Finderlohn zu erwarten war, denn man nahm an, daß es im luftlosen Raum verlorengegangen war und nie mehr zur Erde zurückkehren würde. Wenn er irgendwelche Schätze an Bord gefunden hätte, so hätte er sie mit dem Recht des Finders für sich beansprucht. Und da er außer den Samenkörnern und dem Juwel nichts weiter gefunden hatte, steckte er beides in die Tasche und verließ das Wrack.
Da das Raumschiff in einer unbewohnten Wildnis abgestürzt war, würde man es nicht so bald finden. Kirth hatte auch Ardens Notizbuch mitgenommen, um es bei passender Gelegenheit zu vernichten. Obwohl er skeptisch war, dachte er immer wieder an Ardens Behauptung, das Juwel sei ein Ei. Für einen Mann, der mehrere Farmen besaß, ergab sich daraus nur eine einzige Schlußfolgerung: Wenn man das Ei ausbrütete, konnte man vielleicht ein interessantes Ergebnis erzielen – möglicherweise sogar einen gewissen Profit.
Kirth beschloß seine Ferien vorzeitig zu beenden. Zwei Tage später kam er zu Hause an. Aber dort blieb er nicht, sondern er übersiedelte auf eine seiner Farmen, und diesmal nahm er Frau und Tochter mit.
Hitze und Sonnenlicht… Ein elektrisch erwärmter Brutkasten ohne Deckel war die logische Lösung. Nachts bestrahlte Kirth das Ei mit einer Sonnenlampe. Geduldig wartete er.
Sicher stellte auch das Ei an sich einen gewissen Wert dar. Vielleicht hätte er es teuer an irgendeinen Juwelier verkaufen können. Aber er hatte andere und, wie er glaubte, bessere Pläne. Die Samenkörner von der Venus hatte er bereits gesät.
Und in dem seltsamen Juwel begann sich fremdes Leben zu regen. Hitze erwärmte das Ei – eine Hitze, die auf der düsteren, verregneten Venus nicht mehr existierte. Sonnenenergie wirkte auf das Juwel ein, im Verein mit kosmischen und anderen Strahlen, die seit Äonen keinen Zugang mehr zur Venus gefunden hatten, weil ihnen eine Wolkenschicht den Weg versperrt hatte. Und diese geballten Energien bahnten sich einen Weg in das Herz des Juwels und setzten dort gewisse Kräfte in Bewegung. Leben entstand – verbunden mit einem dumpfen Bewußtsein.
Und da lag der Besucher aus einer anderen Welt auf dem schmutzigen Stroh eines Brutkastens. Vor unbekannten Zeitaltern war er geschaffen worden, zu einem bestimmten Zweck. War vernichtet worden – und nun ins Leben zurückgekehrt.
Kirth sah zu, wie das sonderbare Wesen aus dem Ei schlüpfte. Zu Mittag stand er vor dem Brutkasten, nagte an seiner alten Pfeife, kratzte sich die grauen Stoppeln am Kinn. Seine Tochter hatte sich zu ihm gesellt, ein mageres Mädchen von dreizehn Jahren mit fahler Haut und blondem Haar.
»Das ist kein Ei, Pa«, sagte sie mit ihrer hohen, nasalen Stimme. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß da irgendwas rauskommt.«
»Sei still! Geh mir nicht auf die Nerven. Ich… He! Schau doch! Da!«
Das Juwel lag flammend hell auf dem Stroh. Durstig schien es das Sonnenlicht aufzusaugen. Der schleierartige Schein, der es seit einiger Zeit umgab, pulsierte, wurde schwächer, pulsierte noch einmal – dann wurde er größer, immer größer und heller, bildete eine dichte Wolke, die das Ei verbarg. Ein leises, klirrendes Geräusch erklang, kaum vernehmbar.
Der graue Nebel löste sich auf. Das Ei war verschwunden. An seiner Stelle lag eine graue, bebende Kugel im Stroh.
»Das ist kein Huhn«, sagte das Mädchen und riß die Augen auf. »Pa…« Sie brach ab, denn plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt vor Angst.
»Sei still!« sagte Kirth noch einmal. Er bückte sich und tippte das graue Ding vorsichtig mit einem Finger an. Es schien sich auseinanderzuringeln, und dann saß ein winziges Wesen im Stroh, das wie eine Eidechse aussah. Es öffnete das kleine Maul, um die warme Luft tief einzuatmen.
»Verdammt will ich sein«, sagte Kirth langsam. »Eine schäbige kleine Eidechse.« Er hatte ein Gefühl, als läge ihm ein Bleiklumpen im Magen. Das Juwel hätte er zu einem guten Preis verkaufen können. Aber was sollte er mit diesem Vieh anfangen? Wer würde sich dafür interessieren?
Es sah immerhin recht sonderbar aus, wie ein Miniatur-Känguruh. So eine Eidechse hatte Kirth noch nie gesehen. Nun, vielleicht konnte er das Tierchen doch verkaufen.
»Hol eine Schachtel«, sagte er zu seiner Tochter, und als sie gehorcht hatte, nahm er das Reptil vorsichtig aus dem Brutkasten und setzte es in das improvisierte Gefängnis.
Als er die Schachtel zum Haus trug, sah er zu dem Garten hinüber, wo er die Samenkörner von der Venus gesät hatte. Ein paar gelbe Keime waren aus der Erde gekommen. Kirth nickte zufrieden und kratzte sich am Kinn.
Mrs. Kirth, eine dicke, schlampige Frau, kam ihm entgegen. Sie war vorzeitig gealtert, ihr rundes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Ein niedergeschlagener Ausdruck lag in ihren braunen Augen, die trotzdem noch verrieten, wie schön sie einmal gewesen war.
»Was hast du denn da, Jay?« fragte sie. »Das erzähle ich dir später. Bring mir eine Tasse Milch, Nora. Und ein Tropfglas oder so was Ähnliches.«
Hastig kam sie der Aufforderung nach, und Kirth fütterte das Reptil, das Milch zu mögen schien und gierig trank. Die kleinen, glänzenden Augen starrten den Farmer an, ohne zu blinzeln.
»Pa«, sagte das Mädchen, »es ist größer geworden. Viel größer.«
»Das ist nicht möglich«, erwiderte Kirth. »So schnell wächst kein Tier. Verschwinde jetzt und laß mich in Ruhe.«
Das winzige Wesen saß in seinem Gefängnis, trank durstig seine Milch, und in seinem fremdartigen, vom Nebel der Jahrhunderte umwölkten Gehirn begannen sich Gedanken zu regen. Die ersten schwachen Erinnerungen vibrierten. Erinnerungen an ein vorausgegangenes Leben, halb vergessen…
Kirths Tochter hatte recht gehabt. Das Reptil wuchs, auf abnorme Weise, beängstigend schnell. Am Ende des zweiten Tages maß es vom stumpfen Rüssel bis zum Spitz zulaufenden Schwanz sechs Zoll. Und nach einer Woche war es zweimal so groß. Kirth baute einen Käfig und war von heimlicher Freude erfüllt.
Ich kann es verkaufen, dachte er. An irgendeinen Zirkus. Ich werde eine Menge Geld dafür bekommen. Aber vielleicht wird es noch größer. Ich warte lieber noch ein paar Wochen.
In der Zwischenzeit hegte und pflegte er seine Venus-Pflanzen. Sie waren gewachsen, und die ersten Knospen zeigten sich. Sie waren so hoch wie Pappelrosen, hatten keine Blätter. Der dicke, hellgelbe Stiel war nur mit Knospen bedeckt, die bald aufblühen würden, wie Kirth hoffte.
Nach zwei Wochen war Kirths Garten ein Farbenparadies, und er ließ einen Fotografen kommen und Aufnahmen machen. Farbfotos, die er an mehrere Gartenbauinstitute schickte. Man zeigte sich sehr interessiert. Ein Reporter bekam Wind von der Sache und interviewte Kirth.
Kirth gab nur sehr vorsichtige Antworten und sprach von einer langwierigen Pflanzenzucht und verschiedenen Experimenten, die er gemacht hätte. Ja, es wäre eine neue Blumenart, und er hätte sie ganz allein gezüchtet. Ja, er hätte ein paar Samen, die er verkaufen würde.
Das Wrack des Raumschiffs war noch nicht gefunden worden. Und die Bestie saß in ihrem Stall und vertilgte enorme Mengen von Gemüse und Saufutter, das Kirth seinen protestierenden Schweinen weggenommen hatte, und trank alles, was man ihm vorsetzte. Ein Wissenschaftler hätte nur die Zähne der Bestie zu untersuchen brauchen, um festzustellen, daß sie ein Fleischfresser oder sogar ein Allesfresser war. Aber das wußte Kirth nicht, und die Bestie hatte offenbar nichts gegen den Speiseplan einzuwenden. Sie wuchs bemerkenswert schnell, und ihr Stoffwechsel ging so schnell vor sich, daß ihr schuppiger Körper eine beachtliche Hitze ausströmte.
Das Tier war nun so groß wie ein Pferd. Und es schien so sanftmütig zu sein, daß Kirth sich nicht vor ihm fürchtete, obwohl er vorsichtshalber immer einen Revolver bei sich trug, wenn er sich seinem bizarren Schützling näherte.
Die vagen Erinnerungen im Gehirn der Bestie regten sich von Zeit zu Zeit. Aber ein Faktor dominierte, überlagerte die Erinnerungen, lullte sie immer wieder in den Schlaf. Aus irgendeinem Grund wußte die Bestie, daß es wichtig war, möglichst schnell zu wachsen. Bevor sie etwas unternehmen konnte, mußte sie erst einmal ihre volle Größe erreicht haben. Und dann…
Die Bestie war intelligent. Sie besaß nicht die Intelligenz eines Kindes, sondern eher die eines von Drogen halbbetäubten Erwachsenen. Und sie war nicht von dieser Welt. Die fremdartige Chemie ihres Körpers schickte unbekannte Sekrete durch ihre Adern. Und während sie aß und trank, begann ihr fremdartiger Verstand zu funktionieren.
Die Bestie sammelte Erfahrungen, wenn sie jetzt auch noch keine Vorteile aus ihrem Wissen ziehen konnte. Durch die offenen Fenster des Farmhauses hörte sie die Gespräche der Kirths. Ihr Fernseher war oft eingeschaltet. Indem die Bestie die Menschen beobachtete, lernte sie ihre verschiedenen Stimmungen kennen und begann gewisse Klangfarben der menschlichen Stimmen mit diesen Stimmungen zu assoziieren.
Die Bestie lernte, daß manche Stimmungen von speziellen Grimassen begleitet wurden. Sie lernte Gelächter und Tränen verstehen.
Nur eines verstand sie nicht: den Ausdruck, der in den Augen von Mrs. Kirth und ihrer Tochter lag und manchmal auch in Kirths Augen, wenn sie in den Stall blickten. Dieser Ausdruck bedeutete Ekel und Abscheu, aber das wußte die Bestie nicht.
Langsam verstrichen zwei Monate. Kirth erhielt viele Schecks, die ihm per Post zugesandt wurden. Die neue Blume war sehr beliebt, und die Blumenhändler konnten gar nicht genug davon bekommen. Die Blumen waren schöner als Orchideen, und sie waren sehr widerstandsfähig. Auch wenn man sie abgeschnitten hatte, dauerte es lange, bis sie zu welken begannen.
Kirth war nicht raffiniert genug, um den Vertrieb der Blumen unter seiner alleinigen Kontrolle zu halten. Da sie in jedem Klima wuchsen und gediehen, wurden sie bald überall in den Staaten gezüchtet, von New York bis Kalifornien. Die neuen Blumenfelder bildeten einen Teppich der Schönheit, der sich über ganz Amerika ausbreitete. Die Blume wurde zu einem modischen Hit, und bald wurde sie auch nach Europa exportiert. Nach ein paar Monaten hatte sie einen solchen Gipfel der Beliebtheit erreicht, daß keine Dame der Gesellschaft mehr auszugehen wagte, ohne die Regenbogenblume an ihrem Kleid zu tragen, wie die Neuschöpfung genannt wurde.
Kirth hätte mit seinem ständig wachsenden Bankkonto zufrieden sein können, aber er hatte bereits mit mehreren Zirkusdirektoren Verbindung aufgenommen und ihnen gesagt, daß er ein Monstrum zu verkaufen hätte. Allmählich fühlte er sich unbehaglich in seiner Haut. Die Bestie wuchs und wuchs, und die Leute sahen schon ihren Schuppenrücken, wenn sie in ihrem Gehege auf und ab trottete. Kirth führte sie immer wieder in den Stall zurück, und sie folgte ihm auch bereitwillig. Aber das Quartier war ihr längst zu klein geworden. Ein Schlag mit dem mächtigen Schwanz, und der Holzschuppen würde zusammenbrechen. Keine sehr angenehme Vorstellung…
Kirths Unbehagen wäre noch gewachsen, hätte er gewußt, was im Gehirn des Monstrums vorging. Die Nebel lösten sich auf, als es rasch zu seiner vollen Größe heranwuchs. Die Erinnerungen kehrten zurück. Inzwischen verfügte Kirths Züchtung schon über einen beträchtlichen englischen Wortschatz.
Das war nur natürlich. Ein Kind lernt seine Muttersprache, indem es deren Wörter immer wieder hört. Es lernt die Sprache über Jahre hinweg mittels Assoziationen und Erinnerungen. Die Bestie war kein Kind, sie war ein hochintelligentes Wesen, und sie lernte innerhalb von Monaten das, wozu ein Kind Jahre braucht. Seit vielen Wochen war sie nun in engem Kontakt mit Menschen, und den nutzte sie, so gut sie konnte. Manchmal fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Manchmal hätte sie sich am liebsten damit begnügt, zu essen, zu trinken und zu schlafen, in einem angenehmen Wachtraum dahinzudämmern. Aber jedesmal, wenn ein solches Verlangen in ihr aufstieg, wurde sie von einer unerbittlichen inneren Stimme aufgerüttelt.
Es war so schwer, sich zu erinnern. Die Metamorphose, der sich das Monstrum unterzogen hatte, war nicht ohne Wirkung geblieben, hatte sein Fühlen und Denken bis zu einem gewissen Grad verändert. Aber eines Tages sah es durch einen Spalt in der Stallwand die Venusblumen, und in einem natürlichen Assoziationsprozeß dachte es an längst vergessene Dinge. Und dann brach ein trüber, grauer, regnerischer Tag an…
Regen, Kälte. Wasser, das auf seine Schuppenhaut fiel… Dichter Nebel, durch den es verschwommen die Umrisse von Gebäuden sah… Und zwischen den Gebäuden bewegten sich Geschöpfe, die wie die Bestie aussahen… Sie erinnerte sich…
Der häßliche, gepanzerte Kopf schwankte im Halbdunkel des Stalls hin und her. Die tellergroßen Augen starrten ins Leere. Die Bestie sah furchterregend aus, wie sie da saß, zusammengekauert, während ihre Gedanken weit zurück in die staubigen Äonen der Vergangenheit wanderten.
Andere Wesen… Es hatte noch andere Lebewesen gegeben, die so aussahen wie die Bestie – die Rasse, die den zweiten Planeten beherrscht hatte. Irgend etwas war geschehen. Tod… Verderben… Viele waren gestorben. Auf dem ganzen grauen, verregneten Planeten waren die mächtigen Reptilien vernichtet worden. Nichts hatte sie retten können vor der Pest, die aus dem Weltraum gekommen war.
Die große graue Gestalt erschauerte im Dämmerlicht des Stalls.
Kein Ausweg? Doch, es hatte einen Ausweg gegeben. Trotz ihrer tierischen Gestalt waren die Venusbewohner intelligent gewesen. Und sie hatten über wissenschaftliche Erkenntnisse verfügt. Es war keine Wissenschaft von der Art, wie sie sich auf der Erde entwickelt hatte. Aber sie hatte ihnen einen Ausweg gezeigt.
Sie konnten überleben. Nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt. Nichts konnte die riesenhaften Körper der Reptilien vor der Seuche retten. Aber in einer anderen Gestalt – in einer Gestalt, in der die grundlegenden Körperfunktionen unverändert blieben, wenn auch komprimiert durch atomare Stauung…
Die Materie ist wandelbar. Aus winzigen Sonnensystemen können sich Körper bilden, Elektronen schwingen in weiten Kreisen um ihre Protonen. Unter der Einwirkung von Kälte wird diese submikroskopische Bewegung verlangsamt, bei null Grad hört sie völlig auf. Aber der absolute Nullpunkt bedeutet auch, daß die gesamte Energie zum Stillstand kommt, und das ist unmöglich.
Unmöglich? Nicht auf der Venus, vor vielen Äonen. Man hatte experimentiert, einem der Reptilien die gesamte Lebensenergie entzogen. Als die Elektronen ihren Protonen immer näherkamen, schrumpfte das Reptil zusammen, seine Gestalt veränderte sich, wandelte sich zu einem Ei, zu einem Juwel gefrorenen Lebens, zu einer Seinsheit, in der alle Lebenseinheiten auf kleinstem Raum vereint waren. Dieses Ei lag nun vor den Wissenschaftlern der Venus, wartete auf die Wärme und die Sonnenstrahlen, die es wieder zum Leben erwecken würden.
Die plumpen, riesigen Wesen konnten nicht durch den Weltraum fliegen. Aber vielleicht konnten sie in anderer Gestalt zu einer anderen Welt fliehen?
Sie hatten alles genau geplant, hatten ein Raumschiff konstruiert, in dem sie die Lebensjuwelen verstauten. So bald wie möglich sollte es, von automatischer Roboterkontrolle geleitet, durch den Weltraum fliegen, zur Erde. Nach der sicheren Landung sollte ein anderer Roboter-Apparat die Juwelen der Sonne und Hitze aussetzen, und die Venusianer würden wieder leben, nach einer Reise durch den Raum, die sie nicht bewußt erlebt hatten. Aber sie hatten ihren Plan nicht vollenden können. Die Seuche war zu mörderisch gewesen. Das unvollendete Raumschiff lag immer noch in einem venusianischen Sumpf verborgen, und es war ein Erdenbewohner gewesen, der eines der seltsamen Juwelen in seine Heimatwelt mitgenommen hatte.
Die Juwelen lagen auf der ganzen Venus verstreut. Das Monstrum hatte den Nachthimmel gesehen und wußte nun, daß es sich auf dem dritten Planeten befand. Das bedeutete, daß es aus seiner eigenen Welt hierhergeholt worden und von Energiestrahlen zu neuem Leben erweckt worden war. Es war den Erdenmenschen dankbar, die es vor einem ewigen Schlaf in dem kleinen Ei bewahrt hatten.
Vielleicht war es nicht der einzige Venusianer auf der Erde, überlegte das Monstrum. Vielleicht lebten noch andere Angehörige seiner Rasse auf diesem Stern. Jedenfalls würde es mit den Menschen Kontakt aufnehmen – jetzt, wo sich die Nebel in seinem Gehirn aufgelöst hatten. Sie waren seltsame Kreaturen, Zweifüßler und in den Augen der Bestie sehr häßlich. Aber sie war ihnen trotzdem dankbar.
Wie sollte sie mit ihren Rettern Kontakt aufnehmen? Die Erdenbewohner waren intelligent, das war offensichtlich. Doch das Monstrum sagte sich, daß sie seine
Sprache nicht verstehen würden. Und obwohl es die englische Sprache leidlich beherrschte, waren sein Hals und seine Zunge nicht dazu geeignet, englische Wörter zu bilden. Nun, die Mathematik war eine universale Sprache, und das war immerhin ein Anfang. Das Monstrum mußte den Menschen etwas mitteilen – etwas Lebenswichtiges. Aber sie waren ja die herrschende Rasse auf diesem Planeten, und es sollte nicht allzu schwierig sein, mit ihnen Verbindung aufzunehmen.
Die Bestie bewegte sich plump und ungeschickt. Ihr Körper stemmte sich gegen die Stallwand, und die Bretter brachen krachend auseinander. Der Stall fiel zusammen, und die Bestie kroch zwischen den Trümmern hervor. Ungeduldig schüttelte sie ein paar Planken ab, die zwischen den Schuppen hängengeblieben waren. Die Dinge auf dieser Welt waren nicht sonderlich stabil. Die schweren Steingebäude auf der Venus hätten sich nicht so leicht zerstören lassen.
Kirth hatte den Lärm gehört. Er kam aus dem Haus gelaufen, in der einen Hand eine Schrotflinte, in der anderen eine Taschenlampe. Seine Frau folgte ihm. Sie rannten zum Stall, doch dann blieben sie ängstlich stehen.
»Das Biest hat den Stall niedergerissen«, flüsterte Mrs. Kirth. »Glaubst du, daß… Jay! So warte doch!«
Aber Kirth ging weiter, die Flinte im Anschlag. Im Mondlicht ragte die riesige Gestalt des Monstrums häßlich und unheimlich vor ihm auf.
Und die Bestie dachte: Jetzt ist die Zeit gekommen – der Zeitpunkt, wo ich Kontakt mit den Menschen aufnehmen muß.
Es hob ein dickes Vorderbein und begann ein Zeichen in den Staub des Hofes zu malen. Ein Kreis bildete sich
- und noch einer. In kurzer Zeit war eine Karte des Sonnensystems fertig.
»Schau doch, wie es im Staub scharrt«, sagte Mrs. Kirth. »Wie ein angriffslustiger Stier. Paß auf, Jay!«
»Ja, ich passe schon auf«, erwiderte Kirth.
Die Bestie trat zurück, nicht weil sie Angst hatte, sondern weil sie dem Mann Gelegenheit geben wollte, die Zeichen zu studieren. Aber Kirth sah nur eine scheinbar sinnlose Masse konzentrischer Kreise. Er ging langsam auf die Bestie zu, und seine Stiefel zerstörten die Zeichen.
Er hat es nicht bemerkt, dachte der Venusianer. Ich muß es noch einmal versuchen. Sicher wird er bald begreifen. In einer so hochentwickelten Zivilisation hat man sicher einen Wissenschaftler mit der Aufgabe betraut, mich aufzuziehen.
Er erinnerte sich an die Begrüßungsgeste der Erdenbewohner, hob ein Vorderbein und streckte es langsam aus. Natürlich war es unmöglich, Hände zu schütteln, aber Kirth würde den Sinn der Bewegung sicher verstehen.
Doch statt dessen gab Kirth einen Schuß ab. Die Kugeln der Schrotflinte streiften den Kopf des Venusianers, fügten ihm schmerzhafte, aber nicht gefährliche Wunden zu. Sofort zog er die Pfote zurück.
Der Mann hatte es nicht begriffen. Vielleicht hatte er einen Angriff erwartet, die freundlich gemeinte Geste als Drohung mißverstanden. Die Bestie senkte den Kopf, als Zeichen der Unterwerfung.
Als die schreckliche Fratze sich nach unten neigte, überwand Mrs. Kirth ihre Schreckenslähmung. Kreischend wandte sie sich ab und ergriff die Flucht. Kirth stieß hysterische Flüche aus und jagte eine Kugel nach der anderen in den Körper der Bestie.
Ungelenkt drehte sich das Reptil um. Es war nicht verletzt, aber es spürte, daß hier Gefahr drohte. Es versuchte zu entkommen, ohne die fragilen Bauten ringsumher zu zerstören. Trotzdem trat es auf den Schweinestall, demolierte einen Silo und riß eine Wand des Farmhauses um.
Aber das ließ sich nicht verhindern. Die Bestie verschwand in der Nacht.
Das abartige Gehirn war verwirrt. Was war nun eigentlich schiefgegangen? Die Erdenbewohner waren intelligent, und doch hatten sie nichts begriffen. Vielleicht liegt der Fehler bei mir, dachte das Monstrum. Es hatte noch nicht seine volle Reife erreicht. Die Gedankengänge waren noch nicht vollkommen, bewegten sich noch nicht ohne Abweichungen in den einstigen Bahnen. Die Nebel, die das Gehirn des Reptils verschleiert hatten, waren noch nicht ganz verschwunden, hatten sich noch nicht völlig aufgelöst.
Wachstum! Reife! Das war notwendig. Wenn die Bestie ihre Reife erlangt hatte, konnte sie den Erdenmenschen auf gleicher Ebene begegnen, dann würde man sie verstehen. Aber um zu wachsen, mußte sie essen.
Die Bestie stapfte durch die mondhelle Nacht. Wie ein primitives Tier tappte sie auf Zäune, zertrat gepflügte Felder, hinterließ eine breite Spur wilder Zerstörung. Zuerst versuchte sie den Straßen zu folgen, aber der Beton zerbrach unter ihrem Gewicht. So gab sie diesen Plan auf und wandte sich den fernen Bergen zu.
Eine schreiende Menge folgte dem Monstrum. Rote Lichter flammten auf. Suchscheinwerferstrahlen kreisten über den Nachthimmel. Doch der Tumult ebbte ab, als das Monstrum sich in die Berge zurückzog. Für die nächste Zeit mußte es den Menschen aus dem Weg gehen. Und es mußte sich darauf konzentrieren, Nahrung zu finden. Es liebte den Geschmack von Fleisch, aber es wollte sich nicht an fremden Eigentum vergreifen. Die Tiere gehörten den Menschen. Doch die Pflanzen – Zellulose - fast alles, was auf Erden wuchs, war nahrhaft.
Und so durchstreifte der Koloß die Wildnis. Gelegentlich konnte er nicht widerstehen, verspeiste einen Hirsch oder einen Puma, aber meist ernährte er sich von Pflanzen. Einmal sah er ein Flugzeug über seinem Kopf kreisen, und dann kamen immer mehr Flugzeuge und warfen Bomben ab. Aber als die Sonne untergegangen war, gelang es der Bestie, sich zu verstecken.
Sie wuchs und wuchs. Durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen, die hier nicht ständig gefiltert wurden wie auf der ständig von Wolken umgebenen Venus, wurde das Reptil größer denn je, riesenhafter als damals auf seinem Heimatplaneten, vor vielen Äonen. Es wurde größer als der größte Dinosaurier, der je die irdischen Sümpfe in grauer Vorzeit durchwandert hatte, ein Titan, ein alptraumhafter Moloch aus der Apokalypse. Es sah aus wie ein wandelnder Berg, und je größer es wurde, desto ungelenker bewegte es sich.
Die Schwerkraft, die das Reptil so mächtig nach unten zog, war ein ernstzunehmendes Hindernis. Das Gehen wurde zur mühevollen Arbeit. Die Berghänge zu erklettern, den gewaltigen Körper hinauf zuschleppen, war eine Qual. Nun konnte die Bestie keine Tiere mehr fangen. Sie konnten den ungeschickten Pfoten mit spielerischer Leichtigkeit entfliehen.
Natürlich konnte das riesenhafte Monstrum nicht verhindern, daß die Menschen es erneut aufspürten. Immer mehr Flugzeuge kamen in die Berge, warfen Bomben ab. Wieder wurde die Bestie verwundet, und sie erkannte, daß es notwendig war, sofort Kontakt mit den Erdbewohnern aufzunehmen. Sie hatte ihre volle Reife erreicht.
Da war etwas Lebenswichtiges – etwas, das die Menschen wissen mußten. Sie hatten dem Monstrum ein zweites Leben geschenkt, und es wollte seine Dankbarkeit beweisen.
Das Monstrum verließ die Berge. Es kam bei Nacht ins Tiefland zurück, bewegte sich voran, so schnell es ging, suchte nach einer Stadt. Es wußte, daß man es dort am ehesten verstehen würde. Die Erde erzitterte unter den Schritten des Giganten, als er durch das Dunkel ging.
Immer weiter ging die Bestie. Und sie kam so schnell voran, daß die Kampfflugzeuge sie erst am Morgen entdeckten. Dann fielen die Bomben, und mehr als eine fand ihr Ziel.
Aber die Wunden waren nur oberflächlich. Die Bestie war ein schwer gepanzerter Moloch, und so ein Wesen konnte man nicht so leicht töten. Doch immerhin fühlte das Reptil Schmerzen, und es bewegte sich noch schneller voran. Die Menschen im Himmel, die in ihren Lüftschiffen dahinglitten, begriffen nichts. Aber irgendwo mußte es doch auch verständige Menschen geben – Wissenschaftler. Irgendwo…
Und so kam die Bestie nach Washington.
Seltsamerweise erkannte sie das Kapitol. Doch vielleicht war das nur natürlich, denn sie hatte englisch gelernt und monatelang auf Kirths Farm die Fernsehnachrichten gehört. In manchen Sendungen war Washington beschrieben worden, und die Bestie wußte, daß hier die amerikanische Regierung ihren Sitz hatte. Hier, wenn überhaupt irgendwo auf Erden, würde sie die Männer finden, die sie verstanden. Hier waren die Herrscher, die weisen Männer, und trotz seiner Wunden verspürte das Monstrum eine beglückende Freude, die seine Schritte beflügelte. Donnernd stürmten die Flugzeuge heran. Kreischende Bomben schnellten herab, rissen Fleisch vom Körper des gepanzerten Titanen.
»Es ist stehengeblieben«, sagte ein Pilot, tausend Fuß hoch über der Bestie. »Ich glaube, wir haben das Ungeheuer getötet. Gott sei Dank, daß es die Stadt nicht erreicht hat…«
Langsam begann die Bestie sich wieder zu bewegen, in schmerzliches Feuer gebadet. Die Nerven des Reptils sandten unmißverständliche Botschaften zum Gehirn, und es wußte, daß es tödlich verwundet war. Doch seltsamerweise haßte es die Menschen nicht, die es niedergemetzelt hatten.
Nein – man konnte ihnen keine Vorwürfe machen. Sie hatten es ja nicht gewußt. Und immerhin hatten sie die Bestie von der Venus zur Erde geholt, hatten sie ins Leben zurückgerufen, sie monatelang gefüttert und umsorgt…
Da war immer noch eine Schuld, die das Monstrum bezahlen mußte. Da war die Botschaft, die die Erdenbewohner erfahren mußten. Bevor die Bestie starb, mußte sie diese Nachricht übermitteln – irgendwie.
Die tellergroßen Augen sahen in der Ferne die weiße Kuppel des Kapitols. Dort würde es Verständnis finden. Aber das weiße Haus war noch so weit weg.
Die Bestie erhob sich und machte sich erneut auf den Weg. Nun hatte sie keine Zeit mehr, um auf die zerbrechlichen Bauten der Menschen Rücksicht zu nehmen. Die Botschaft war viel wichtiger.
Donnerndes Getöse begleitete die Schritte der Bestie. Staubwolken stiegen von den Ruinen der eingestürzten Häuser auf. Marmor und Granit waren nicht zu vergleichen mit dem eisenharten Gestein der Venus, und eine Spur katastrophaler Zerstörung führte auf das Kapitol zu. Unsicher folgten ihr die Piloten in ihren Flugzeugen. Sie wagten nicht, Bomben über Washington abzuwerfen.
In der Nähe des Kapitols stand ein hoher Turm. Er sah wie ein Bohrturm aus und war errichtet worden, um Fernsehnachrichten und -bilder in alle Staaten zu schicken. Aber nun diente er anderen Zwecken. Hastig hatte man eine Maschine hinaufgebracht, und die Männer arbeiteten fieberhaft, um die Stromkabel anzuschließen. Ein linsenförmiger Projektor, der im Sonnenlicht schimmerte, schwang langsam herum, richtete sich auf das Monstrum, das immer näherkam. Er sah aus wie ein Riesenauge, hoch über Washington.
Er sandte einen Hitzestrahl aus.
Es war das erstemal, daß man diese Waffe anwandte, und wenn sie das Reptil nicht aufhalten konnte, dann war keine andere dazu imstande.
Die Bestie bewegte sich immer noch auf das Kapitol zu. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Aber sie würde noch Zeit genug finden. Zeit, um den Männern im Kapitol die Nachricht zu übermitteln – den Männern, die alles verstehen würden.
In Washington, das dem Untergang geweiht zu sein schien, rang sich ein Angstschrei aus zehntausend Kehlen. In den Straßen flohen entsetzte Männer und Frauen vor dem Monstrum, das immer näherkam, den Himmel verdunkelte, hoch aufragte, kolossal und grauenhaft.
Die Soldaten auf dem Turm arbeiteten verzweifelt an dem Projektor, schlossen Kabel an, stießen scharfe Befehle hervor.
Die Bestie blieb stehen. Vor dem Kapitol, aus dem winzige Menschen flüchteten.
Wieder stiegen Nebel empor, um das Gehirn des Reptils zu verschleiern. Es kämpfte an gegen die wachsende Müdigkeit. Die Botschaft – die Botschaft…
Eine mächtige Vorderpfote streckte sich aus. Die Bestie hatte die irdische Schwerkraft vergessen, das Ungeschick ihres riesenhaften Körpers.
Und die massive Pfote zerschmetterte die Kuppel des Kapitols.
Gleichzeitig blitzte der Hitzestrahl blindlings drauflos. Er schwang nach oben, überschüttete die Bestie mit grellem Licht.
Einen Herzschlag lang schien die Welt stillzustehen. Das Monstrum ragte reglos über dem Kapitol in den Himmel. Dann brach es zusammen.
Im Tod war die Bestie unvorstellbar schrecklich. Unter der Einwirkung des Hitzestrahls begann sie zu zerbröckeln, der Riesenleib zertrümmerte das Kapitol. Vier Häuserblocks stürzten ein. Staubwolken stiegen in dicken, undurchsichtigen Schwaden auf, wie die Nebel, die das Gehirn und die Sehkraft der Bestie verdunkelte. Denn noch war das Reptil nicht tot. Obwohl es sich nicht mehr bewegen konnte, obwohl die Lebenskraft rasch aus seinem Körper wich, versuchte es immer noch die monströse Pfote auszustrecken.
Ich muß ihnen meine Nachricht übermitteln, dachte es dumpf. Ich muß ihnen von der Seuche erzählen, die alles Leben auf der Venus zerstört hat. Ich muß ihnen von dem Virus erzählen, den die Winde geboren haben und gegen den es keinen Schutz gibt. Aus dem Weltraum kamen sie auf die Venus, die Keime, aus denen sich Blumen entwickelten. Und jetzt wachsen diese Blumen auch auf der Erde. In einem Monat werden die Blütenblätter fallen, und dann werden die Viren in den Blumen entstehen. Und dann wird alles Leben auf Erden vernichtet werden, wie damals auf der Venus, und auf diesem Planeten wird nichts mehr existieren außer den strahlend hellen Blumen und den Ruinen der Städte. Ich muß sie warnen. Sie müssen die Blumen vernichten, bevor sie ihren Blütenstaub verstreuen…
Die Nebel wurden immer dichter. Das Monstrum erschauerte, wand sich in Krämpfen, dann blieb es reglos liegen. Es war tot.
In einem Dachgarten standen ein Mann und eine Frau und sahen aus der Ferne zu.
»O Gott, was für ein schreckliches Ding!« sagte der Mann. »Sieh doch, wie es daliegt. Wie der Teufel persönlich…« Schaudernd wandte er sich ab.
Die blasse Frau nickte. »Es ist kaum zu glauben, daß auf der Welt etwas so Schreckliches existieren kann – und daß sie uns gleichzeitig etwas so Schönes schenkt…«
Ihre schlanken Finger streichelten die samtigen Blüten, die an ihrem Kleid steckten. In überirdischer Schönheit glühte die Venusblume im Sonnenlicht.
Und in ihrem Kelch bildete sich bereits der Blütenstaub.
Die Pedanten faselten von Wortklauberei und Rückendeckung und schlugen nach eingebildeten Mücken. Nichts ist unmöglich in der Mathematik. Nur unwahrscheinlich. Nur sehr unwahrscheinlich.
Nur unglaublich unwahrscheinlich.
Die Erde ist zum Beispiel unwahrscheinlich. Plane ten sollten nicht logischerweise existieren, ebensowenig wie das Leben auf den Planeten. Das Gleichgewicht der Kräfte ist zu delikat. Die Ursprünge sind auf viel zu komplizierte Weise zufällig. Und doch existiert die Erde – und auf ihr gibt es Leben.
Wir sehen die Erde, und wir sehen das Leben. Oder wir sehen irgend etwas Unwahrscheinliches und nennen es Erde und Leben. Wir vergessen die Wahrscheinlichkeit und die Mathematik und verlassen uns auf unsere Sinne, auf unsere Vernunft. Wir folgen unserem gesunden Verstand, und dieser sieht die Erde und das Leben, und in irgendeinem dunklen Spiegel sieht er die Menschen. Aber die Menschen sind äußerst unwahrscheinlich.
Der Schlamm gehört den Würmern, und die Würmer gehören den Fischen. Die Fische den Fröschen und die Frösche den Eidechsen. Die Eidechsen den Ratten und die Ratten den Menschen. Und die Menschen gehören aufgeblähten, futuristischen Gehirnen. Gehirne sind unwahrscheinlich. Die Gehirne und die Sinne und über allem der Verstand. Nicht unmöglich, denn nichts ist unmöglich, aber so unwahrscheinlich, daß nirgendwo auf all den unwahrscheinlichen Sternen, nirgendwo in diesem unwahrscheinlichen leeren Raum zwischen den Sternen Raum ist für andere Erden, für andere Ratten und Menschen.
Nirgendwo – Leben.
Ein unwahrscheinlicher Mensch ist betrunken. Ein Mensch mit unwahrscheinlich karottenrotem Haar und einer unwahrscheinlich großen Nase. Und diese Nase ist verschnupft. Mit einer Viertelgallone Fusel will er der äußersten Unwahrscheinlichkeit dieses Schnupfens und dieser Nase beikommen – und der Welt im allgemeinen. Unter den Füßen hat er das Seitenruder eines Flugzeugs, zwischen den Knien den Steuerknüppel, und die chilenischen Anden da unten sehen unwahrscheinlich gigantisch aus.
Ein Mann hat sich vollaufen lassen. Und zufällig wird er Zeuge des Unwahrscheinlichen.
Freitag, 25. Juli.
James Arthur Donegan, um die dreißig Jahre alt, rothaarig, Amerikaner, war Zeuge des Unwahrscheinlichen geworden.
Eine Klippe, hart und quarzweiß, schmolz plötzlich dahin wie ein monströser Fetthaufen, von dicken Goldadern durchzogen. Reines Gold, gelbschimmernd im Sonnenlicht der Anden. Muttergold, eingebettet in ein weiches Nest, im schimmernden Fels. Medusen von goldener Faszination. Gold, in träumerischen Arabesken, die nackte Felswände schmücken, im weißen Quartz, der langsam zerfließt, zu einem monströsen Morast.
Jim Donegan setzte die Flasche an die Lippen, dann lenkte er sein Flugzeug weg von diesem Wahnsinn. Jim Donegans Gehirn dröhnte vom Kartoffel-Whisky und vom grellen Schein der dicken Goldadern. Und mitsamt dem Gold schmolz eine Quarzklippe dahin, Stein, der sich in Pudding verwandelte – Sinn, der zu Unsinn wurde…
Jim Donegan nahm noch einen kräftigen Schluck und beschloß, das alles zu vergessen. Er landete in Santiago und verschwand.
Ein unwahrscheinlicher Mensch ist nüchtern. Tausend unwahrscheinliche Männer und tausend noch viel unglaublichere Frauen, und nur hundert davon sind betrunken. Weitere hundert sind stockbesoffen. Und ein halbes Dutzend unwahrscheinlicher Männer und Frauen, betrunken oder nüchtern, sehen und hören und fotografieren das Unwahrscheinliche, das die Walfische auffrißt.
Mittwoch, 20. August.
Richard Chisholm, fünfzig Jahre alt und grauhaarig, Brite, hat das Unwahrscheinliche in sein Logbuch eingetragen, hat ein faltiges Großhirn aufgeschreckt, das daran gewöhnt ist, Unwahrscheinlichkeiten zu erforschen, auf ungewöhnliche Weise.
Der Zoologe Heinrich Wilhelm Sturm lehnte mit glänzenden Ellbogen an einer glänzend polierten Reling und starrte aufs rotglühende Meer hinaus. Seine Tochter Maria Elsa Sturm lehnte und starrte neben ihm. Auch der Sekretär Rudolf Walter Weltmann lehnte und starrte, aber nicht auf die Wellen.
Die Wellen plätscherten sanft an der Flanke des großen Schiffes vorbei. Wellen, die anschwollen und ungebrochen herabsanken, mit der lustlosen Gleichgültigkeit alter Träume. Und im Wärmenetz der Sonne gefangen, eingebettet in die weichen Wellen, badeten zwei Dutzend Wale, wälzten sich spielerisch umher, vor den müden Augen des Zoologen. Das leuchtende Meereswasser wurde trüber und kühler. Die Farben verblaßten. Das strahlende Grün verwandelte sich in apfelgrüne Jade, die Jade in Chrysopras, schließlich in beryllfarbene Gischt. Das Wasser zerteilte sich in unebenmäßige, gleißende Hügel, die seltsam fest aussahen. Und der Zoologe Heinrich Sturm stieß einen deutschen Fluch aus, als die zwei Dutzend schläfriger Wale plötzlich mit dem Tod kämpften.
Viele Morgen leerer See verwandelten sich in einen zitternden Brei. Graue Wolken spritzten von den Wellen hoch und sanken wieder hinab. Gräßliche, gierige Wogen erschauerten, glätteten sich dann wieder auf der Wasserfläche. Und die zwei Dutzend Wale waren gefangen, gigantische, dicke Elritzen, die in einem modernden Pudding schlingerten. Titanische, ebenholzschwarze Mikroben, die in einer schwammigen Schüssel festsaßen. Ertrunken in dem graugrünen Schlamm, der in ihre Schlünde drang, ihre Nasenlöcher verstopfte. Erwürgt – erstickt…
Verschluckt, von der zähen Masse verschlungen…
Es war so unwirklich. Atemblasen, die aus dem Schlamm aufstiegen, ein leises Gurgeln, ein vereinzelter Seufzer, als eine riesige Schwanzflosse ein letztesmal aus der graugrünen Masse ragte, die sich im Schatten des Schiffes rasch verdunkelte.
Ein letzter saugender Seufzer – das Schwingen einer mächtigen glänzenden Schwanzflosse, die sich wie ein schwarzes Y vom Himmel abhob, ein Blubbern, als würde ein halbes Tausend ertrinkender Menschen nach Atem ringen. Und der Zoologe Heinrich Sturm starrte durch seine dicke schwarze Sonnenbrille auf einen graugrünen Schlammtropfen, der an seinem Finger hing, auf die Schlammspritzer an Deck zu seinen Füßen und gab zufrieden einen deutschen Fluch von sich.
Ein Toter lag da. Und ich war dabei:
Freitag, 22. August.
Nicholas Svadins Zustand ist schon seit drei Tagen sehr ernst, und die ganze Welt blickt auf ihn.
Nicholas Svadin, Diktator von Mitteleuropa, liegt wachsbleich unter aufgehäuften Kalla-Blüten, unter der Augustsonne von Budapest. Nicholas Svadin, der Sohn des slawischen Metzgers und Enkel des deutschen Führers, liegt da, mit sechs Kugeln im Schädel und in der Brust. Nicholas Svadin, dessen Herrschergenie die Loyalität und nicht den Haß der Nationen gewonnen, dessen Gier sich vom Konflikt zwischen Sprachen und Rassen genährt, dessen Schatten über Europa gelegen hat, von der Wolga bis zum Rhein. Nicholas Svadin, der ganz Europa tyrannisiert hat, außer den zänkischen Mittelmeerländern und der angloskandinavischen Konföderation, die sich kühl und abwartend verhielt.
Nicholas Svadin, gestorben unter der Augustsonne, und ganz Europa erzittert unter den Schwingen des Chaos, die sich rasch entfalten.
Und vier Männer regierten die Welt. Und vier Männer fürchteten sich.
Sie standen da, so wie sie dagestanden hatten, als Svadins dröhnende Stimme in einem blutigen Husten erstickte, als sein großer Körper, mit ausgebreiteten Armen, ein verzweifeltes Sinnbild des Kreuzes, wie ein ranziger Fetzen auf den weißen Stufen der Friedenshalle zusammenbrach. Sie standen da, und die Welt lag vor ihnen wie der tote Meister, und vor ihren Augen dämmerten Zukunftsvisionen.
Vier Männer waren auf der Welt – der bärtige blonde Rasmussen, der Premierminister von Anglo-Skandinavien mit den Stahlaugen, neben ihm Nasuki, klein und schlau, mit der althergebrachten Verschlagenheit des Ostens, der aalglatte Gonzales, der olivenhäutige Erbe des neolateinischen Diktators, der Amerikaner Moorehead, schlank und weißhaarig, der älteste der vier.
Vier Männer unter der Augustsonne, im betäubenden Duft der Totenlilien, und ich mit meiner Kamera… Wir fünf markierten den langsamen Fortgang der Zeit.
Ich fotografierte die vier, wie sie neben der Bahre standen, ich fotografierte die Prozession der Trauernden, die in schwarzen Rudeln durch die stillen Straßen von Budapest strömten. Ich fotografierte die Priester, die herankamen, mit dem feierlichen Ernst der älteren Generation.
Und ich fotografierte die Wiederauferstehung des Toten.
Nicholas Svadin erhob sich von seiner Bahre und starrte die Männer an.
Nicholas Svadin erhob sich und sein wachsbleiches Gesicht mit dem massigen Kinn und der bläulichen Einschußnarbe zwischen den Augen. Nicholas Svadin schwang die dicken steifen Beine über den Rand der Bahre, und dann stand er allein da, lebendig, starrte die Menschheit an und sprach vier Worte – einmal, ganz langsam, dann noch einmal.
»Ich – bin – Nicholas – Svadin.«
»Ich – bin – Nicholas – Svadin!«
Und die Menschheit hatte einen Gott gefunden.
Svadin war ein Mensch gewesen, geboren von einer Frau, hatte Männer und Frauen gezeugt. Er war der größte Mensch, den die Erde gekannt hatte. Sein Genie diente der Menschheit, und er umschloß die Menschheit mit seinen liebevollen Armen. Er war der Vater der Welt.
Svadin war ein Mann, war getötet worden, wie Menschen getötet werden, aber am dritten Tag war er auferstanden von seinem Totenbett und hatte seinen Namen laut in die Welt hinausgeschrien.
Svadin, der Mann, war zu Svadin, dem Gott, geworden.
Ich fotografierte die Weltversammlung in Leningrad, als Svadin alle Wissenschaftler der Erde zusammenrief, als er ihnen den Planeten übergab, damit sie ihn nach ihrem Willen gestalten konnten. Ich fotografierte die Versammlung in der amerikanischen Kongreßhalle, als die Herrscher der Welt ihre Völker seinen unblutigen Händen übergaben und sie wieder empfingen, wiedergeboren in einer neuen Ordnung der Demokratie. Ich sah zu, und auch meine Kamera sah zu, wie die Welt sich in diese neu geformten Bahnen der Zivilisation ergoß, und ich fand es gut so. Und dann, weil die Menschen Menschen sind und auch ein Goldenes Zeitalter allmählich seinen Reiz verliert, wandte ich mich anderen Dingen zu:
Einer Tiefsee Taucherkugel, die in den dunklen Fluten von ihrem Kabel gerissen wurde.
Fischereiflotten, die nach Wochen und Monaten auf hoher See mit leeren Laderäumen zurückkamen.
Aalen, die ihre alten Jagdgründe verlassen hatten. Lachsen, die sich nur dutzendweise vermehrten, wo einst ganze Ströme von ihren lustvollen Körpern überquollen.
Ein Frachtschiff, mit Rindern an Bord, die mitten im Atlantik verloren gingen – spurlos.
Zwei Männern und einem Mädchen, deren Namen auf den Passagierlisten aller Schiffe standen, die das Unglücksgewässer des Nordatlantik überquerten.
Und aus dem Süden kamen vage Gerüchte von einem Gott.
Die sonnenüberfluteten Strände Miamis waren schwarz von menschlichen Insekten. Heiße Rhythmen durchpochten die Tropennacht von Miami, die Tänzer wiegten sich im Takt der Musik. Maria Elsa Sturm wiegte sich in den starken, jungen Armen Rudolf Weltmanns und lachte mit ihren nachtblauen Augen und den vollen Lippen. Aber Heinrich Sturm stand allein in der Sternennacht und starrte nachdenklich auf das schlafende Meer. Maria badete in der sengenden Hitze der Mittagssonne, eine schlanke, goldbraune Flamme neben ihrem dunkleren, gutaussehenden Begleiter, aber die alten, glanzlosen Augen Heinrichs starrten vorbei an ihrer Schönheit hinaus aufs Meer.
Lange Wellen fluteten träge aus der fernen Bläue des Golfstroms heran, schwollen an, sanken in sich zusammen, schwollen wieder an, überspülten, von lauwarmem weißem Schaum gekrönt, den Sandstrand. Fröhliches Gelächter klang auf. Regenbogenfarben spielten in kaleidoskopischer Üppigkeit unter der goldenen Sonne. Eine Welle nach der anderen rollte vom blauen Horizont heran, hob sich und fiel herab. Und dann kam eine Welle, die nicht in sich zusammensank.
Sie kam, so wie die anderen gekommen waren, langsam, blaugrün und gleißend im Sonnenlicht. Sie hob und senkte sich in der unablässigen Flut des Atlantik, hob sich vor der weißen Kurve der Bucht. Sie war wie ein Wasserwall, meilenlang, rauschte dem Strand entgegen mit der Laufgeschwindigkeit eines Menschen. Die Badegäste ergriffen die Flucht, doch sie wurden gefangen.
Helle Farbpunkte drehten sich in trägen Wasserwirbeln. Wasserzungen leckten über den warmen Sand, ließen ihn naß und knochenweiß zurück, flössen langsam zurück in das monströse Ding, das da in der heißen Sonne stand.
Es war ein meergrüner Grabhügel, ein meilenlanger Berg aus grünem Schlamm, Apfeljadegrün, chrysoprasgrün, graugrün wie Flintenstein. Es war ein katastrophales Ding, das man weder aus der Bibel noch aus der Menschheitsgeschichte kannte, ein Ding, das wie eine riesige Pestbeule aus Meeresschleim über dem warmen weißen Strand von Miami lag, der nun schwer war von laufenden, schreienden Menschen – ein Ding, das Hunger hatte und fressen mußte.
Helle Fetzen drehten sich in seinen trägen Wasserwirbeln, die aus seinen eisigen Tiefen hervorgedrungen waren. Fragmente weißer Knochen, kalkweiß und gezackt, wurden auf den Sand gespuckt. Das Ding streckte Arme aus, die wie heißes Wachs heranflossen, wissend, hungrig. Adern durchzogen diese Arme wie Bänder aus weißer Jade in grüner Transparenz, wurden blütenrosa, rosa, purpurrot.
Maria Elsa Sturm lag im weißen Sand, unter der warmen Sonne, in den starken Armen des sonnengebräunten Rudolf Weltmann, vor den blicklosen Augen Heinrich Sturms. Der Zoologe Heinrich Sturm erwachte, kehrte in die Gegenwart zurück, mit Entsetzen in den Augen, im Gehirn, in seinem ganzen Sein. Der Zoologe Heinrich Sturm sah die Zungen des grünen Meeresschleims über den knochenweißen Sand von Miami lecken, sah, wie sie zuckende Stückchen menschlichen Lebens verschlangen, tote Dinge ausspuckten, die unverdaulich waren. Der Zoologe Heinrich Sturm sah dieses unwahrscheinliche Ding, hoch wie ein Berg, über den goldbraunen Körper Maria Sturms herfallen, sah, wie es die dunkelbraune Gestalt Rudolf Weltmanns aufleckte, er sah den Meereswall anschwellen, zucken, durchfurcht von gierigen inneren Strömungen. Er sah ihn abebben, schläfrig zusammensinken, die Beute genießen. Er sah den hellroten, zerrissenen Badeanzug, den Maria Sturm getragen hatte, aus grünen Tiefen hochwirbeln, auch die schwarze Badehose Rudolf Weltmanns. Er sah zwei weiße, nackte Schädel auf der glitzernden Oberfläche des Dings schaukeln, bis sie auf den Haufen abgenagter Gebeine flogen.
Die Welle, meilenlang und berghoch, die Welle, die keine Welle mehr war, lag da, vollgestopft mit jungem Fleisch, getränkt mit warmen Blut. Meilenlang und berghoch, und kleine Insektenmyriaden von Menschen rannten davon, schrien, wurden festgehalten, starben. Doch dann rottete sich die Menschheit zusammen, und die kleinen Waffen der Menschen griffen das riesige, satte, unzerstörbare Ding an. Bomben fielen herab wie Samenkörner aus der Hand eines Sämanns, regneten als harmlose Tropfen aus dem blauen Himmel herunter. Ein schrecklicher Lärm erschütterte die Ohren der Menschen, zerschmetterte Fenster, ließ Häuser einstürzen, donnerte in prahlerischer Rachsucht.
Grüne Schlammfontänen stiegen zäh und langsam auf. Tiefe Wunden öffneten sich, zeigten meergrüne, dunkle Tiefen, die sich wellenartig bewegten, dann schlössen sie sich wieder, ohne Narben. Ziegel bröckelten von einem Sims, Glas klirrte an zerbrochenen Fenstern. Die Menschen liefen verwirrt umher und starrten fasziniert auf den Tod. Und der Zoologe Heinrich Sturm stand allein da, ein grauer alter Fels, gegen den das wilde Durcheinander brandete, an dem es sich brach, und er sah nur den goldenen Körper Maria Elsa Sturms, die nachtblauen Augen, die vollen Lippen…
Lange Wellen rollten schläfrig vom fernen Blau des Golfstroms heran, schwollen an, sanken in sich zusammen, schwollen wieder an, überspülten in cremigem, weichem Schaum den knochenweißen Sand. Eine Welle nach der anderen kam heran, hob und senkte sich, stieg immer höher an, als sich die Flut heranwälzte. Die Wellen stiegen so hoch in den Himmel empor, daß sie den meergrünen Grabhügel überspülten, die rotgeäderte Ungeheuerlichkeit badeten. Und die roten Bächlein verblaßten, wurden rosa, dann grau – und dann leuchtend weiß. Die Wellen wuschen das Ding, kitzelten seinen monströsen Gaumen, schmeichelten ihm. Schließlich versank es in den Wellen und verließ den weißen Strand von Miami, der leer und nackt dalag, leer bis auf die Haufen von Knochen und bunten Stoffetzen.
Viele Kameras hatten entlang der meilenlangen Kampflinie geklickt, während das Ungeheuer gierig fraß, Mikrofone hatten die Todesschreie aufgenommen, die über Tausende von zitternden Lippen kamen. Aber nicht meine Kamera…
Die Menschen wandten sich ab, von Grauen überwältigt, drehten sich wieder um, starrten erneut in entsetzter Faszination auf die weißen Hügel, auf die Gebeine von Männern, Frauen und Kindern. Aber ich nicht.
Andere Augen sahen diese Vision des Unglaublichen. Andere Lippen erzählten mir davon, wenn ich fragte. Ich sah den Zoologen Heinrich Sturm nicht, als er der Masse grinsender Totenschädel den Rücken kehrte und sich mit müden Schritten dem Strom der Menschen anschloß, als er mit zerknitterten, heimlich gesammelten Scheinen die Schulden der verstorbenen Maria Elsa Sturm, des ebenfalls verstorbenen Rudolf Walter Weltmann bezahlte.
Ich sah den Zoologen Heinrich Sturm nicht, als er das Hotel verließ, mit seinem abgewetzten Koffer, der von Etiketten übersät war, mit seinem runden schwarzen Hut, mit seinen dicken dunklen Brillengläsern. Ich sah ihn nicht, als er verschwand.
Und niemand, der ihn sah, kümmerte sich um ihn.
Jetzt gab es niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte.
Aus dem Süden kamen Gerüchte von einem Gott!
In den Anden war ein Gerücht von einem goldenen Gott entstanden, von einem Gott, der die Berge überquerte, dessen Fäuste Zorn und Rache versprühten. Ein Gott, wütend über die Menschen und ihre Werke.
Ein Gott, der sich rächen wollte an den Menschen, die den Boden und die Felsen und das Metall versklavt hatten. Ein Gott, der neidisch war auf die Macht der Menschen über die seelenlose Materie.
Ein Gott, der gewachsen war, wie ein Berg wächst, mit berstenden, sich auftürmenden, verschiebenden Massen, die sich allmählich zu einem harmonischen Gebilde formen. Im goldenen Schädel des Gottes lag wachsende Weisheit, in seinen Kristallfäusten wachsende Macht. Es war ein Gott der Schwachen, der die Schwäche verachtete, aber mitleidlos die Stärke verfolgte, ein Gott, der über Adobehütten hinwegstieg, um die Wellblechdächer der Minenhütten zu zertrampeln, die am Rand einer klaffenden Wunde im alten Fleisch der Erde standen.
Ein Gott mit einer Macht, die greifbar und grausam war – und der winselnden Doktrine von der Liebe des weißen Menschen zu allen Menschen völlig fremd. Es war ein Gott, der ohne Stimme aus der Ferne sprach, von Dingen, die alte Erinnerungen weckten, den alten Stolz im Blut der kleinen braunen Männer wachriefen- und in jenen anderen Männern, in deren Adern das Blut brauner Könige floß.
Es war ein Gott der Gerechtigkeit – ein Gott der Revolution.
Ein Gott, der die Menschheit wieder in Angst und Schrecken versetzen sollte.
Im Süden – Revolution. Kleine braune Menschenmassen überschwemmten die Berge, ergossen sich in die Täler, schlugen und traten, stachen und brandschatzten. Revolution in kleinen Orten ohne Namen. Revolution in schmutzigen Dörfern, mit Namen, älter als Amerika, Revolution in Städten mit stolzen kastilischen Namen, in Städten, wo weiße Frauen promenierten und weiße Männer ihnen schöne Augen machte, wo braune Menschen Staub im Rinnstein waren.
Revolution in Catamarcam, in Tucuman, in Santiago del Estero. Revolution ein halbes Tausend Meilen weiter entfernt, in Potosi, in Cochabamba, in Quillacolla. Eine Revolution, die die königlichen Städte der Anden überflutet – Santiago, La Paz, Quito, Bogota. Eine Revolution, die sich wie eine Seuche an das Rückgrat eines Kontinents heranpirscht, die sich in die Seelen rasender brauner Krieger aus den Bergen, aus der Pampas, aus den öden Wüsten und dampfenden Dschungeln fraß. Das Blut brauner Ahnen geriet auch unter weißer Haut in Wallung, hinter blauen Augen. Wie eine Flamme durchzuckte die Revolution die Braunen und Weißen, die fast Weißen, die Halbweißen, die kaum Weißen, sie alle erinnerten sich an das Blut ihrer alten Könige im Federnschmuck. Gewehre gegen Macheten, Bajonette gegen Messer, mit Rasierklingen gewetzt. Giftgas gegen Giftpfeile.
Und auf der Spur der Revolution die Schritte eines goldenen Gottes…
Die Revolution breitete sich aus, über die Grenzen von Chile nach Argentinien und Bolivien, ins Peru der Inkas. Die Revolution verließ den heißen Trog des Amazonas im Landesinneren, überschwemmte Brasilien, die Guyanas, Ecuador, Kolumbien, Venezuela. Die Revolution versperrte den Panama-Kanal, füllte den noch größeren Kanal von Managua mit blutigen Leichen, durchzog die dunklen Wälder von Honduras, Guatemala und Yucatan. Ein Kontinent war überwältigt, und niemand wußte, warum, und das Gerücht von dem goldenen Gott verbreitete sich nur flüsternd.
Männer wie ich gingen hin, um zu sehen und zu hören, um zu erzählen, was sie gesehen und gehört hatten. Männer wie ich schlichen in die verlassenen Orte, über die die Revolution hinweggestürmt war, und fanden Leere, fanden einen Kontinent, zertrampelt von den fliehenden, blutenden Füßen kleiner brauner Männer, vernichtet von einer Angst, die größer war als Todesangst, zerbrochen und zerschmettert unter den gnadenlosen Sohlen des goldenen Gottes.
Ein Dorf, dann eine Stadt – eine Nation, dann ein Kontinent – und die Armeen der weißen Nationen wurden entlang der Grenze von Mexiko mobil gemacht, in den dürren Bergen des amerikanischen Südwestens, beobachteten, warteten, fürchteten etwas, das niemand kannte. Ein Halsband aus Stahl um den Hals der weißen Zivilisation…
Umstände, die sich wiederholen, werden zu Phänomenen. Phänomene, die sich wiederholen, werden zu Gesetzen. Ich fand einen Umstand, der sich immer von neuem wiederholte, der phänomenal wurde – und dann gesetzmäßig. Ein Mann mit rotem Haar und Knollennase, der sich in den Lüften auskannte wie ein Vogel, und ein alter Mann, der durch dunkle Gläser starrte und etwas in seinen Bart murmelte…. Wie sie zusammengekommen waren, wußte niemand. Wohin sie gingen, konnte man nur erraten. Die Schwingen ihres großen Flugzeugs glitten aus dem Sonnenuntergang heran, schimmerten silberweiß in der Mittagssonne. Sie kamen und gingen, und niemand fragte sie nach dem Woher und Wohin.
Krieg am Rande Amerikas. Krieg zwischen weißen und braunen Menschen. Und hinter den braunen stand ein Wesen, das mehr war als ein Mensch. Der Tod regnete vom Himmel auf die kleinen braunen Männer herab, die sich in der offenen Wüste zusammengerottet hatten, auf die grünen Dschungel, wo sie sich vielleicht versteckten, auf öde Felsen, durch die sie vielleicht Tunnels gegraben hatten. Der Tod vergiftete die Flüsse und die in den Fels gehauenen Höhlen. Der Tod lag wie ein gelber Nebel in den Arroyos und ergoß sich in Schluchten, wo braune Männer hinter Felsblöcken und in Felsspalten verborgen lagen. Flammen strichen über das Gesicht von Mexiko hinweg, und die braunen Horden zerstreuten sich und traten den Rückzug an, flüchteten in wilden Haufen. Die Wut der Weißen flammte nun auf, wo die Wut der Braunen geglüht hatte. Die eine Hölle war zu Ende, die neue begann.
Und dann ertönte aus Tehuantepec ein Trompetenschall, ordnete die wirren braunen Haufen, stellte sich der weißen Rachewelle entgegen. Die Herausforderung eines Gottes…
Flugzeuge dröhnten im wolkenlosen blauen Himmel über Oaxaca, übersäten die Berge mit gnadenlosem Tod. Höfliche, nette Generäle saßen beisammen und tranken und unterhielten sich in einem halben Dutzend Sprachen, wo immer sie ein schattiges Fleckchen fanden. Die Sonne brannte herab auf die Plaza von Oaxaca, als die Siesta angebrochen und das Donnern des Krieges zu einem Schlummerlied herabgesunken war. Und da tönte aus den östlichen Bergen der herausfordernde Ruf des goldenen Gottes, hallte von den nackten Felswänden herab.
Ich hörte den Ruf. Er klang wie ein dumpfes Donnern im Osten. Ein deutscher Major am Nebentisch murmelte: »Donner.« Und ich hörte es noch einmal. Der Franzose neben ihm sah für einen Augenblick von seinem Glas auf. Das Donnern durchdrang ein drittesmal die Stille, klang wie eine drohende Himmelsstimme, und auf der ganzen schattigen Plaza lauschten die Männer und wunderten sich.
In weiter Ferne, auf der anderen Seite der Berge, in Tehuantepec, begannen Geschütze zu krachen, und in der Radiohütte hinter uns klickte nervös eine Klopfertaste. Der Franzose lauschte, seine Lippen bewegten sich. Ein englischer Lieutenant schritt in die Sonne hinaus, verschmolz dann mit den Schatten im Säulengang.
Und aus dem Osten kam der herausfordernde Ruf des Gottes.
Ich hörte den triumphierenden Schrei über die Berge hallen, während die Geschütze in Tehuantepec krachten, zum letztenmal. Ich sah ein Licht in den Augen eines Offiziers, ein Licht, das nicht da sein sollte, ein wildes, fanatisches Licht. Er hatte einen spanischen Namen und stammte aus der mexikanischen Provinz Zacatecas. Der Deutsche starrte ihn an, auch der Franzose. Ein paar Engländer folgten ihm, als er sich davonstahl. Der Funker kam aus der Radiohütte und salutierte, gab dem Franzosen einen gelben Papierstreifen. Er zuckte mit den Schultern und gab das Papier dem Deutschen. Ein Russe kam heran und blickte dem Deutschen über die Schulter, ein Italiener, ein Amerikaner und ein Japaner gesellten sich hinzu, und ihre Köpfe wandten sich langsam zur Seite, als sie dem fernen Geknatter der Waffen lauschten, das sie nie mehr hören sollten. Und wieder stieß die Stimme der Berge ihren Triumphschrei aus, ließ mir beinah das Blut in den Adern gefrieren. In den Adern aller Männer in Oaxaca, die diese Stimme hörten.
Der sieghafte goldene Gott schrie seine Herausforderung der Menschheit entgegen, und das ferne Dröhnen eines Flugzeugs antwortete, das aus dem Norden kam.
Es flog über uns hinweg und begann zu kreisen, um außerhalb der Stadt zu landen. Ein Armeewagen raste davon und kam zurück. Ich kannte zwei der drei Männer, die steifbeinig aus dem Auto stiegen – den großen, rothaarigen König der Lüfte, Jim Donegan, und den gebeugten, grauhaarigen Zoologen Heinrich Sturm.
Und dann erkannte ich auch Nicholas Svadin, den einst toten Herrscher der Welt.
Svadin gegen den König des Goldes…
Wieder hallte die metallische Donnerstimme über die Berge, und ich sah, wie sich Svadins dicker, kahler Schädel lauschend zur Seite wandte. Auch der alte Heinrich Sturm lauschte, ebenso der rote Jim Donegan. Aber ich sah nur Nicholas Svadin.
Fünf volle Jahre waren seit jenem Augusttag in Budapest vergangen. Wachs klebte an seinem blauweißen Kinn, Wachs drückte auf den schweren Lidern. Eine faltige blaue Kerbe durchzog seine weiße Stirn. Sein großer Körper war wabbelig und aufgedunsen, die dicken Finger unter den kurzen Nägeln schimmerten bläulich. Ein scharfer Geruch lag in der Luft, der Geruch, den die Totenlilien in Budapest verdeckt hatten, aber den in der Sonne von Mexiko nicht einmal tausend schwitzende Menschenleiber übertünchen konnten.
Sie sprachen miteinander – Svadin, die Generäle, Sturm, der rote Jim Donegan aus Brooklyn. Donegan nickte, ging zu dem wartenden Wagen, verschwand im weißen Mondlicht. Bald hörten wir das große Silberflugzeug über uns dröhnen, das sich nach Norden wandte.
Ein Tag – zwei Tage – drei… Wir Außenseiter sahen nichts von Svadin, aber Männer aus allen Nationen arbeiteten in der sengenden Sonne und in samtigen Nächten, sägten und hämmerten, bauten unter Heinrich Sturms Anleitung einen großen Apparat aus Holz und Metall.
Vier Tage – fünf, und endlich standen wir am Rand der von Menschen geschaffenen Stadt Oaxaca und starrten auf den monströsen Apparat und die einsame Gestalt, die daneben stand – Svadin. Seine dicken blauen Finger glitten zu einem Schalter, und aus dem gigantischen Ding tönte die brüllende Herausforderung der Menschheit, wurde dem gigantischen Wesen entgegengeschleudert, dem Gott des Goldes, der über die Berge schritt.
Die festgestampfte Erde unter unseren Füßen erbebte, als die gewaltige Stimme erklang und gnadenlos in unseren Ohren dröhnte. Sie donnerte und schrie ihre Verachtung heraus, und als Antwort hallte jene andere Stimme über die blauen Berggipfel. Stunde um Stunde - bis wir alle glaubten, wahnsinnig zu werden, den Wahnsinn geradezu herbeisehnten, bis die Sonne tief am Himmel stand und die Berge rot bemalte – bis nur noch Svadin und der alte Heinrich Sturm übriggeblieben waren und Seite an Seite den Apparat beobachteten, aus dem die tosende, trotzige beleidigende Stimme drang. Dann flackerte über die Berge im fernen Osten ein Licht.
Es war ein Lichtdiamant, der über den purpurnen Horizont kroch. Es war eine Nadel aus weißem Feuer, die sich über den Bergen hob und senkte, die über die Täler glitt, über die nackten Grate sprang, anschwoll und höher stieg, immer größer und mächtiger vor den Schatten der hereinbrechenden Nacht. Es war eine funkelnde Flammensäule über Oaxaca.
Es war der goldene Gott.
Quarz ist ein Gestein, und Quarz ist ein Brei, und Quarz ist ein kristallenes Juwel. Gold ist Metall, und Gold ist eine Farbe, und Gold ist die Gier der Menschen. Schönheit und Furcht – Ehrfurcht und Gier – das Ding über Oaxaca war eine Säule kristallischer Flammen, anthropomorph, gebaut aus bemalten, nadelförmigen Juwelen, und die purpurroten, blauen und rauchgrauen Schattierungen von kolloidalem Gold befleckten den schimmernden Körper, mit Adern und Nerven und Röhren aus dem fetten Gold der Erde, mit einem Pudding aus blauem Quarz, der über die steinharte Gestalt floß.
Es war ein Gigant aus einem Mythos, aus einem Haschisch-Trauma, ein Monstrum, aus der Erde geboren, mit der Kraft der Erde versehen, und neidisch auf die zweibeinigen Parasiten, deren Gestalt es imitierte. Seine mit spitzen Dornen bedeckten Hufe donnerten auf den Felsgipfeln wie Gesteinslawinen. Die Arme, die wie Dreschflegel aussahen, peitschten die nackte Erde. Der Schädel war ein Kristallkelch, mit mattiertem Gold ausgekleidet. Ein Kopf ohne Stirn, mit Augen, die wie Saphire glühten, von einem inneren Licht erhellt.
Es brüllte mit dem Donner zermalmender, rasender, knirschender Atome, mit der dumpfen Stimme eines Erdbebens. Es war das Phantom der letzten irdischen Rache an dem plündernden, forschenden, diebischen kleinen Menschen, der wie ein Floh auf dem Fleisch der Erde umherkroch. Einen Augenblick lang stand das Wesen da, stand am Horizont – und aus dem Norden glitt ein Flugzeug heran, zeichnete sich mückenklein vor den Sternen ab. Es flog so hoch, daß seine Schwingen immer noch hell schimmerten, obwohl die Sonne untergegangen war und der Schatten der Erde purpurschwarz auf dem Himmel lag. Es stieg zu jener unvorstellbaren Höhe auf, in der die Sonnenstrahlen noch immer die Schultern des goldenen Gottes bemalten. Ein Flugzeug – und seiner Spur folgte ein anderes und noch eines eine Schar flüsternder Punkte, die die Tropennacht durchdrangen.
Der rote Jim Donegan sah die monströse, gesichtslose Fratze, die sich ihm entgegenhob, um seine Ankunft zu beobachten. Er sah die weißen Feuer in den mondgroßen Augen gefrieren, sah die Arme an dem formlosen Körper baumeln wie kristallische Schwingen. Er sah die massiven Goldadern, die den Körper durchzogen, die sich wanden und zuckten wie von innerem Leben durchpulst, und er sah auch die Stirn aus geballtem Gold, die im inneren des Kelches lag wie eine Würmermasse in einer Juwelenschale. Er sah den Schädel größer werden, als sein Flugzeug darauf zuglitt, groß wie ein Berg, der die ganze Nacht auszufüllen schien. Er sah die Augen, in denen Sterne blitzten, sah die gewaltigen Arme nach oben schwingen. Sekundenlang blieb sein Flugzeug reglos in der Luft hängen, dann schoß es nach unten in das Monstergesicht, zwischen die starrenden Saphiraugen.
Der Pilot hing an einem Seidenschirm, sah die Krakenarme zu dem kristallischen Schädel hinaufschnellen, aus dem nun eine grüne Flammenblume wuchs. Und Jim Donegan sah das zweite Flugzeug mit kreischenden Schwingen hinabtauchen, das dritte, das vierte. Die Luft war voller weißer Blasen, Fallschirme, die in das Dunkel der Nacht herabflatterten. Er sah den Schatten des Erdenrands die gigantische Gestalt hinaufkriechen, die mit gespreizten Beinen zwischen den kahlen Felsen stand. Eine grüne Flamme brannte im goldenen Gehirn, eine Flamme, die den Quarz auffraß, wie ein Funke Zunder frißt. Eine Flamme, die das Gold verschlang, das kristallische Ungeheuer in einer Flut brennender Tränen hinwegschwemmte, immer schneller. Und ein Flugzeug nach dem anderen prallte mit seiner tödlichen Ladung in diese kristallische Masse.
In blinder, wilder, von Schmerz gezeichneter Wut schritt der goldene Gott über Oaxaca dahin. Grüne Flammen fielen von ihm wie funkelnde Schneeflocken, überzogen die nackten Felswände mit Blatternarben. Die Hufe durchfurchten den steinigen Boden, entwurzelten Bäume, zertrümmerten Häuser, vernichteten die von Menschen geschaffene Stadt, von den Menschen, die den Gott herausgefordert hatten. Einzelne Teile der von Flammen verzehrten Arme fielen wie Meteore herab, blieben brennend in der Nacht liegen. Einen Augenblick lang stand er reglos da, stand sterbend über der Ruinenstadt Oaxaca, wo Nicholas Svadin wie ein Zwerg zwischen den zerfallenen Mauern wirkte, an seiner Seite die gebeugte Gestalt Heinrich Sturms. Und dann loderte die verzehrende Flamme heller zum Himmel empor, als das Feuer eine Lebensquelle berührt hatte. Eine blitzende Lichtsäule stieg zu den Sternen auf. Ein Riesenschritt, noch einer, und dann erzitterte die Erde, als der lebende Berg herabfiel aus der brennenden Nacht. Zwischen den östlichen Bergen lagen die zerbrochenen Gliedmaßen des Kolosses aus dem Süden, verstreut wie gesätes Korn, und in der steinernen Flanke von San Felipe fraß sich eine kalte grüne Feuerzunge langsam in das Innere der Erde hinein, zu ihrem Herzen.
Einer, der einst ein Mensch gewesen war, wandte sich ab von der Verwüstung und verschwand im Dunkel – Nicholas Svadin. Sein totes Fleisch war feucht vom Tau der Nacht, und sein großer Körper bewegte sich heimlich und lautlos wie eine Katze, während Heinrich Sturm ihm in die Finsternis folgte.
Svadin, der der Herausforderung des goldenen Gottes begegnet war – und gesiegt hatte…
Das Ding aus dem Meer, das Ding aus der Erde – und das Ding, das die Menschheit hervorgebracht hatte.
Drei Dinge, die die Grenzen des menschlichen Wissens sprengten, des Wissens, das der Mensch über sich selbst und seine Welt besaß, unwahrscheinlich, unmöglich. Drei Dinge, von den Toten auferstanden, vom unbeseelten, vom Geistlosen, lebten und nährten sich, wanderten über die Erde, zwischen anderen Dingen, die lebten und aßen und dahingingen, zwischen den Dingen, die wahrscheinlich und möglich waren. Drei Dinge, die die Weltenherrrschaft gesucht hatten – ein Ding, vom Hunger getrieben, ein Ding, vom Menschenhaß beflügelt, und ein Ding, das nun zum göttlichen Helden aller Menschen geworden war.
Eines der drei Dinge lag zerstört in Oaxaca, und die braunen Menschen, die seinem Willen gefolgt waren, flohen nun vor der Rache ihrer weißen Mitmenschen. Ein Ding badete noch immer im tropischen Meer, wo es sich gierig ernährte. Und das dritte Ding hieß Nicholas Svadin.
Gerüchte breiteten sich aus wie Wellen in einem ruhigen Teich. Sogar ein Gott wird alt. Svadin war ein Gott, dessen Wort Gesetz war, dessen Weisheit übermenschlich war, dessen Gehirn seltsame Wissenschaften entwickelte, der der Welt Annehmlichkeiten und Zufriedenheit brachte, die man nie zuvor gekannt hatte. Im Leben war er ein Genie gewesen, im Tod war er ein Märtyrer. Er war von den Toten auferstanden, trug das Merkmal des Todes, und die Menschen verehrten ihn als Gott, sahen in ihm die Verkörperung göttlicher Weisheit. Er hatte die Welt neu geschaffen, und die Welt war zufrieden. Er hatte den gigantischen goldenen Gott vernichtet, und die Menschen folgten ihm wie die Schafe. Aber es gab auch einige, die sich nicht von Göttern beeindrucken ließen, auch nicht von gottähnlichen Menschen, und es gab Gerüchte, wispernde, fragende Gerüchte.
Es war mein Job, auf solche Gerüchte zu hören, dem Flüstern zu lauschen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, nach der sie fragten.
Wenige Männer standen Svadin nahe, und ein einziger von diesen wenigen erzählte seltsame Geschichten. Ein Mann, der sich in anderen Zeiten mit solchen Geschichten seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Svadin, der immer noch gezeichnet war von den Malen des Todes, obwohl er von den Toten auferstanden war, auf dessen Stirn immer noch das Einschußloch der Kugel zu sehen war, dessen Gesicht noch weiß war vom Wachs des Leichenbestatters. Svadin ernährte sich nur, wenn er allein war. Er nahm eine sonderbare Flüssigkeit zu sich, die genauso stank wie sein Körper. Er ließ sonderbare Erinnerungslücken erkennen, wußte oft die einfachsten Dinge nicht, und doch war er ein größeres Genie als in seinem Leben vor dem Tod. Sein einziger Vertrauter war der verrückte Zoologe, Heinrich Wilhelm Sturm.
Ich hörte von einem seltsamen, elastischen Flechtwerk, das ein Handwerker aus Wien hergestellt hatte und das Svadin unter seinen dicken, wattierten Kleidern trug. Ich hörte von einer hochgeborenen Frau, die sich Svadin angeboten hatte, und von dem dumpfen, verständnislosen, starren Blick, der sie aus seinem Schlafzimmer jagte.
Ich hörte von den Ratten, die in seinen Gemächern umherstreiften, in jenen Räumen, wo keine Katze bleiben wollte, und ich hörte von den merkwürdigen Gestellen, die er rings um sein Bett errichtet hatte. Und ich hörte von dem Geier, der sich auf seine Schulter gesetzt hatte, von dem zweiten, der über Svadins Kopf gekreist war und seinen dünnen Hals gereckt hatte.
Ich sah Nils Svedberg, den Attache’ aus Anglo-Skandinavien, in Berlin, als er drei Mauser-Kugeln in den wabbligen Körper des Erdendiktators feuerte. Und ich sah auch, was die Menge zum Abfall warf, nachdem sie ihre fanatische Rachsucht befriedigt hatte. Ich sah die Kinder, die mit blutigen Souvenirs nach Hause kamen. Und ich hörte Svadins dumpfe Stimme, als er seinen Untertanen dankte.
Gerüchte, Flüstern, Fragen ohne Antwort. Svadin – für manche ein Gott, in eine pseudomenschliche Gestalt hineingeboren, unsterblich, allmächtig. Für manche ein Mensch, unrein, mit menschlichen Gelüsten und Gewohnheiten, für manche ein Ding, das aus der Hölle gekommen war, um die Menschheit zu zerstören.
Und das Ding aus dem Meer ernährte sich in der Karibik, im angeschwollenen Amazonas, an den dicht bevölkerten Küsten von Guyana und Brasilien. Die Teufelsinsel war ein Friedhof. Und dann – Rio!
Ein Flugzeug kreuzt über den südamerikanischen Küsten. Der Pilot ist ein rothaariger Amerikaner mit Knollennase. Ein abgezehrter, grauhaariger, bebrillter alter Mann sitzt neben ihm und starrt hinunter in die dunklen Wasser, sucht nach noch dunkleren Schatten. Sie stellen die langsame Wanderung des Todes entlang der tropischen Küsten fest, und in Rio de Janeiro, der Königin der südlichen Städte, ist das Meisterwerk menschlicher Ingenieurskunst fast vollendet.
Jim Donegan und Heinrich Sturm beobachten die Küsten und berichten, was sie gesehen haben, während Nicholas Svadin in Rio seinen großen Plan verwirklicht.
Rio – wieder aufgebaut aus den Ruinen der Revolution. Rio, schöner denn je, ein weißes Juwel, das den grünen Busen Brasiliens schmückte. Rio mit seinem großen Hafen, der seltsam leer war, mit den hufförmigen, verlassenen Stränden – und weiter draußen, im saugenden Mund des Atlantik, eine Mauer mit nur einem einzigen großen Durchgang. Menschenmengen drängten sich auf den Berghängen und warteten. Vergifteter Abfall lag im blauen Wasser des Hafens, geschlachtete Rinder aus Argentinien, aus Amerika, aus Australien, Fische, die auf den Wellen trieben, den weißen Bauch nach oben gedreht, tote Hunde, tote Katzen, tote Pferde – und alle Toten aus Rio und aus dem ganzen Süden, vollgestopft mit Opiaten, schaukelten in den blauen Wogen des Hafens von Rio de Janeiro, und an dem Durchgang zum Atlantik war ein glitzernder grüner Schleim zu sehen, grüne Wellenberge die sich gegen die Mauer stemmten, ein graugrünes Ungeheuer, das eine fette Beute witterte. Ein silbernes Flugzeug kreiste im Himmel. Ein kleiner schwarzer Fleck zeichnete sich auf dem weißen Sandstrand ab.
Svadin – und das Ding aus dem Meer.
Futter wurde ihm angeboten, und es fraß. Schleimig ergoß es sich in den großen Hafen von Rio. Es verschlang die mageren Bissen, die auf den Wellen trieben, dann flutete es auf die verlassene Stadt und den untoten Mann zu, der am Strand stand und es beobachtete. Als sein letzter schlammiger Pseudofuß durch das von Menschen geschaffene Tor geglitten war, seufzten die Menschen auf den Berghängen tief auf. Langsam schloß sich das Tor, trennte den Hafen vom offenen Meer. Große Pumpen begannen zu dröhnen, und kaltes grünes Flußwasser floß in den Atlantik.
Das Flugzeug war auf dem Strand gelandet, und Svadin kletterte hinein. Nun hob es sich wieder, kreiste über der Stadt und über dem Hafen. Das Ding war vorsichtig. Es hatte wie alle Raubtiere gelernt, daß auch kleine Insekten ihren Stachel haben. Es spürte den feinen Unterschied im Geschmack des Wassers, in dem es jetzt lag, spürte die Wellenbewegung, als Svadins kolossale Pumpen am Hafen saugten, fühlte die Anspannung, die in der Luft lag. Seine wilde Lust nach Fleisch ließ nach. Es ballte sich zusammen, wirbelte unbehaglich in den Mauern des Hafens hin und her, schlug fragend gegen den Wall, der es vom Atlantik trennte. Seine glitzernden Flanken hoben sich schwerfällig aus dem blauen Wasser. Es verdichtete sich zu einem großen Ball aus trüber Jade, der auf den ruhigen Wogen des Meeres schaukelte. Es lag da wie ein eingeschüchtertes Tier – furchtlos, abwartend.
Ein Tag nach dem anderen verstrich unter der sengenden Sonne, während sich neugierige Menschen an den weißen Mondstränden des Beira Mar drängten, während devote Menschenmassen das Igreja de Penha umlagerten, das von der Revolution verschont geblieben war, auf seinen windigen Stufen knieten, in vielen Kirchen Rios beteten, während das glitzernde Wasser des Hafens Zoll um Zoll sank und der grau-schwarze Schleim auf dem Meeresboden in der tropischen Sonne dampfte und stank und das riesige grüne Ding aus der See dalag, im sinkenden Wasser, von Drogen betäubt.
Auf dem Gipfel des Corovado stand der majestätische Christus von Rio, starrte hinab auf die Menschheit und den Feind der Menschheit. Auf dem Zuckerhut, der zwischen Land und Meer in den Himmel ragte, stand Nicholas Svadin und starrte hinab, und mit ihm Heinrich Sturm. Über dem sinkenden Wasser der Bucht kreuzten große Luftschiffe, warfen die giftigen Chemikalien ins Meer, die das Ding einschläferten. Und in der Juwelenstadt stand Ramon Gonzales, das menschliche Bindeglied zwischen dem alten lateinischen Europa und dem neuen Amerika, und starrte mit brennenden Augen aufs Meer. Auf der anderen Seite der schlafenden See standen oder saßen drei andere Männer und starrten mit grimmigen Augen ins Nichts – Moorehead, der Amerikaner, Nasuki, der Asiate, der blonde Rasmussen aus Anglo-Skandinavien.
Ein Tag nach dem anderen verstrich, während der Giftgestank aus Rios verdorrendem Hafen aufstieg, dahinzog über die weißen Straßen der Stadt, während , das dunkle Wasser immer tiefer sank, während die jadegrünen Berge aus Schleim in der Sonne schmorten. Ein Tag nach dem anderen verstrich, während die Menschen, die sich zum Beira Mar zurückgezogen hatten, ins felsengesäumte Niteroi, wieder die kühlen grünen Berge aufsuchten, um zu warten und zu schauen. Eine Handvoll müder Männer, in der Königin der südlichen Städte. Noch eine Handvoll auf dem nackten Gipfel des Zuckerhuts und zu Füßen des mächtigen Christus vom Corcovado, der wunderbarerweise unberührt geblieben war vom wütenden goldenen Gott. Und über allem das Dröhnen und Kreischen der kreisenden Flugzeuge und das dumpfe Pochen der Riesenpumpen.
Die meisten Lebewesen gewöhnen sich an Drogen, verlangen mehr und mehr und immer mehr, um ihren Appetit zu befriedigen. Vergiftetes Fleisch hatte das Ding eingelullt, und der Drogenregen, der von den Flugzeugen herabfiel, hatte es betäubt, das langsame Plätschern der Wellen an seinen schleimigen Flanken wiegte es in sanfte Träume von künftigen Orgien.
Und jetzt, als das Wasser gesunken war und die Sonne herabbrannte auf seinen nackten Leib, erhob sich das riesige Ding. Wie eine große grüne Schnecke kroch es über das weiße Band des Beira Mar, in die Juwelenstadt. Gebäude stürzten ein unter seinem Gewicht, Wände brachen zusammen unter dem fragenden Druck der Pseudofüße. Es kroch über die zerbrochene Stadt in die Täler zwischen den Bergen, und auf dem Gipfel des Zuckerhuts setzte hektische Aktivität ein. Nicholas Svadin hob die bläuliche dicke Hand, und während er noch gestikulierte, loderte ein Feuerwall in den Straßen Rios auf, versperrte den Zugang zum Meer. Langsam kroch die Flammenmauer ins Landesinnere, und das Ding aus dem Meer wich zurück vor ihrer sengenden Hitze, zermalmte immer mehr Häuser unter seiner schleimigen Masse. Seine schwerfälligen Bewegungen wurden rascher, wütender, und allmählich stieg Furcht in ihm auf, in diesem Wesen, das bisher keine Furcht gekannt hatte. Es fürchtete sich vor den winzigen Menschen, die es mit ihren unbedeutenden Waffen angriffen. Und es lag da wie eine glasige Decke über den zertrümmerten Straßen von Rio, ein Knoten aus zuckenden Schlangenleibern, der sich nach der kühlen, nassen Schwärze der Tiefsee sehnte. Erwachender Zorn würde die Hafenmauer zerbrechen wie ein Zweig unter einer Lawine. Aber es erreichte die Mauer nicht. Seine bebenden Tentakel stocherten im salzverkrusteten Schlamm, der alles war, was die Pumpen in der Bucht von Rio übriggelassen hatten, und in wenigen Minuten waren auch die letzten Tropfen in der gierigen Masse des Dings verschwunden. Und dann schlug Svadin zu.
Ich stand mit meiner Kamera unter dem Christus vom Corcovado. Die Sonne ging unter. Und als der Schatten der westlichen Berge über die Ruinen von Rio kroch, bereitete sich das Ding aus dem Meer auf den Sprung vor, der es über den Zuckerhut tragen würde, über den von Menschen geschaffenen Wall, in den ersehnten Atlantik.
Dann funkelten im Norden, wo die Sonne noch schien, metallische Mücken im wolkenlosen Himmel, summende Maschinen trieben sie der wachsenden Dämmerung entgegen. Eine Rakete erhob sich vom Zuckerhut und explodierte, ein blasser Stern über dem Meer, ließ glitzernde Flammen herabregnen, und die Luft war erfüllt vom Donnern der Luftwaffe – von Bombern, Flugzeugen in allen Größen, aus allen Nationen, eine Monsterflotte, deren Schatten wie eine dunkle Wolke über der See lag.
Sie setzten zum Tiefflug über der Stadt an, und ein weißer Regen von Geschossen prasselte herab, die winzig wirkten vor der Größe der Berge ringsum. Wie Hagelkörner fielen sie herab, und dann kam ein zweiter Schauer, ein dritter, während die Luftflotte über Rio dröhnte.
Und dann traf die erste Bombe.
Ein Feuerball explodierte im Dämmerlicht des Abends, goldene Flammenfontänen schössen himmelwärts, ergossen sich dann auf die nackte Oberfläche des Dings. Tausende von Feuerpunkten umflogen die grüne Masse, Kaskaden verzehrender Flammen – bis das Ding aus dem Meer aufloderte in einer riesigen, strahlend hellen Feuergarbe, die am dunklen Firmament leckte, wo die tödliche Armee der Menschheit immer noch dröhnte, wo mörderischer Regen herabfiel wie ein weißer Vorhang.
Und dann sah ich es, wie der alte Heinrich Sturm es Monate und Jahre zuvor gesehen hatte, wie Nicholas Svadin es gesehen hatte, als er seinen kolossalen Plan begann, um das Ding in den eingemauerten Hafen von Rio de Janeiro zu locken. Flammen, die töten konnten, wo keine andere Waffe der Menschheit Nutzen brachte. Grüne Flammen, die den erdgeborenen goldenen Gott verzehrten, seine kristallischen Muskeln zerfraßen, sein goldenes Gehirn verschlangen. Gelbe Flammen, die den grünen Schleim des Dinges vernichteten, das im Meer entstanden war. Gift, das das Wasser, den Lebensborn des Dings, in einen mörderischen Feind verwandelt hatte.
Und als die kolossale goldene Fackel über den Ruinen von Rio himmelwärts stieg, sah ich den grünen Berg des Dings schrumpfen, zu milchigen Klümpchen gerinnen, verkrustet von verbranntem Alkali. Wasser drang heraus wie aus zusammengepreßtem Käse, gelbe Flammen leckten daran, saugten die Tröpfchen auf. Der schwarze Schleim im Hafen trocknete unter der Hitze. Die Palmen, die immer noch am weißen Strand standen, bogen sich, knisterten in roten Flammen, und die Brise trug den Gestank gekochten Fleisches in unsere Nasen.
Das Stimmengewirr hinter mir war verstummt. Ich wandte mich um. Die Menschenmenge wich eingeschüchtert zur Seite, und eine kleine Schar kam auf mich zu, vom Gipfel des Zuckerhuts von der unerträglichen Hitze vertrieben, die das brennende Ding verströmte. Donegan, mit rotem Haar und roter Nase, bahnte einen Weg für sich und seine Begleiter. Heinrich Sturm folgte ihm auf den Fersen, grauhaarig und gebeugt. Und hinter ihm, umgeben von Männern in reich geschmückten Uniformen, kam die leichenweiße Gestalt Nicholas Svadins.
Ich machte ihnen nicht Platz. Ich stand zu Füßen der Christus-Statue und erwiderte ihre Blicke. Ich starrte auf den roten Jim Donegan, auf den Zoologen Heinrich Sturm, und ich starrte auf das dicke, mißgestaltete Wesen, das sich zum Herrscher der Welt aufgeschwungen hatte.
Ich hatte ihn nicht gesehen seit jenem Abend in Oaxaca vor drei Jahren. Er war schon damals ekelerregend gewesen, aber nun hafteten ihm Geruch und Gestalt des Todes an, wie Lazarus, als er mit leerem Blick aus dem Grab gestiegen war. Ein grauer Umhang hing von seinen Schultern, fiel in dichten Falten um einen Körper, der so verformt und aufgebläht war, daß er nichts Menschliches mehr an sich hatte. Glänzende Fettwülste klebten an seinen Wangen. Seine Finger waren gelbe Klumpen aus krankem Fleisch mit blauen Flecken, seine Beine plumpe Säulen. In seinem bleichen Gesicht glühten zwei helle Augen, wie glasige Rosinen in Sauerteig. Der Gestank der Einbalsamierung vergiftete die Luft rings um ihn. Nicholas Svadin! Der lebende Tote – der Herrscher der Welt!
Ich kannte Donegan von Oaxaca her. Er erzählte mir, was ich bereits erraten hatte. Die Forschungen des alten Sturm, die er an Hand von Schleimfragmenten des Dings, von freiwilligen Soldaten abgehauen, angestellt hatte, waren sehr aufschlußreich gewesen. Sie hatten ergeben, daß sich das Ding aus Molekülen kolloidalen Wassers zusammensetzte. Eine Lebensform, protoplasma-ähnlich, hatte sich entwickelt, ein Fleischfresser, der sich von lebendem Fleisch nährte und Elemente brauchte, die das Wasser ihm nicht geben konnte. Und nun war das Ding vernichtet worden, von zersetzenden Kräften, die das Wasser nicht besiegen konnte, von Natriumbomben, die die kolloidale Struktur des wässrigen Fleisches zerrissen, in Flammen brennenden Wasserstoffs und verkrustetes Alkali aufgelöst hatten. Ein chemisches Feuer, das sich selbst auffraß.
Ich kannte auch Ramon Gonzales. Ich hatte ihn gesehen, als er unter der Sonne von Budapest neben Svadins Bahre gestanden hatte – als Svadin ihm die vereinigten lateinischen Staaten zweier Kontinente überantwortete – als er knöcheltief im grünen Schleim stand, den das Ding aus dem Meer auf den Straßen von Rio hinterlassen hatte.
Und ich sah ihn jetzt, das dunkle Gesicht im gelben Schein verzerrt, während er dem unbewegten Teiggesicht Nicholas Svadins Anklagen entgegenschleuderte. Die Knopfaugen flackerten kaum, als sie Gonzales beobachteten. Die formlose Gestalt zog den Umhang enger um sich. Immer lauter schwoll Gonzales’ hysterische Stimme an, verfluchte Svadin um des Verderbens willen, das er über Rio gebracht hatte, verfluchte ihn für das Ding, das er als, Mensch gewesen war, für das Ding, das er jetzt war.
Kein Zeichen des Begreifens zeigte sich auf dem gedunsenen Gesicht, kein Anzeichen menschlicher Gefühle. Ich spürte die Spannung, die in der Luft lag, spürte, daß es zur Explosion kommen würde. Meine Kamera knipste über Jim Donegans Schulter hinweg Gonzales’ Gesicht, während dieser sein Schwert zog und es durch Svadins hochgeschleuderten Arm stieß. Es bohrte sich tief in die Seite des Herrschers, versank bis zum Heft im Fleisch. Ich sah die Schwertspitze aus dem Rücken ragen, sah Jim Donegans Revolver vor der Kameralinse aufblitzen, als er Gonzales niederschoß. Ich sah auch die dicke, helle Flüssigkeit, die langsam von Svadins Armstumpf tropfte, sah das dicke Ding mit den fünf Fingern, das im Kies zu seinen Füßen lag.
Und über uns stand der Christus vom Corcovado, erhellt vom verlöschenden gelben Feuer, und starrte herab auf den Mann, der von den Toten auferstanden war, um die Welt zu regieren.
Vier Männer hatten die Welt beherrscht, als Svadin in Budapest von seinem Totenbett aufgestanden war. Nasuki, Rasmussen, Gonzales, Moorehead. Gonzales war tot.
Zwei Männer hatten an Svadins Seite gestanden, als er das Ding aus der Erde und das schleimige Ding aus dem Meer vernichtet hatte. Donegan und Heinrich Sturm.
Sturm allein blieb übrig. Im Weißen Haus in Washington zeigte ich Richard Moorehead die Fotos, die ich auf dem Corcovado geknipst hatte. Ich zeigte sie Nasuki in Tokio und Nils Rasmussen in London. Ich erzählte ihnen von anderen Dingen, die ich gehört und gesehen hatte, nannte ihnen die Namen von Männern, die geredet hatten und wieder reden würden.
Ich trug einen kleinen goldenen Beutel unter meinem Rockaufschlag – einen Beutel in der Form der Crux Ansata, des verschlungenen ägyptischen Kreuzes – ein Symbol des natürlichen, heiligen Lebens.
Ich suchte Jim Donegan auf, bevor es zu spät sein würde. Es war zu spät. Seit dem Morgen, als Nicholas Svadins Silberflugzeug auf dem Rollfeld des Budapester Flughafens gelandet war, seit Svadin, Donegan und Heinrich Sturm in die schwarze Limousine gestiegen waren, hatte man den großen rothaarigen Amerikaner nicht mehr gesehen.
Sturm war da, immer in Svadins Nähe, Tag und Nacht, und niemand konnte mit ihm sprechen. Und allmählich wurde er immer seltener gesehen, während sich Svadin in seinen Räumen verbarg, hinter zugezogenen Vorhängen, und seine Diener aus dem Palast schickte. Er baute eine Stahlwand rings um sich herum, die nur der Zoologe Heinrich Sturm passieren durfte.
Irgend etwas braute sich zusammen hinter jenem Eisenring – etwas, das sich schon längst angedeutet hatte, lange bevor Svadin nach Oaxaca gekommen war, um den goldenen Gott in den Tod zu locken, lange bevor der bärtige, bebrillte kleine Wissenschaftler aus Deutschland zum erstenmal an ihn herangetreten war, jener Mann, der nun als einziger sah, der als einziger wußte, ob Svadin noch am Leben war. Und doch drangen Svadins Befehle aus dem großen, leeren Budapester Palast.
Und die Welt begann zu bangen.
Als er von seiner Totenbahre aufgestanden war, hatte Nicholas Svadin das Wissen eines Herrschers und das Genie eines Gottes in sich vereint. Die Menschen hielten ihn für einen Gott und wurden nicht enttäuscht. Er dachte mit diamantener Klarheit, sah kristallklar die Bedürfnisse und die Schwächen der Menschen und der menschlichen Welt. Er gestaltete die Erde zu einem Ort, wo die Menschen glücklich und sicher leben konnten – ohne unerfüllte Wünsche, ohne Unannehmlichkeiten – wo sie ein menschenwürdiges Dasein führen konnten.
Im Lauf der Monate hatte sich Svadin verändert. Sein Geist wurde größer und härter, sein Denken klarer. Wissenschaftler, Ökonom, Diktator – er war alles. Die Dinge, die er befahl, die Anordnungen, die die Menschen auf der ganzen Welt befolgten, waren dem Verstand eines Gottes entsprungen – eines Gottes, der der menschlichen Rasse entstammte. Aber zur gleichen Zeit kam ihm die Menschlichkeit abhanden.
Niemals, seit jenem Tag, als die Totenlilien von seiner Leiche gefallen waren, als sich sein steifer Körper in der Sonne Budapests erhoben hatte – niemals mehr seit jenem Tag hatte er seinen Namen ausgesprochen.
Er war Svadin – aber Svadin war nicht mehr derselbe. Er war kein Mensch mehr. Er war eine Maschine.
Angenommen, eine Maschine konnte alle Fakten abwägen, die den Fortschritt der Menschheit oder das Leben einzelner Menschen bestimmten, konnte mit absoluter, mathematischer Fairness beurteilen, welchen Kurs jeder ansteuern sollte, damit das Wohl der Allgemeinheit gewährleistet war. Wenn das für einen einzelnen Menschen Tod oder Qual bedeutete, was bedeutete das schon, wenn das Wohl der ganzen Menschheit berücksichtigt werden mußte? Wenn eine Stadt oder eine Nation vernichtet werden mußte, um gleichzeitig ein monströses Ding zu zerstören, das die Menschheit bedrohte, mußte Rio nicht glücklich sein, weil es die Gelegenheit erhielt, der gesamten Menschheit eine Wohltat zu erweisen? Kein Mensch würde diese Frage verneinen. Aber Svadin war kein Mensch. Was war er? Was war aus ihm geworden? Die Liga des Goldenen Kreuzes hatte es sich zum Ziel gesetzt, diese Fragen zu beantworten.
Keine Bewegung ist größer als ihre Anführer. Und jene, die das verschlungene Kreuz des Lebens als Abzeichen trugen, wurden angeführt von den drei Männern, zu denen die Welt, abgesehen von Svadin, aufschaute, auf deren gerechtes Urteil sich die Menschheit verließ, auf deren menschliche Entscheidungen sie baute. Denn Svadin konnte keine menschlichen Entscheidungen mehr treffen. Bevor er von den Toten auferstanden war, hatten jene drei Männer die Welt regiert. Und die hatten die Absicht, erneut die Herrschaft zu übernehmen.
Keine geringeren Männer als sie hätten Pläne schmieden können, so wie sie es taten, ohne Svadins Wissen. Niemand anderes als sie hätte alles bis ins kleinste Detail planen können.
Daß die Dinge sich anders entwickelten, war nicht ihre Schuld. Es war die Schuld des Wissens, das sie besaßen, oder ihrer Interpretation dieses Wissens.
Noch hatte ich Jim Donegan nicht gefunden. Und ich hatte auch Heinrich Sturm nicht gesehen.
Auf der ganzen Welt ging die Saat der Revolution auf, verbreitete sich weiter als damals unter den kleinen braunen Männern, die getrieben waren von der Furcht vor dem goldenen Gott. Doch auf der ganzen Welt fiel der Samen der Revolte auf den unfruchtbaren Boden der Angst – der Angst vor einem Mann, der von den Toten auferstanden war, vor einem Mann, der ein Gott war, mit der Macht eines Gottes ausgestattet, mit den Augen eines Gottes, mit der Rachsucht eines Gottes.
Die Menschen, Millionen kleingeistiger, abergläubischer Menschen, fürchteten Svadin mehr, als sie ihn haßten. Auf seinen Befehl hin hätten sie Brüder und Vettern getötet, Väter und geliebte Frauen, Freund und Feind. Vernunft und Gerechtigkeit bedeuteten ihnen nichts. Es mußte eine größere Furcht geben, die sie antrieb – und es war meine Aufgabe, die Quelle dieser Furcht zu finden.
An allen Orten standen Svadins Paläste, überall hielten seine Soldaten in ihren Panzeruniformen Wache. Ich stellte Nachforschungen an und spionierte, hielt Ausschau nach einem roten Schopf, nach einer unglaublich häßlichen roten Knollennase. Und es dauerte lange, sehr lange, bis ich Jim Donegan fand.
Svadins Festung ragte aus den von Unkraut überwucherten Gärten am Stadtrand von Budapest. Ich fand alte Männer, die jene Gärten angelegt hatten, die Bewässerungsanlagen gebaut und den Grundstein des Palastes gelegt hatte, einen Tag, bevor Svadin das Licht der Welt erblickt hatte. Ich suchte Orte auf, die seit Generationen nur von Ratten frequentiert wurden. Meine Finger tasteten in einem stinkenden Dunkel umher, das seit Jahrzehnten nur Ratten kannte. Die Sprossen längst verrosteter Eisenleitern trugen mein Gewicht. Welke Blätter, die jahrelang auf kleine Gitter gefallen waren, wurden weggeräumt, Licht drang hindurch. Der kleine Ägyptische Ankh wurde zum Symbol einer Brüderschaft von Maulwürfen, die unter den Grundmauern von Svadins mächtigem Mausoleum die Erde aufscharrten. Und eines Tages fanden meine tastenden Finger, was sie gesucht hatten.
Ich hörte ein Klopfen durch den dicken Stein. Ich lauschte angespannt, klopfte, lauschte wieder. Nicht nur Donegan war verschwunden. Viele Männer kauerten in ihren dunklen Zellen, lauschten unseren Fragen, beantworteten sie, so gut sie konnten, wiesen unseren Drillbohrern und Schaufeln den Weg durch das Gestein unterhalb von Budapest. Immer näher kamen wir. Sie hatten Möglichkeiten, ohne Worte zu sprechen, aber wir konnten keinen Kontakt aufnehmen mit dem rothaarigen Amerikaner, von dem uns ihr Klopfen erzählte. Irgend etwas verhinderte dies – etwas, das sie uns nicht erklären konnten. Und wir gruben immer weiter, klopften, folgten ihren mageren Hinweisen.
Nun kam eine Zeit, wo wir die Verbindung mit der Außenwelt verloren. Wir drei waren eine Welt für sich, wir vergaßen, daß es noch ein Draußen gab, daß es irgend etwas anderes gab als die große Aufgabe, die uns durch Dunkel und Nässe trieb. Wir erfuhren nichts von der Welt – und die Welt hörte nichts von uns.
Nasuki wurde ungeduldig, auch der Mann, der Gonzales’ Platz eingenommen hatte. Die Arbeit des Goldenen Kreuzes erzielte Fortschritte, die Revolution gewann immer mehr Anhänger, die Nasuki und Gonzales’ Nachfolger, Rasmussen und Moorehead aufforderten, endlich die Initiative zu ergreifen.
Die brütende Stille, die über Svadins Palast lag, die harten, kalten Befehle, die er der Welt durch das Sprachrohr Heinrich Sturm erteilte, um die Zivilisation zu formen wie ein Bildhauer seinen Granitblock, trieben die Männer an den Rand des Wahnsinns.
Wieder flammte die Revolution auf – und diesmal stellte sich Bruder gegen Bruder auf der ganzen Welt, Furcht gegen Zorn, Svadin gegen die großen Vier. Ich habe Bilder von Svadin gesehen, den die Flamme des Krieges auf den Balkon seines Palastes lockte, der den knieenden Menschenmassen tödliche Befehle entgegenschrie. Die Krankheit, wenn es eine Krankheit war, die ihn verändert hatte, schritt rasch voran. Er sah dem Mann, der vor einigen Jahren auf der Totenbahre gelegen hatte, kaum noch ähnlich, dem Mann, in den neues Leben gedrungen war.
Er war riesig, mißgestaltet, monströs, aber die Angst und die Ehrfurcht der Menschen waren so groß, daß sie seine Befehle nicht in Frage stellten, daß sie sogar ihre Kinder hinmordeten, so wie sie Getreide mähten.
Das verschlungene Kreuz war ein Emblem des sicheren Todes. Abtrünnige schworen der Liga ab, verrieten andere, die ihr die Treue gehalten hatten. Schließlich stürmte eine verzweifelte Schar die Budapester Festung, wurde von Svadins Getreuen aufgehalten.
Und unter ihren Füßen gruben und klopften wir drei, nicht ahnend, was da oben geschah, gruben und klopften und fanden, was wir suchten.
Ich erinnere mich noch gut an jenen Augenblick, als ich im stickigen Dunkel eines Tunnels kniete, als ich meine Finger in die Felsspalten rings um den massiven Block bohrte. Seit Stunden hatten wir auf das Gestein eingehämmert, zwei hatten jeweils geschlafen, während einer arbeitete. Wir hatten die Spalten erweitert, hatten den Block in dem Bett gelockert, in das er vor einem Menschenleben gesetzt worden war. Meine gefühllosen Finger schienen ein Teil des Steins geworden zu sein.
Dunard zupfte an meinem Ärmel, bat mich, ihm Platz zu machen. Der große Block bewegte sich in seinem Bett, neigte sich vor, stürzte auf mich zu, und in letzter Sekunde warf ich mich zur Seite. Dann bückte ich mich über die schleimige Felsmasse, Smirnoffs Taschenlampe in der Hand, starrte in die schwarze Höhle dahinter. Der runde Strahl der Lampe wanderte über verfaultes Stroh, über tropfende, von Moos bewachsene Wände, richtete sich auf ein Gesicht mit Knollennase, von rotem Haar umrahmt.
Es war Donegan.
Wir fütterten ihn, während Dunard auf die eisernen Hand- und Fußfesseln einhämmerte, die ihn an die Wand ketteten. Als er sich kräftiger fühlte, begann er zu sprechen, beantwortete meine Fragen, erzählte von Dingen, die uns nun schrecklich klar wurden im Licht vergangener Ereignisse.
Schließlich trennten wir uns. Dunard und Smirnoff kehrten in die Außenwelt zurück, um die Bruderschaft des Kreuzes zu verständigen. Und Donegan und ich brachen in die dunklen Verliese auf, die unter Nicholas Svadins Palast lagen.
Der Wächter an der Zellentür starb so wie die anderen Wachtposten, die wir zuvor getötet hatten. Wir hatten keine andere Wahl. Ich erinnerte mich an die Klopfzeichen jener Verzweifelten, die verborgen waren hinter dicken Mauern. Und ich wußte, was jene lebendig Begrabenen tun würden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen. Und die wollte ich ihnen geben.
Wir waren eine kleine, aber entschlossene Armee, als wir die große Haupttreppe in Svadins Palast hinaufstürmten, den grimmigen Reihen treuer Wächter entgegen. Auf dem obersten Absatz traten sie uns in den Weg – und draußen, im großen Hof vor dem Tor, hörten wir das Gewehrfeuer unserer Mitstreiter, die gegen Angst und Ignoranz kämpften.
In diesem Augenblick glaubten wir, daß Smirnoff und Dunard bis zu unseren Brüdern vorgedrungen waren und unsere Botschaft den Männern ausgerichtet hatten, die die Flamme der Revolution entzünden konnten. Wir wußten nicht, daß unsere beiden Freunde überwältigt worden waren, bevor sie unsere Streitkräfte erreichten.
Bewaffnet mit den Schießeisen, die wir gefunden oder unseren Gegnern entrissen hatten, rannten wir die breite Treppe hinauf, mitten hinein in das feindliche Feuer. Wir stürzten uns auf die Wächter, schlugen sie nieder wie die Bauern mit ihren Dreschflegeln den Weizen, richteten ihr Maschinengewehr auf ihre Rücken, als sie die Flucht ergriffen, streckten sie nieder, so daß sie in einer langen Reihe liegenblieben, auf dem ganzen Korridor verstreut, der zu Svadins Tür führte.
Dann standen wir auf der obersten Stufe, hinter dem Maschinengewehr, starrten auf jene Tür – halbnackt, schmutzig, mit Blut bespritzt. Eine große, atemlose Stille erfüllte den Palast, nur durchbrochen vom Lärm des Gewehrsfeuers draußen im Hof, das nur gedämpft durch die dicken Mauern drang.
Dann hob Donegan das Gewehr auf, stieg über die Leiche eines Wächters, die verkrümmt auf dem Boden lag. Seine bloßen Füße tappten klatschend über den kalten Steinboden des breiten Flurs, und hinter ihm hallten unsere Schritte von den Wänden wider, in gleichmäßigem Rhythmus, trommelten einen Totentanz zu Ehren Nicholas Svadins.
Wir erreichten die Tür, und sie flog auf.
Heinrich Sturm stand vor uns – Sturm, kleiner und gebeugter denn je -Sturm mit Entsetzen in den Augen, mit schreckverzerrtem Gesicht, und aus einer klaffenden Wunde an seinem Hals floß Blut auf seine Brust hinab. Er stammelte deutsche Worte, halb erstickt von seinem Blut, schwankte, brach zu unseren Füßen zusammen.
Wir starrten über ihn hinweg in den großen dunklen Raum, auf Svadin, der neben seinem großen Himmelbett stand, auf die zehn grausigen Gestalten hinter ihm.
Donegans Maschinengewehr versprühte seine Ladung, über den blutenden Körper des Zoologen Heinrich Wilhelm Sturm hinweg. Die Kugeln schlugen in den weichen Leib Nicholas Svadins, in die zehn gespenstischen Wesen, die ihn jetzt umringten. Er bebte, als die Kugeln ihn durchbohrten und sein weißes Fleisch aufrissen, aber er stand nur da und lachte. Er lachte, wie der Gott des Goldes gelacht hatte, mit einer Stimme, die Tod und Verdammnis für die Menschheit bedeutete. Er lachte, und dann schritt er auf uns zu, quer durch den Raum, und sein Höllenpack trottete hinter ihm her.
Es gibt eine Furcht, die allen Mut auslöschen kann. Und eine solche Furcht erfaßte uns nun. Wir wandten uns ab und liefen davon – Donegan mit dem Maschinengewehr, das er wie ein Kind in seinen Armen hielt, ich mit dem alten Heinrich Sturm, den ich wie einen nassen Sack hinter mir herschleifte. Und die anderen folgten uns, taumelnd und schreiend.
Wir stolperten über die Toten im Korridor, rasten die breite Treppe hinab in die Halle, durch das offene Tor hinaus in den Hof. Und dann hielten wir an, zwischen zwei Feuern gefangen.
Hundert Mann waren von der Brüderschaft des Kreuzes übriggeblieben. Sie hatten sich zu einem wirren Haufen in der Mitte des Hofes versammelt, umzingelt von den Männern, die der Angst und Nicholas Svadin die Treue hielten. Als wir durch das große Tor in den Hof stürzten, angeführt von der hageren, nackten Gestalt des rothaarigen Jim Donegan, richteten sich alle Blicke auf uns – und jede Hand unterbrach für Sekunden ihr mörderisches Werk.
Dann regte sich wunderbarerweise der alte Heinrich Sturm in meinen Armen, schrie mit seiner gurgelnder, vom Blut erstickten Stimme in deutscher Sprache: »Er ist kein Gott! Er kommt aus der Hölle – er ist ein Teufel! Ein Vampir! Ein Blutsauger! Er und sein verfluchtes Gezücht!«
Andere Stimmen wiederholten den Ruf, in anderen Sprachen, und er ging rasch von Mund zu Mund.
Alle kannten Heinrich Sturm. Sie wußten, daß er Svadins Vertrauter war, Svadins Sprachrohr, der Mann, der Svadins Befehle an die Welt weitergegeben hatte. Alle hörten, was Heinrich Sturm gesagt hatte – und dann blickten sie auf Nicholas Svadin, der in der Tür erschien.
Er war nackt, so wie in jenem Augenblick, als die Tür seines Schlafzimmers aufgeflogen und Sturm taumelnd herausgekommen war. Sein Körper war leichenblaß, übersät mit gelbroten Flecken der Verwesung, aufgebläht von den Gasen des Todes. Svadin, der Untote, der Unmensch – und rings um seine Beine drängten sich seine zehn zitternden Ebenbilder, zehn teigige, leichenweiße Monstren, Fleisch von seinem Fleisch.
Er stand da, mit gespreizten Beinen, auf den Stufen vor dem Tor, blickte hinab auf die Menge, in die blutigen Gesichter, und sein Armstumpf schlug gegen die weiche, unbehaarte Brust, über die sich die Linie der Kugeleinschüsse wie ein blutrotes Band zog. Und er schrie mit einer Donnerstimme, die wie das Gebrüll eines brünftigen Stiers klang: »Ich bin Nicholas Svadin!«
Und in einem grausigen, spöttischen Echo piepsten ihm die zehn Zwergmonstren nach: »Ich bin Nicholas Svadin!«
Heinrich Sturm hing in meinen Armen und starrte auf das Wesen, dessen Sklave er gewesen war, und seine alten Lippen flüsterten fünf Worte, bevor ihm der Kopf auf die Brust sank, bevor er sein Leben aushauchte. Der rote Jim Donegan hörte die fünf Worte und schrie sie in die Welt hinaus.
Auch Svadin hörte sie, und wenn sein Totengesicht Gefühle ausdrücken konnte, so spiegelte es jetzt Angst wider. Die dicken roten Lippen teilten sich zu einem Grinsen des Grauens, über großen gelben Fängen.
»Verbrennt ihn! Feuer ist rein!«
Ich warf mir Heinrich Sturms Leiche über die Schulter und trat zur Seite, wich dem Mob aus, der die Stufen des Palastes stürmte, angeführt von Jim Donegan.
Svadins Spreizfüße trommelten über den Boden der großen Halle, und seine Höllenbrut stolperte ihm nach.
Doch dann holte die Menge sie ein, und ich hörte, wie sich die Fäuste in das weiche Fleisch bohrten, hörte den vielstimmigen Wutschrei des Mobs.
Sie rissen die kleinen Ungeheuer in Stücke, aber sie lebten immer noch. Sie fesselten das Ding, das Svadin gewesen war, und schleppten es in den Hof. Es wand sich, krümmte sich, doch es gelang ihm nicht, sich zu befreien.
Auf einem großen Platz in Budapest errichteten sie einen Scheiterhaufen, und als die Flammen hoch aufloderten, warfen sie Svadin hinein, ihn und seine Höllenbrut. Mit gierigen Augen sahen sie zu, wie das Feuer die Monstren verzehrte. In jedem Menschen steckt ein Tier, wenn er von Furcht und Haß erfüllt ist. Und noch in später Nacht, als Svadin und sein Gezücht längst zu Asche zerfallen waren, rannte der wahnsinnige Mob schreiend durch die Straßen, plünderte, tötete, brandschatzte.
Als Svadin gestorben war, regierten vier Männer die Welt.
Und auch heute regieren vier Männer die Welt – eine Welt, die besser ist als an jenem Tag, wo Svadin sich von seinem Totenbett erhoben hat, eine Welt, die von seiner unmenschlichen Tyrannei befreit ist. Moorehead, Nasuki, Rasmussen und Corregio.
Der rote Jim Donegan und ich und noch etwa hundert andere Männer werden als Helden gefeiert, nur an den alten Heinrich Wilhelm Sturm denkt kaum jemand, und wenn, so widerfährt ihm nicht die Ehre, die ihm gebühren würde. Die Menschen hatten ihn zu lange mit Nicholas Svadin identifiziert, um ihn lieben zu können.
Doch wir haben Sturm viel zu verdanken. Was wir von Svadin und anderen Dingen wissen, hat er im Lauf der Jahre erarbeitet. Langsam, aber unbeirrt hatte er seine Informationen zusammengetragen, in mühevoller Kleinarbeit.
Er hatte Donegan gewisse Dinge erzählt, bevor Svadin mißtrauisch geworden war und den Tod des Amerikaners angeordnet hatte. Es war Heinrich Sturms Barmherzigkeit zu verdanken, daß er keine Kugel und kein Messer in den Bauch bekam – oder noch Schlimmeres erdulden mußte. Während seiner Kontakte mit dem Abschaum der dekadenten europäischen Königshöfe hatte Svadin perverse Neigungen entwickelt, unter anderem eine blutrünstige Lust an Folterqualen.
»Alles, was ich weiß, habe ich von Sturm erfahren«, sagt Donegan. »Der alte Mann war ziemlich schlau, und was er nicht wußte, hat er erraten. Ich glaube, er hat richtig geraten. Zuerst blieb er aus Neugier bei Svadin. Und dann wußte er zuviel, um ungestraft entkommen zu können.
Es muß irgendwelche Lebenskeime geben. Das hat Sturm behauptet. Vor vielen Jahren lebte ein Schwede namens Arrhenius. Er glaubte, daß das Leben von Planet zu Planet wandert, in Form von Keimen, die so klein sind, daß das Licht sie durch den Weltraum stoßen kann. Er erklärte, daß dieser Keimstaub von Farnen, Moosen und Pilzen stammt, und winzige Dinge wie Bakterien können auf diese Weise von einer Welt zur anderen reisen. Und er nahm auch an, daß es Keime reinen Lebens gibt, die da draußen im Raum zwischen den Sternen umherfliegen. Und wann immer sie auf einen Planeten fallen, entsteht dort Leben.
Sturm hat behauptet, daß dies auch hier auf der Erde geschehen sei. Drei Keime sind auf unsere Welt gefallen – innerhalb kurzer Zeit. Einer fiel ins Meer, und daraus entwickelte sich jenes Meereswesen, das hauptsächlich aus einem Komplex von Molekülen bestand, aus Molekülen kolloidalen Wassers und Salzen aus dem Meeresschleim, in den jener Keim eindrang. Es konnte wachsen, indem es sich von Meereswasser ernährte, aber es brauchte auch Salze, um seinem Verfall entgegenzuwirken, brauchte organische Lebensmittel. Deshalb griff es die Städte an, wo es genug zu fressen fand.
Der zweite Keim fiel auf Quarz, vielleicht auf irgendeine Art von kolloidalem Gelee, wie man es manchmal in hartem Gestein findet. Jener Quarz war von Goldadern durchzogen, und jener seltsame Brei, den ich damals sah, war das Ding, das sich aus dem zweiten Keim entwickelt hat. Die Indianer glaubten, einer ihrer alten Götter sei zu neuem Leben erwacht, der Gott des Goldes und des Kristalls. Svadin tötete ihn mittels einer Radiumverbindung, die er entdeckt hatte.
Der dritte Keim fiel auf Svadin und erweckte ihn zu seinem zweiten Leben. Er war kein richtiger Mensch, aber er sah wie ein Mensch aus. Er hatte Erinnerungen an sein erstes Leben, ähnliche Charakterzüge wie früher, aber mit der Zeit wurden alle Ähnlichkeiten von anderen Dingen verdrängt.
Er erwachte zum Leben – aber um am Leben zu bleiben, mußte er anders werden als die anderen Menschen. In seinen Adern hatte er kein Blut, sondern eine Einbalsamierungsflüssigkeit. Er hatte Wachs auf der Haut, verwendete auch noch andere Hilfsmittel und mußte sie immer wieder erneuern, so wie wir Nahrung zu uns nehmen, um unsere Zellen zu erneuern. Wenn er sich veränderte, so geschah das auf die gleiche Weise, wie Tote sich verändern. Aber er konnte schärfer und logischer denken als alle Lebenden zusammen. Er mußte lernen, wie ein Mensch sich benimmt, und er hatte ein paar willige Lehrer, die ihm das Gute genauso beibrachten wie das Schlechte.
Jene anderen beiden Dinge wuchsen, als sie sich ernährten, und so wuchs auch Svadin, aber er war komplexer gebaut als das Ding aus dem Meer und der goldene Gott. Während sie wuchsen, vermehrte er sich, wie die einfachsten Lebewesen, die sich fortpflanzen, indem sie sich verdoppeln. Er war wie eine Hydra, wie eine Pflanze – aber er war kein Mensch. Vielleicht hast du es auch bemerkt. Ein paar von diesen Monstren, die entstanden waren, nachdem er seinen Arm in Rio verloren hatte, hatten auch nur einen Arm. In gewisser Weise waren sie alle Svadin. Du weißt ja, daß sie sich an jenem Tag vor dem Tor des Palastes auch .Svadin’ nannten, nachdem er geschrien hatte: ,Ich bin Svadin!’»
Schweiß perlte auf Donegans gebräuntem Gesicht, als er sich an jenen schrecklichen Tag erinnerte, und ich sah die Vision, die wohl auch vor seinem geistigen Auge stand – zehn Miniatur-Svadins, die wuchsen und sich vermehrten, wie Svadin es getan hatte, die Erde mit einer grausigen Rasse bevölkerten, die das Menschengeschlecht verspottete…
Donegan griff nach der Flasche, die neben seinem Ellbogen stand.
»Die Natur und das Universum – überall fliegen Keime umher, aus denen Leben entsteht. Vielleicht ist so etwas, wie wir es eben erlebt haben, schon einmal auf Erden passiert. Vielleicht wird es wieder passieren. Vielleicht sind unser menschliches Leben und alle anderen irdischen Lebensformen auf diese Weise entstanden, vor vielen Millionen Jahren. Vielleicht war die Welt früher von Monstern bewohnt, die einander töteten, so wie Svadin das Ding aus dem Meer und den goldenen Gott getötet hat.
Die drei stellten eine ganz einfache Lebensform dar. Sie vermehrten sich, in dem sie sich teilten, indem sie keimten oder kristallisierten. Es war schwer, sie zu töten, und man konnte ihnen nur mit Flammen beikommen, mit einem Feuer, das die Lebenskeime in ihnen vernichtete. Nach einer Weile, wenn sich die Lebens-Substanz in ihnen verringert hätte, wäre es vielleicht einfacher gewesen, sie zu töten. …;
Svadin sah menschlich aus – am Anfang. Aber er war nicht menschlich – niemals. Was er war, weiß niemand. Nicht einmal der alte Sturm wußte es. Es ist schwer, sich vorzustellen, was für Gedanken und Gefühle einen Toten bewegen. Er hatte einige Erinnerungen aus jener , Zeit, als er der echte Svadin gewesen war, und so fing er dort an, wo er aufgehört hatte, er übernahm die Herrschaft. Vielleicht glaubte er am Anfang, daß die Menschen von seiner Art wären. Zumindest sahen sie so aus wie er. Er paßte ganz gut in diese Welt – anfangs. Aber nach einer Weile war nichts Menschliches mehr in ihm, nichts aus jenem früheren Leben war übriggeblieben. Und er begann Pläne zu schmieden wie eine Maschine, um die Welt für sich und seine Brut neu zu gestalten. So war es von Anfang an auf der Erde. Die Menschen haben die Tiere und einander getötet, um zu bekommen, was sie wollten. Sie haben den Boden zerstört, um an seine Schätze zu kommen, an Öl und Metall. In gewisser Weise war der goldene Gott ein Verwandter der Erde, und es paßte ihm wohl nicht, daß wir gierigen Wesen aus Fleisch und Blut seine Erde auseinandernehmen.
Svadin mußte erst einmal lernen, um in unsere Welt hineinzupassen, und er lernte vor allem die menschlichen Laster. Irgend jemand hatte ihn gelehrt, böse zu sein. Das gefiel ihm, und es wurde ein Teil des Erbes, das er an seine Nachkommenschaft weitergegeben hat. Er liebte den Geschmack von Fleisch – von rohem Fleisch, und in den Menschen sah er nur Tiere, die er benutzen oder vernichten konnte. Und nachdem der alte Sturm ihm nicht mehr nützlich war, nachdem er sich geweigert hatte, ihm länger zu dienen, griff er auch den alten Mann an.
Du siehst, er hatte ein menschliches Gehirn. Er konnte denken wie ein Mensch, Pläne schmieden wie ein Mensch und auch die Gefahren erkennen, die seinen Plänen drohten. Nur – er hatte keine Ahnung von menschlicher Psychologie. Er war wie eine Amöbe oder ein Polyp, und ich glaube nicht, daß diese Tiere Emotionen haben. Er verstand nichts von Religion, begriff auch nicht die Gottesverehrung, die ihm die Menschen entgegenbrachten. Doch er nutzte diese Ehrfurcht für seine Zwecke aus. Und als sie sich in Haß verwandelte, als die Leute keinen Gott mehr in ihm sahen, sondern einen Teufel, behandelten sie ihn auch wie einen Teufel. Sie verbrannten ihn, so wie ihre Ahnen die Hexen verbrannt hatten.«
Er trank einen Schluck Whisky und wischte sich die Lippen ab. »Wenn so etwas wieder einmal passiert, werde ich mich betrinken – und aufpassen, daß ich nicht nüchtern werde, bevor alles vorbei ist.«
ENDE