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Unter Mr. Kotts Haut befanden sich abgestorbene Knochen, glänzend und feucht. Mr. Kott war ein Sack voller Knochen, schmutzig und dennoch feucht glänzend. Sein Kopf war ein Totenschädel, der Geldscheine in sich aufnahm und zerkaute; in seinem Innern verrotteten die Scheine, etwas fraß sie und machte sie tot. Auch Jack Bohlen war ein abgestorbener Sack, in dem es von Kwatsch wimmelte. Das Äußere, auf das fast jeder hereinfiel - es war wunderschön bemalt und roch gut -, beugte sich über Miss Anderton, und er sah das; er sah, daß er sie auf ekelhafte Weise begehrte. Er spülte sein nasses, klebriges Selbst immer näher an sie heran, und die Worte des toten Käfers brachen aus ihm hervor und fielen auf sie herab. Die Worte des toten Käfers krabbelten in ihre Kleiderfalten, und einige zwängten sich in ihre Haut und drangen in ihren Körper ein.
»Ich liebe Mozart«, sagte Mr. Kott. »Ich lege einmal dieses Band ein.«
Die Kleider, die sie trug, juckten sie, sie waren voller Haare und Staub und dem Mist der Käferworte. Sie kratzte sich, und die Kleider zerrissen zu Streifen. Sie schlug ihre Zähne in die Streifen und kaute sie.
Mr. Kott fingerte an den Knöpfen des Verstärkers herum und sagte: »Bruno Walter dirigiert. Eine Rarität aus der goldenen Zeit der Schallplatte.«
Ein schauerliches Kreischen und Kratzen explodierte irgendwo im Zimmer, und nach einer Weile wurde ihr klar, daß es von ihr kam; in ihr zuckte es, all die Leichendinge in ihr wuselten und krochen umher, kämpften darum, ans Licht des Zimmers zu gelangen. Herrje, wie sollte sie sie aufhalten? Sie traten aus ihren Poren aus und huschten davon, ließen sich an klebrigen Netzfäden zu Boden und verschwanden zwischen den Diehlenritzen.
»Tut mir leid«, murmelte Arnie Kott.
»Das war ja ein schöner Schreck. Mit so was solltest du uns lieber verschonen, Arnie.« Sie erhob sich vom Sofa und schob das dunkle, übelriechende Etwas beiseite, das sich an sie klammerte. »Dein Sinn für Humor ...« sagte sie.
Er drehte sich um und sah, wie sie ihr letztes Kleidungsstück abstreifte. Er hatte das Tonband weggelegt und kam jetzt mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
»Mach schon«, sagte sie, und dann lagen sie zusammen auf dem Boden; er entledigte sich seiner Kleidung mit den Füßen, grub die Zehen in das Gewebe und riß solange daran, bis er es los war. Die Arme umeinandergeschlungen, wälzten sie sich in die Dunkelheit unter dem Ofen und schwitzten und stießen dort, schluckten gierig den Staub und die Hitze und die Feuchtigkeit ihrer Leiber. »Weiter«, sagte sie und preßte ihm die Knie in die Seiten, bis es ihm weh tat.
»Ein Mißgeschick«, sagte Arnie, und dabei hielt er sie auf den Boden gedrückt und atmete ihr ins Gesicht.
Am unteren Rand des Ofens erschienen Augen; etwas lugte zu ihnen herein, während sie sich gemeinsam in der Dunkelheit bewegten - sah ihnen zu. Es hatte Leim, Schere und Zeitschrift zur Seite gelegt, alles fallen gelassen, um ihnen zuzusehen und sich daran zu erfreuen und jeden einzelnen Stoß, mit dem sie sich gegeneinander rammten, auszukosten.
»Hau ab!« keuchte sie. Aber es haute nicht ab. »Weiter«, sagte sie dann, und es lachte sie an. Es lachte und lachte, während sie und das Gewicht auf ihr weitermachten. Sie konnten einfach nicht aufhören.
Kwatsch mich weiter, sagte sie. Kwatsch kwatsch kwatsch mich, steck deinen Kwatsch in mich rein, in meinen Kwatsch, du Kwatscher. Kwatsch kwatsch, ich liebe Kwatsch! Hör nicht auf. Kwatsch, kwatsch kwatsch kwatsch, kwatsch!
*
Als Jack Bohlen mit dem Hubschrauber der Yee Company den Landeplatz der Public School direkt unter sich anflog, schaute er kurz zu Manfred und fragte sich, was dem Jungen wohl durch den Kopf ging. In Gedanken versunken starrte Manfred Steiner reglos nach draußen, sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die Jack abstieß und von der er schleunigst den Blick abwandte.
Wieso hatte er sich überhaupt auf den Jungen eingelassen? fragte er sich. Doreen hatte recht; er steckte bis zum Hals mit drin, und seine eigene unterschwellige Veranlagung zur Schizophrenie wurde durch die Gegenwart des Jungen an seiner Seite wieder zum Leben erweckt. Aber er wußte nicht, wie er aus der Sache herauskommen sollte; irgendwie war es dafür zu spät, als wäre die Zeit kollabiert und hätte ihn hier für alle Ewigkeit in einer Symbiose mit diesem unglückseligen, stummen Geschöpf vereint, das nichts weiter tat, als wieder und wieder seine private Welt zu durchstöbern und zu überprüfen.
Er hatte sich Manfreds Weltsicht in mancher Hinsicht zu eigen gemacht, und offenbar führte das dazu, daß seine eigene kaum merklich zerfiel.
Heute abend, dachte er. Bis heute abend muß ich noch durchhalten: Irgendwie muß ich es schaffen, bis ich mich mit Arnie Kott treffe. Dann kann ich alles zum Teufel schicken und in mein eigenes Reich, meine eigene Welt zurückkehren; dann brauche ich Manfred Steiner nicht mehr zu sehen.
Arnie, um Himmels willen, rette mich, dachte er.
»Da wären wir«, sagte er, als der Hubschrauber mit einem Ruck auf dem Dachlandeplatz aufsetzte. Er stellte den Motor ab.
Sofort schob sich Manfred zur Tür, ganz versessen darauf, auszusteigen.
Der Laden hier interessiert dich also, dachte Jack. Möchte wissen, warum. Er richtete sich auf und entriegelte die Hubschraubertür; Manfred hopste hinaus aufs Dach und sauste zur Rampe, fast so, als wüßte er den Weg auswendig.
Als Jack aus dem Schiff stieg, verschwand der Junge gerade aus seinem Blickfeld. Ganz allein war er die Rampe hinuntergeeilt und in die Schule geflitzt.
Doreen Anderton und Arnie Kott, sagte sich Jack. Die beiden Menschen, die mir am meisten bedeuten, die Freunde, zu denen ich den engsten Kontakt habe, die mir im Leben am vertrautesten sind. Und doch ist es dem Jungen gelungen, sich zwischen uns zu drängen; er hat meine Bindungen dort aufgebrochen, wo sie am stärksten sind.
Was bleibt mir noch? fragte er sich. Wenn ich erst von ihnen getrennt bin, folgt der Rest - mein Sohn, meine Frau, mein Vater, Mr. Yee - fast automatisch, zwangsläufig.
Ich weiß, was auf mich zukommt, wenn ich mich weiter Schritt für Schritt an diesen total psychotischen Jungen verliere. Jetzt begreife ich, was eine Psychose ist: hochgradige Wahrnehmungsstörung von Objekten der Außenwelt, besonders den Objekten, die wirklich zählen: warmherzigen Menschen. Und was tritt an ihre Stelle? Entsetzliche Befangenheit - im endlosen Auf und Ab des Selbst. Veränderungen im Innern, die sich nur auf das Innenleben auswirken. Eine Spaltung in zwei Welten, Innenwelt und Außenwelt, so daß keine der beiden die andere mehr zur Kenntnis nimmt. Beide bestehen weiter, gehen aber getrennte Wege.
Es ist ein Innehalten der Zeit. Das Ende der Erfahrung und alles Neuen. Wenn eine Person psychotisch wird, erlebt sie nie wieder etwas.
Und ich, wurde ihm klar, stehe auf der Kippe. Vielleicht war es ja schon immer so; es steckte von Anfang an in mir drin. Aber mit diesem Jungen als Führer habe ich einen langen Weg zurückgelegt. Oder vielmehr, durch ihn bin ich einen langen Weg gegangen.
Ein geronnenes Selbst, starr und unermeßlich, das alles andere auslöscht und das ganze Feld beherrscht. Die geringste Veränderung wird mit größtem Interesse geprüft. In diesem Stadium befand Manfred sich jetzt; er hatte sich schon immer darin befunden. Im letzten Stadium der Schizophrenie.
»Manfred, warte«, rief er und folgte dem Jungen langsam die Rampe hinab ins Gebäude der Public School.
*
Silvia Bohlen saß in June Henessys Küche, trank Kaffee und legte ihr die allerneuesten Probleme dar.
»Das Schreckliche an ihnen ist«, sagte sie und meinte damit Erna Steiner und die Steiner-Kinder, »daß sie, sagen wir's freiweg, vulgär sind. Man sollte ja nicht darüber sprechen, aber ich hatte gezwungenermaßen so oft mit ihnen zu tun, daß ich's einfach nicht länger hinnehmen kann; jeden Tag erhalte ich Kostproben davon.«
June Henessy, in weißen Shorts und mit knappem Oberteil, schlenderte barfuß im Haus hierhin und dorthin und begoß aus einer Glaskaraffe die verschiedenen Zimmerpflanzen. »Das ist wirklich ein seltsamer Junge. Er ist der schlimmste von allen, stimmt's?«
Fröstelnd sagte Silvia: »Und er ist den ganzen Tag bei uns. Jack arbeitet mit ihm, weißt du, er will aus ihm ein Mitglied der menschlichen Rasse machen. Ich finde ja, sie sollten solche Mißgeburten und Schwachköpfe einfach ausmerzen; auf lange Sicht ist es doch mörderisch, sie am Leben zu erhalten; das ist ihnen und uns gegenüber falsche Barmherzigkeit. Der Junge muß sein Leben lang gepflegt werden; er wird nie aus der Anstalt herauskommen.«
June kehrte mit der leeren Karaffe in die Küche zurück und sagte: »Ich muß dir unbedingt erzählen, was Tony gestern gemacht hat.« Tony war ihr derzeitiger Liebhaber; die Affäre dauerte jetzt schon sechs Monate, und sie hielt die anderen Damen, besonders Silvia, auf dem laufenden. »Wir waren neulich im Genf II essen, einem französischen Restaurant, das er kennt; wir hatten Escargots bestellt - du weißt schon, Schnecken. Die werden im Gehäuse serviert, und man puhlt sie mit einer gräßlich aussehenden Gabel heraus, die Zinken hat -einen Meter lang. Natürlich ist das alles Schwarzmarktessen; wußtest du das? Daß es Restaurants gibt, die nur Delikatessen vom Schwarzmarkt servieren? Ich nicht, bis Tony mich dorthin mitgenommen hat. Den Namen darf ich dir natürlich nicht sagen.«
»Schnecken«, sagte Silvia voller Abscheu und stellte sich die vielen herrlichen Gerichte vor, die sie bestellt hätte, wenn sie einen Liebhaber hätte, der mit ihr essen gegangen wäre.
Wie es wohl wäre, eine Affäre zu haben? Schwierig, aber sicher lohnend, wenn sie es vor ihrem Mann verheimlichen konnte. Das Problem war natürlich David. Und nun arbeitete Jack auch noch die meiste Zeit des Tages zu Hause, und außerdem war ihr Schwiegervater zu Besuch. Und sie könnte ihn, ihren Liebhaber, nie zu sich nach Hause einladen, wegen Erna Steiner von nebenan; die große, aufgedunsene Matrone würde sehen, verstehen und aus preußischem Pflichtgefühl heraus wahrscheinlich sofort Jack informieren. Aber gehörte ein gewisses Risiko nicht dazu? Gab das der Sache nicht erst die richtige -Würze?
»Was würde dein Mann tun, wenn er es herausfände?« fragte sie June. »Dich in Stücke reißen? Jack täte das.«
June sagte: »Mike hat selbst schon einige Liebschaften gehabt, seit wir verheiratet sind. Er wäre stinksauer, und vielleicht würde er mir ein blaues Auge verpassen und auf eine Woche oder so mit einer seiner Freundinnen abhauen und mir natürlich die Kinder aufbürden. Aber er würde drüber hinwegkommen.«
Insgeheim fragte sich Silvia, ob Jack je ein Verhältnis gehabt hatte. Es erschien ihr nicht sehr wahrscheinlich. Sie fragte sich, wie sich wohl fühlen würde, wenn es doch der Fall wäre und sie es herausfände - wäre es das Ende ihrer Ehe? Ja, dachte sie. Ich würde mir sofort einen Anwalt nehmen. Oder nicht? Man konnte es nicht voraussagen ...
»Wie kommst du mit deinem Schwiegervater aus?« wollte June wissen.
»Oh, nicht schlecht. Er und Jack und der Steiner-Junge sind heute irgendwohin geflogen, rein geschäftlich. Ich sehe eigentlich nicht viel von Leo; er ist hauptsächlich seiner Geschäfte wegen ... June, wie viele Affären hast du schon gehabt?«
»Sechs«, sagte June Henessy.
»Herrje«, sagte Silvia. »Und ich noch keine einzige.«
»Manche Frauen sind eben nicht dazu geschaffen.«
Das klang Silvia nach einer sehr persönlichen, wenn nicht gar anatomischen Beleidigung. »Wie meinst du das?«
»Psychologisch nicht geeignet«, erklärte June leichthin. »Nur ein bestimmter Frauentyp kann Tag für Tag eine komplexe Fiktion erschaffen und aufrechterhalten. Ich habe Spaß daran, mir immer etwas Neues einfallen zu lassen, was ich Mike erzählen kann. Du bist da anders. Du hast eher ein schlichtes, geradliniges Gemüt; Schwindeleien sind nicht dein Fall. Überhaupt, du hast doch einen netten Mann.« Sie unterstrich die Glaubwürdigkeit ihres Urteils, indem sie die Augenbrauen hochzog.
»Jack war früher immer die ganze Woche weg«, sagte Silvia. »Damals hätte ich mir einen nehmen sollen. Jetzt wäre es erheblich schwieriger.« Sie wünschte inbrünstig, daß sie etwas Schöpferisches, Nützliches oder Aufregendes zu tun hätte, was ihr die langen leeren Nachmittage vertrieb; es langweilte sie zu Tode, Stunde für Stunde in der Küche einer anderen Frau zu sitzen und Kaffee zu trinken. Kein Wunder, daß so viele Frauen Affären hatten. Entweder das oder verrückt werden.
»Wenn deine emotionalen Erfahrungen sich allein auf deinen Mann beschränken«, sagte June Henessy, »fehlt dir jede Basis für ein gesundes Urteil; du bist mehr oder weniger auf das angewiesen, was er zu bieten hat, aber wenn du mit anderen Männern im Bett warst, kannst du besser sagen, wo es bei deinem Mann fehlt, und es ist dir eher möglich, ihn objektiv zu sehen. Und du kannst darauf bestehen, daß er an sich ändert, was geändert werden muß. Und was dich selbst angeht, so findest du deine eigenen Schwächen heraus und lernst bei den anderen Männern, dich zu vervollkommnen, so daß du deinen Mann besser befriedigen kannst. Ich sehe nicht, daß dabei jemand zu kurz kommt.«
So gesehen klang es gewiß nach einer wirklich gesunden Angelegenheit für alle Beteiligten. Selbst der Ehemann profitierte davon.
Während Silvia an ihrem Kaffee nippte und darüber nachsann, schaute sie aus dem Fenster und sah zu ihrem Erstaunen einen Hubschrauber landen. »Wer ist denn das?« fragte sie June.
»Um Himmels willen, ich habe keine Ahnung«, sagte June und blickte hinaus.
Der Hubschrauber rollte bis dicht ans Haus heran und blieb stehen; die Tür öffnete sich, und ein dunkelhaariger, gutaussehender Mann in einem hellen Nylonhemd mit Schlips, langer Hose und modischen europäischen Halbschuhen stieg heraus. Hinterdrein kam ein Bleichmann, der zwei schwere Koffer schleppte.
Silvia Bohlen spürte, wie ihr das Herz flatterte, als sie sah, wie der Dunkelhaarige auf das Haus zuschlenderte, gefolgt vom Bleichmann mit den Koffern. So hatte sie sich immer Junes Tony vorgestellt.
»Du meine Güte«, sagte June. »Ich möchte wissen, wer das ist. Ein Vertreter?« Es klopfte ein paarmal an der Haustür, und June ging hin, um zu öffnen. Silvia setzte ihre Tasse ab und folgte ihr. An der Tür blieb June stehen. »Ich fühle mich irgendwie - nicht richtig angezogen.« Nervös griff sie an ihre Shorts. »Sprich du mit ihm, während ich kurz ins Schlafzimmer husche und mich umziehe. Ich habe nicht damit gerechnet, daß ein Fremder vorbeikommt; weißt du, wir müssen vorsichtig sein, wir sind hier weitab vom Schuß, und unsere Männer sind nicht da ...« Mit wehenden Haaren eilte sie ins Schlafzimmer davon.
Silvia öffnete die Tür.
»Guten Tag«, sagte der gutaussehende Mann mit einem Lächeln, das eine Reihe perfekt weißer südländischer Zähne enthüllte. Er hatte einen leichten Akzent. »Sind Sie die Dame des Hauses?«
»Ich denke doch«, sagte Silvia ängstlich, und ihr war mulmig zumute; sie sah an sich hinunter und fragte sich, ob sie sittsam genug angezogen war, um hier draußen mit diesem Mann zu sprechen.
»Ich möchte Ihnen gern eine Palette auserlesener Naturkostprodukte vorstellen, von denen Sie vielleicht schon gehört haben«, sagte der Mann. Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab, und dennoch hatte Silvia das deutliche Gefühl, als gelänge es ihm, gleichzeitig jede Nuance ihres restlichen Körpers zu begutachten. Ihr Selbstbewußtsein stieg, und sie nahm es ihm nicht übel; der Mann hatte eine charmante Art, schüchtern und dabei auf merkwürdige Weise geradeheraus.
»Naturkost«, murmelte sie. »Nun ja, ich ...«
Der Mann nickte, und sein Bleichmann trat heran, legte einen Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Körbe, Flaschen, Päckchen ... das interessierte sie alles sehr.
»Nicht homogenisierte Erdnußbutter«, erklärte der Mann. »Außerdem Diätsüßigkeiten ohne Kalorien, damit Ihnen die hinreißende Figur erhalten bleibt. Weizenkeime. Hefe. Vitamin E; das ist das Vitamin der Vitalität ... aber für eine junge Frau wie Sie natürlich nicht ganz das Richtige.« Seine Stimme säuselte weiter, während er einen Posten nach dem anderen anpries; sie stellte fest, daß sie neben ihm kniete, so dicht bei ihm, daß sich ihre Schultern berührten. Das erschreckte sie, und sie rückte schnell ab.
An der Tür tauchte einen Moment lang June auf, jetzt mit Rock und Wollpullover bekleidet; sie blieb kurz stehen, zog sich dann ins Haus zurück und schloß die Tür. Der Mann hatte sie gar nicht bemerkt.
»Außerdem«, sagte er, »haben wir noch ein breites Angebot für Feinschmecker, an dem das Fräulein vielleicht interessiert ist - hier.« Er hielt ein Glas hoch. Ihr stockte der Atem: Das war Kaviar.
»Großer Gott«, sagte sie ganz verzückt. »Woher haben Sie das?«
»Teuer, aber es lohnt sich.« Die Augen des dunklen Mannes bohrten sich in ihre. »Finden Sie nicht auch? Erinnerungen an die Zeit zu Hause, sanfter Kerzenschein und Tanzmusik von einem Orchester ... wilde Romanzen an wechselnden Orten, ein Genuß für Auge und Ohr.« Er lächelte sie lange und ungeniert an.
Schwarzmarkt, wurde ihr klar.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sagte: »Sehen Sie, das hier ist nicht mein Haus. Ich wohne ungefähr eine Meile weiter unten am Kanal.« Sie wies in die Richtung. »Ich - bin sehr interessiert.«
Das Lächeln des Mannes versengte sie.
»Sie sind zum ersten Mal in dieser Gegend, stimmt's?« sagte sie nun stotternd, regelrecht verwirrt. »Ich habe Sie noch nie hier gesehen. Wie heißen Sie? Ich meine, wie nennt sich Ihre Firma?«
»Ich heiße Otto Zitte.« Er überreichte ihr eine Karte, die sie kaum ansah; sie konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. »Meine Firma besteht schon lange, ist aber erst kürzlich - aufgrund unvorhersehbarer Umstände - völlig umorganisiert worden, so daß ich nun in der Lage bin, neue Kunden selbst zu begrüßen. Solche wie Sie.«
»Kommen sie rüber?«
»Ja, etwas später am Nachmittag ... dann können wir in aller Ruhe ein verblüffendes Angebot an Importwaren durchgehen, für die ich den Exklusivvertrieb habe.« Er erhob sich katzengleich.
June Henessy war wieder aufgetaucht. »Hallo«, sagte sie mit leisem, vorsichtigem Interesse.
»Meine Karte.« Otto Zitte hielt ihr das weiße Rechteck mit Prägeschrift hin. Nun hatten beide Damen seine Karte; jede las ihre aufmerksam.
Otto Zitte zeigte sein gerissenes, einschmeichelndes, strahlendes Lächeln und winkte seinen zahmen Bleichmann heran, damit er auch noch den anderen Koffer ablegte und öffnete.
*
In seinem Sprechzimmer in Camp Ben-Gurion hörte Dr. Milton eine Frauenstimme auf dem Flur, rauh und voller Nachdruck, aber unmißverständlich weiblich. Er horchte und bekam mit, daß eine Schwester sie fortschicken wollte, und wußte, daß es sich um Anne Esterhazy handelte, die hier war, um ihren Sohn Sam zu besuchen.
Er öffnete den Aktenschrank, blätterte bis E, und kurz darauf lag der Vorgang Esterhazy, Samuel ausgeklappt vor ihm auf dem Schreibtisch.
Das war ja interessant. Der kleine Junge war unehelich geboren, mehr als ein Jahr, nachdem Mrs. Esterhazy sich von Arnie Kott hatte scheiden lassen. Er war auch unter ihrem Namen in Camp B-G aufgenommen worden. Trotzdem handelte es sich zweifellos um einen Nachkommen von Arnie Kott; der Vorgang enthielt reichlich Informationen über Arnie, weil die Gutachterärzte die Blutsverwandtschaft als absolut erwiesen angesehen hatten.
Offenbar sahen sich Arnie und Anne Esterhazy immer noch, obgleich ihre Ehe längst beendet war, nachhaltig genug jedenfalls, um ein Kind zu zeugen. Ihre Beziehung war also nicht bloß geschäftlicher Natur.
Eine Zeitlang dachte Dr. Glaub darüber nach, wie sich diese Information möglicherweise nutzen ließ. Hatte Arnie Feinde? Nicht, daß er wüßte; alle Welt mochte Arnie - das heißt, alle mit Ausnahme von Dr. Glaub. Anscheinend war Dr. Glaub die einzige Person auf dem Mars, die Arnies Hand unangenehm zu spüren bekommen hatte, eine Vorstellung, bei der Dr. Glaub sich nicht gerade wohler fühlte.
Dieser Mann hat mich auf die unmenschlichste und hochmütigste Art und Weise behandelt, sagte er sich zum millionsten Mal. Aber was ließ sich dagegen schon tun? Er konnte Arnie immer noch seine Rechnung schicken ... in der Hoffnung, wenigstens einen Hungerlohn für seine Dienste zu ergattern. Aber das würde auch nicht helfen. Er wollte viel mehr haben - er hatte ein Recht darauf. Wieder studierte Dr. Glaub den Vorgang. Seltsamer Bursche, dieser Samuel Esterhazy; so ein Fall war ihm noch nicht untergekommen. Der Junge schien ein Rückschritt zu einer uralten Form von Halbmensch zu sein, oder zu einer Spielart, die nicht überdauert hatte: einer, die teilweise im Wasser lebte. Das erinnerte Glaub an eine Theorie, die von einer ganzen Reihe Anthropologen vertreten wurde, wonach der Mensch von wasserbewohnenden Affen abstamme, die in der Brandung und in seichten Gewässern zu Hause gewesen seien.
Sams IQ, stellte er fest, lag nur bei 73. Eine Schande. -Um so mehr, dachte er plötzlich, weil man Sam zweifellos eher als geistig zurückgeblieben betrachten mußte denn als anormal. Camp B-G war nicht als Anstalt für bloß Zurückgebliebene gedacht, und ihr Leiter Susan Haynes hatte schon mehrere pseudoautistische Kinder, bei denen sich herausgestellt hatte, daß sie ganz gewöhnliche Schwachsinnige waren, zu ihren Eltern zurückgeschickt. Das Problem der Diagnose hatte die Ausleseprüfung natürlich erschwert. Und im Fall des Esterhazy-Jungen kam noch das körperliche Stigma hinzu ...
Kein Zweifel, entschied Dr. Glaub. Ich habe die Begründung gefunden: Ich kann das Esterhazy-Kind nach Hause zurückschicken. Die Public School konnte ihn problemlos unterrichten, auf sein Niveau herunterschalten. Lediglich physisch konnte man ihn als »abnorm« bezeichnen, und unsere hiesige Aufgabe besteht nicht darin, daß wir uns um Körperbehinderte kümmern.
Aber welches Motiv habe ich? fragte er sich.
Möglicherweise tue ich es, um Arnie Kott heimzuzahlen, daß er mich so grausam behandelt hat.
Nein, entschied er, das erscheint mir nicht sehr wahrscheinlich; ich bin psychologisch gesehen nicht der Typ, der auf Rache sinnt - das täte eher der analausstoßende Typ oder vielleicht der oral-beißende. Und er hatte sich schon vor langer Zeit als spätgenitalen Typ klassifiziert, der sich um reife Geschlechtsbeziehungen bemüht.
Andererseits hatte ihn sein Streit mit Arnie Kott zugegebenermaßen veranlaßt, im Vorgang des EsterhazyKindes herumzustöbern ... es gab also einen geringfügigen, wenn auch begrenzten Kausalzusammenhang.
Als er weiter im Vorgang las, machte ihn die seltsame Beziehung, die sich darin offenbarte, wieder ganz betroffen. Da setzten sie also noch Jahre, nachdem ihre Ehe beendet war, ein sexuelles Verhältnis fort. Wieso hatten sie sich eigentlich scheiden lassen? Vielleicht hatte es eine ernste Kraftprobe zwischen ihnen gegeben; Anne Esterhazy war eindeutig ein dominanter Frauentyp mit stark maskulinen Zügen, was Jung die »animusbesessene« Frau nannte. Um erfolgreich mit so einem Typ umzugehen, mußte man die beherrschende Rolle spielen; man mußte gleich zu Beginn die Autorität für sich beanspruchen und durfte sie nie mehr abgeben. Jeder Zweifel an der angestammten Position führte dazu, daß man schnell unterlag.
Dr. Glaub legte den Vorgang beiseite und schlenderte dann den Flur zum Spielzimmer entlang. Er stöberte Mrs. Esterhazy auf; sie spielte mit ihrem Jungen Bohnentütenfangen. Er ging zu ihnen hinüber und stand beobachtend daneben, bis sie es merkte und aufhörte.
»Hallo, Dr. Glaub«, sagte sie vergnügt.
»Guten Tag, Mrs. Esterhazy. Ehm ... wenn Sie mit dem Besuch fertig sind, kommen Sie dann bitte in mein Büro?«
Es tat ihm wohl zu sehen, wie sich die sachkundige, selbstzufriedene Miene der Frau in plötzlicher Sorge verdüsterte. »Natürlich, Dr. Glaub.«
Zwanzig Minuten später saß er ihr am Schreibtisch gegenüber.
»Mrs. Esterhazy, als Ihr Junge damals ins Camp B-G kam, gab es gewisse Zweifel an der Natur seiner Probleme. Eine Zeitlang war man der Ansicht, daß es sich um eine Geistesstörung handelt, möglicherweise eine traumatische Neurose oder.«
Die Frau unterbrach ihn entschieden. »Doktor, Sie wollen mir sagen, daß Sams einziges Problem seine begrenzte Lernfähigkeit ist und er deshalb nicht länger hier bleiben kann; ist es nicht so?«
»Und das körperliche Problem«, sagte Dr. Glaub.
»Aber das ist nicht Ihre Sorge.«
Er machte eine Handbewegung, die zugleich Resignation und Einverständnis ausdrückte.
»Wann muß ich ihn mit nach Hause nehmen?« Ihr Gesicht war weiß, und sie zitterte; ihre Hände griffen nach ihrer Handtasche, hielten sich daran fest.
»Oh, in drei, vier Tagen. Einer Woche.«
Mrs. Esterhazy biß sich in die Fingerknöchel und starrte blicklos auf den Teppich des Sprechzimmers hinunter. Zeit verstrich. Dann sagte sie mit bebender Stimme: »Doktor, wie Sie vielleicht wissen, habe ich mich seit einer Weile dafür eingesetzt, daß ein Gesetzentwurf, der gerade der UN vorliegt und wonach Camp B-G geschlossen werden soll, nicht durchgeht.« Ihre Stimme gewann an Kraft. »Wenn ich gezwungen werde, Sam zu mir zu nehmen, werde ich meine Unterstützung für Ihre Sache zurückziehen, und Sie können sicher sein, daß der Gesetzentwurf wirksam wird. Und ich werde Susan Haynes über die Gründe informieren, aus denen ich meine Unterstützung zurückziehe.«
Ganz allmählich durchlief Dr. Glaub eine kalte Woge des Entsetzens. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
»Verstehen Sie, Doktor?« sagte Mrs. Esterhazy.
Es gelang ihm zu nicken.
Mrs. Esterhazy erhob sich und sagte: »Doktor, ich bin schon lange in der Politik tätig. Arnie Kott hält mich für eine Wohltäterin, eine Amateurin, aber das bin ich nicht. Glauben Sie mir, auf manchen Gebieten bin ich politisch äußerst gewitzt.«
»Ja«, sagte Dr. Glaub, »das sehe ich.« Automatisch erhob auch er sich; er geleitete sie zur Tür des Sprechzimmers.
»Bitte schneiden Sie diese Frage wegen Sam nie wieder an«, sagte die Frau, als sie die Tür öffnete. »Es ist zu schmerzlich für mich. Ihn für abnorm zu halten, fällt mir viel leichter.« Sie sah ihn offen an. »Es ist mir einfach nicht möglich, ihn als zurückgeblieben zu betrachten.« Sie drehte sich um und ging rasch davon.
Das war ja wohl ein Schlag ins Wasser, sagte sich Dr. Glaub, als er zitternd seine Sprechzimmertür schloß. Die Frau ist offenbar eine Sadistin - starker Hang zur Feindseligkeit in Verbindung mit extremen Aggressionen.
Er setzte sich hinter den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und zog mutlos daran, während er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen.
*
Als Jack Bohlen das untere Ende der Rampe erreicht hatte, sah er von Manfred keine Spur. Mehrere Kinder schlenderten vorbei, zweifellos auf dem Weg zu ihren Lehrern. Er suchte überall, und fragte sich, wohin der Junge gelaufen sein mochte. Und warum so schnell? Das war kein gutes Zeichen.
Weiter vorn hatte sich eine Gruppe von Kindern um einen Lehrer versammelt, einen hochgewachsenen Herrn mit buschigen Augenbrauen, den Jack als Mark Twain erkannte. Aber Manfred war nicht dabei.
Als Jack an dem Mark Twain vorbeigehen wollte, unterbrach dieser seinen Monolog an die Kinder, paffte ein paarmal an seiner Zigarre und rief hinter Jack her: »Mein Freund, kann ich Ihnen behilflich sein?«
Jack blieb stehen und sagte: »Ich suche einen kleinen Jungen, den ich hierher mitgebracht habe.«
»Ich kenne alle jungen Burschen hier«, antwortete die Mark-Twain-Lehrmaschine. »Wie heißt er denn?«
»Manfred Steiner.« Er beschrieb den Jungen, während die Lehrmaschine aufmerksam zuhörte.
»Hmm«, sagte sie, als er fertig war. Sie rauchte eine Weile und ließ die Zigarre dann wieder sinken. »Ich glaube, Sie werden den jungen Mann drüben beim römischen Kaiser Tiberius finden, in ein Gespräch vertieft. Jedenfalls haben mir das die Mächtigen, die mit der Leitung dieser Organisation betraut sind, gerade mitgeteilt; ich spreche vom Rektorschaltkreis, Sir.«
Tiberius. Ihm war nicht klar gewesen, daß auch solche Personen hier in der Public School vertreten waren: die unrühmlichen und geistesgestörten Gestalten der Geschichte. Der Mark Twain schloß offensichtlich von seinem Gesichtsausdruck auf seine Gedanken.
»Hier in der Schule«, informierte er ihn, »finden Sie bei Ihrem Rundgang durch die Hallen, Sir, als Beispiele, denen es nicht etwa nachzueifern, sondern die es ängstlich zu meiden gilt, eine große Anzahl von Gaunern, Piraten und Schurken, die zur Aufklärung der Jugend wehklagend und lamentierend ihre erbauliche Geschichte predigen.« Wieder paffte der Mark Twain an seiner Zigarre und zwinkerte ihm zu. Ganz verwirrt eilte Jack weiter.
Beim Immanuel Kant blieb er stehen, um nach der Richtung zu fragen. Mehrere halbwüchsige Schüler bildeten einen Halbkreis um den Lehrer.
»Den Tiberius«, erklärte dieser mit starkem Akzent, »finden Sie da hinten.« Er wies ihm mit absoluter Autorität den Weg; es gab keinen Zweifel, und Jack lief sofort den entsprechenden Flur entlang.
Einen Augenblick später stellte er fest, daß er sich der schmächtigen, weißhaarigen, zerbrechlich aussehenden Gestalt des römischen Kaisers näherte. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, als er auf sie zuging, aber ehe er sie ansprechen konnte, wandte sie ihm den Kopf zu.
»Der Knabe, nach dem Sie suchen, ist nicht mehr hier. Er gehört doch zu Ihnen, oder? Ein auffallend hübscher Jüngling.« Dann verstummte sie, als hielte sie Zwiesprache mit sich selbst. In Wahrheit, wußte Jack, setzte sie sich wieder mit dem Rektorschaltkreis der Schule in Verbindung, der jetzt alle Lehrmaschinen anwies, Manfred für ihn ausfindig zu machen. »Zur Zeit spricht er mit niemandem«, sagte der Tiberius gleich darauf.
Also ging Jack weiter. Eine blinde Frauengestalt mittleren Alters lächelte ihn an, als er vorbeikam; er wußte nicht, wer sie war, und es sprachen auch keine Kinder mit ihr. Aber plötzlich sagte sie: »Der Junge, den Sie suchen, ist bei Philipp dem Zweiten von Spanien.« Sie deutete auf den Flur rechts von ihm und sagte dann mit seltsamer Stimme: »Bitte beeilen Sie sich; wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie ihn so bald wie möglich aus der Schule entfernen würden. Vielen Dank.« Mit einem Klicken verstummte sie. Jack eilte den Flur entlang, den sie ihm gewiesen hatte.
Unmittelbar darauf bog er in einen weiteren Flur ein und stellte fest, daß er vor der bärtigen, asketischen Gestalt Philipps des Zweiten stand. Manfred war nicht mehr hier, aber ein unfaßbarer Hauch seiner Gegenwart schien noch in der Luft zu hängen.
»Er ist gerade erst gegangen, werter Herr«, sagte die Lehrmaschine. Ihre Stimme wies die gleiche seltsame Dringlichkeit auf wie einen Augenblick zuvor die Frauengestalt. »Bitte suchen Sie ihn und bringen Sie ihn fort; wir wären Ihnen sehr dankbar.«
Ohne noch länger zu warten, stürzte Jack den Flur entlang, von panischer Angst erfüllt.
»... sehr dankbar«, sagte eine sitzende Gestalt in weißer Robe, als er vorbeikam. Und als er einen Grauhaarigen im Frack passierte, nahm auch dieser die drängende Litanei der Schule auf. »... so bald wie möglich.«
Er bog um eine Ecke. Und da war Manfred.
Der Junge saß allein auf dem Boden, an die Wand gelehnt, den Kopf gesenkt und offenbar tief in Gedanken.
Jack beugte sich zu ihm hinab und sagte: »Wieso bist du weggelaufen?«
Der Junge antwortete nicht. Jack berührte ihn, aber er reagierte immer noch nicht.
»Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte Jack ihn.
Plötzlich bewegte der Junge sich, rappelte sich auf und stand Jack gegenüber.
»Was hast du?« wollte Jack wissen.
Es kam keine Antwort. Aber auf dem Gesicht des Jungen lagen die Schatten undeutlicher, aufgewühlter Gefühle, die kein Ventil fanden; er starrte Jack an, als sähe er ihn gar nicht. Ganz von sich in Anspruch genommen, unfähig, in die Außenwelt durchzubrechen.
»Was ist passiert?« fragte Jack. Aber er wußte, daß er es nie herausfinden würde; das Wesen vor ihm war nicht imstande, sich zu verständigen. Nur das Schweigen blieb, die völlige Abwesenheit von Kommunikation zwischen ihnen, eine Leere, die nicht gefüllt werden konnte.
Da wandte der Junge den Blick ab und setzte sich wieder wie ein Häufchen Elend auf den Boden.
»Du bleibst hier«, sagte Jack zu ihm. »Ich seh zu, ob ich sie nicht dazu bringen kann, mir David herzuholen.« Vorsichtig entfernte er sich von dem Jungen, und Manfred rührte sich nicht. Als er zu einer Lehrmaschine kam, sagte Jack zu ihr: »Ich möchte gern David Bohlen sprechen; ich bin sein Vater. Ich nehme ihn mit nach Hause.«
Es war die Thomas-Edison-Lehrmaschine, ein älterer Herr, der erschreckt aufsah und eine Hand hinters Ohr legte. Jack wiederholte, was er gerade gesagt hatte.
Sie nickte und sagte: »Kwatsch kwatsch.«
Jack starrte sie an. Und dann drehte er sich um und sah zu Manfred zurück. Der Junge saß immer noch zusammengesunken da, den Rücken an die Wand gelehnt.
Wieder öffnete die Thomas-Edison-Lehrmaschine den Mund und sagte zu Jack: »Kwatsch kwatsch.« Nichts weiter; sie verstummte.
Bin ich das? fragte sich Jack. Bricht die Psychose bei mir jetzt endgültig aus? Oder ...?
Er konnte die Alternative nicht glauben; es war einfach nicht möglich.
Am Ende des Flurs wandte sich eine andere Lehrmaschine an eine Gruppe von Kindern; widerhallend und metallisch kam ihre Stimme aus der Ferne. Jack lauschte gespannt.
»Kwatsch kwatsch«, sagte sie zu den Kindern.
Er schloß die Augen. In diesem Moment perfekter Wahrnehmung wurde ihm klar, daß seine Psyche, seine Sinne ihn nicht falsch informiert hatten; was er hörte und sah, geschah wirklich.
Manfred Steiners Gegenwart war in die Strukur der Public School eingedrungen, hatte sie bis auf den Grund ihres Seins durchsetzt.