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Sie verbrachten noch zwei weitere Tage in Casilchas und warteten das Abklingen eines heftigen Frühlingsregens ab. Die Gastfreundlichkeit bereitete Ista zunehmend Unbehagen. Die Mahlzeiten im Refektorium der Akademie strahlten keine gelehrsame Enthaltsamkeit aus, sondern wurden durch ihre Gegenwart zu Festbanketten, bei denen die Tempelvorstände und städtischen Würdenträger insgeheim um einen Platz an ihrer Tafel wetteiferten. Immer noch wurde sie als Sera dy Ajelo angesprochen, musste sich aber dazu zwingen, nicht wieder in ihre tief verinnerlichten höfischen Verhaltensweisen zu verfallen. Allem Anschein nach war ihre Ausbildung zu streng gewesen, um sie jemals ganz hinter sich zu lassen. Sie war liebenswürdig; sie war aufmerksam ihren Gastgebern gegenüber; sie machte Komplimente und lächelte, biss die Zähne zusammen und schickte Foix aus, um den in letzter Zeit schwer auffindbaren dy Cabon zu suchen und ihm mitzuteilen, dass er seine Nachforschungen unverzüglich abschließen müsse. Es wurde Zeit, die Reise fortzusetzen.
Die darauf folgenden Tage verliefen sehr viel angenehmer; es war eine gemächliche Wanderung durch aufblühende Landschaften, von einem unbedeutenden Heiligtum zum nächsten. Beinahe war es die Flucht, die Ista sich von ihrer Pilgerfahrt versprochen hatte. Sie bewegten sich stetig nach Nordwesten, verließen dabei Baocia und gelangten in das benachbarte Herzogtum von Tolnoxo. Lange Stunden im Sattel wechselten ab mit gemächlichen Fußmärschen zu Stätten von historischer oder religiöser Bedeutung — Quellen, Ruinen, Haine und Schreine, berühmte Grabstätten, Feldherrnhügel und einstmals umkämpfte Furten. Die jungen Männer der Reisegruppe suchten auf den Schlachtfeldern nach Pfeilspitzen, Schwertsplittern und Knochen und stritten darüber, ob die Flecken darauf die Überreste heldenhaft vergossenen Blutes waren oder nicht.
Dy Cabon hatte ein weiteres Buch für seine Packtaschen-Bibliothek erworben, ein Werk über die Geschichte und Legenden des Umlandes, und bei jeder Gelegenheit trug er Abschnitte daraus vor. Die eigenartige Abfolge von bescheidenen Gasthäusern und geheiligten Herbergen war mit nichts zu vergleichen, was Ista als Königin, geschweige denn als jüngste Tochter eines Herzogs, je erlebt hatte. Trotzdem schlief sie besser als in ihrem eigenen Bett, so tief und fest, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie das letzte Mal so gut geschlafen hatte. Zu ihrer großen Erleichterung wiederholte der beunruhigende Traum sich nicht.
Die ersten morgendlichen Predigten nach ihrem Halt in Casilchas verrieten noch dy Cabons eilige Studien, denn sie waren unüberhörbar Wort für Wort aus irgendeinem Band mit exemplarischen Unterweisungen abgeschrieben. Doch in den Tagen darauf wagte er sich an immer kühnere und originellere Themen, an Heldengeschichten über chalionische und ibranische Heilige und von den Göttern berührte Märtyrer im Dienste ihrer erwählten Gottheit. Der Geistliche versuchte sogar, Verbindungen zwischen den Predigten bestimmter Tage und den heiligen Stätten herzustellen, die sie an diesen Tagen besuchten, doch Ista konnte er damit nicht täuschen. Er erzählte von berühmten Wundern, gewirkt von Männern und Frauen, die erfüllt gewesen waren von der Macht ihres Gottes. Damit brachte er zwar Ferdas und Foix’ Augen vor religiösem Eifer zum Strahlen — selbst Liss’ blieb nicht unberührt —, doch Ista erreichte der Geistliche mit diesen Botschaften in keinster Weise.
Bald folgten die Gefährten den gewundenen Straßen durch die westlichen Vorberge und erreichten zur Zeit des Mittfrühjahrsfests die Stadt Vinyasca. Dieser Feiertag markierte den Höhepunkt der Jahreszeit und lag genau auf halbem Weg zwischen dem Tag der Tochter und dem der Mutter. In Vinyasca war dieses Fest überdies verknüpft mit dem Wiederbeginn der Handelszüge über die verschneiten Pässe nach Ibra. Diese Karawanen brachten jungen Wein und irisches Öl, getrocknete Früchte, Fisch und Hunderte weitere Köstlichkeiten aus dem Nachbarland, das ein milderes Klima genoss; dazu manche exotische Ware von entfernteren Küsten.
Jenseits der Stadtmauern, zwischen dem steinigen Fluss und einem Pinienhain, war ein Festplatz vorbereitet worden. Würzige Düfte stiegen von den Grillfeuern auf, die hinter Zelten entfacht wurden, in denen die jungen Frauen des Umlands Handarbeiten ausstellten und damit um Auszeichnungen im Namen der Gottheit wetteiferten. Bei dem Zelt mit Stickereien, Näh- und Häkelarbeiten zuckte Liss nur mit den Schultern. Dy Cabon und Foix wagten einen Erkundungsgang zum Zelt mit den Küchenerzeugnissen, kehrten jedoch enttäuscht zurück und berichteten, dass dort nur den Preisrichtern Leckerbissen gereicht wurden.
Das Essen mochte vielleicht im Mittelpunkt des Festes stehen, aber auch dem jugendlichen Bewegungsdrang musste Tribut gezollt werden. Immerhin war es ein Feiertag für die jungen Frauen, und die Jünglinge wetteiferten um deren Aufmerksamkeit bei den verschiedensten Gelegenheiten, in denen sie Geschick und Wagemut zur Schau stellen konnten. Auch Istas Wachen beteiligten sich an diesen Wettkämpfen. Sie erbaten sich von ihrem Befehlshaber die Erlaubnis, ihr Glück zu versuchen. Ferda teilte die Männer sorgfältig ein, sodass zwei von ihnen Ista jederzeit zur Verfügung standen. Doch auch Ferda ließ sich von der Begeisterung anstecken, als er auf die Pferderennen aufmerksam wurde. Da er niemand anderen hatte, den er darum bitten konnte, fragte er Ista um Erlaubnis, und sie unterdrückte ein Lächeln und schickte ihn los, sein Pferd vorzubereiten.
»Mein Botenpferd«, sagte Liss mit sehnsüchtiger Stimme, »dürfte all diese Schindmähren wie Ackergäule aussehen lassen — was sie ohne Zweifel auch sind.«
»Nun, das Rennen für die Damen ist bereits vorüber«, entgegnete Ista. Sie hatte gesehen, wie die Siegerin vorübergeführt worden war, inmitten der jubelnden Angehörigen; Pferd und Mädchen waren mit blauweißen Girlanden geschmückt gewesen.
»Das war ein Rennen für Mädchen«, stellte Liss verächtlich fest. »Einige der erfahreneren Frauen bereiten sich gerade auf das längere Rennen vor — ich hab sie gesehen.«
»Und du bist sicher, dass es nicht Stallmägde, Verwandte oder Besitzer sind?«
»Nein, sie haben sich farbige Bänder an die Ärmel gebunden. Und sie sahen auch aus wie Reiterinnen.«
Genau wie Liss, zweifellos. Sie bemühte sich um einen würdevollen Gesichtsausdruck, wippte dabei aber unruhig auf den Zehenspitzen.
»Also gut«, sagte Ista belustigt. »Wenn zumindest Foix mich nicht alleine lässt …«
Foix lächelte und verbeugte sich ergeben.
»Oh, danke, Herrin, danke!«, rief Liss aufgeregt und war so schnell verschwunden, als wollte sie das Rennen schon zu Fuß anfangen. Zunächst musste sie allerdings zu den Ställen des Gasthauses zurück, wo sie ihre Reittiere untergebracht hatten.
Auf Foix’ Arm gestützt, bummelte Ista über das unbefestigte Gelände, um bei jedem Wettbewerb zugegen zu sein, an dem ihre Leute teilnahmen. Eine ihrer Wachen gewann einen Wettstreit, bei dem man im vollen Galopp mit einem Speer kleine Ringe von aufgestellten Pfosten pflücken musste. Bei einem weiteren Wettkampf ging es darum, nach einem Sprung vom Pferd einen jungen Ochsen niederzuringen. Hier blieb der Ochse Sieger. Die erfolgreichen Mitglieder der Truppe brachten ihre Preise zu Foix und zeigten sie Ista; halb aus Höflichkeit und halb mütterlich hatte diese für den staubbedeckten, humpelnden Ochsen-Ringer ebenso viele tröstende Worte übrig wie Glückwünsche für die siegreichen Wettkämpfer.
Zunächst hatte Ista ihren Begleittrupp als unvermeidliche Last akzeptiert und den Männern kaum Beachtung geschenkt.
Doch während der langen Tage ihrer Reise war sie mit den Namen und Gesichtern vertraut geworden, wie auch mit den Lebensgeschichten, von denen die meisten noch sehr kurz waren. Inzwischen waren es keine austauschbaren Gesichter mehr, nicht mehr nur Krieger, die für ihre Sicherheit sorgten; vielmehr hatte Ista gelernt, die meisten von ihnen als große Kinder zu sehen. Diese Veränderung ihrer Wahrnehmung empfand sie als bedrückend. Sie legte nicht den geringsten Wert darauf. Sie wollte nicht die Verantwortung für sie tragen. Ich hatte kein Glück mit Söhnen. Und doch, Treue musste in beide Richtungen wirken, wenn sie nicht den Keim des Verrats in sich tragen sollte.
Die Teilnehmer versammelten sich zum Pferderennen, und Foix fand für Ista einen Platz auf dem Abhang über der Straße, von dem aus sie über die Menge der anderen erwartungsvollen Zuschauer hinwegblicken konnte. In einer galanten Geste breitete Foix den Mantel auf dem Boden aus, den er wegen des warmen Wetters an diesem strahlend hellen Nachmittag über dem Arm getragen hatte, und Ista ließ sich darauf nieder. Von hier aus hatten sie einen hervorragenden Blick auf Start und Ziel des Rennens, die durch einen Baumstumpf neben der Straße gekennzeichnet waren. Die Rennstrecke verlief zwei Meilen die Straße entlang durch das Tal, dann um eine Gruppe Eichen auf einem Hügel herum und auf demselben Weg zurück.
Etwa zwanzig Pferde und ihre Reiter liefen auf der weiten Fläche um die Straße herum. Ferda dy Gura war dort, mit seinem glänzend schwarzen Ross. Er kürzte seine Steigbügel und musterte die übrigen Teilnehmer, als Liss auf ihrer langbeinigen Fuchsstute herankam. Er drehte sich zu ihr um und starrte sie an, überrascht, aber offensichtlich nicht begeistert. Anscheinend ließ er irgendeine unfreundliche Bemerkung fallen, denn Liss’ Gesicht verriet Enttäuschung. Doch schon im nächsten Augenblick änderte sich ihr Ausdruck wieder, und sie antwortete mit irgendeiner schnippischen Bemerkung. Ferda beugte sich zu ihr hinüber und sprach wieder mit ihr, länger diesmal. Mit einem Ruck lenkte sie ihr Pferd von ihm fort, und ihr Gesicht rötete sich. Doch der Zorn wich rasch aus ihrer Miene und wurde von einem nachdenklichen Miene verdrängt, die bald darauf einem verbissenen Grinsen wich.
Ista machte ihrer Verwunderung Luft. »Nanu. Was hatte das jetzt zu bedeuten?«
Foix, der zu ihren Füßen saß, lächelte heiter. »Ich nehme an, mein Bruder wollte seine Reitkunst vor Liss zur Schau stellen, statt sich mit ihr zu messen. Und ich fürchte, er hat seine Überraschung nicht auf die geschickteste Weise zum Ausdruck gebracht.« Er lehnte sich auf einen Ellbogen und schaute dem Geschehen mit erheitertem Interesse zu, das offensichtlich nicht nur dem farbenfrohen Gepränge des bevorstehenden Rennens galt.
»Und warum seid Ihr nicht dort unten?«, fragte Ista ihn. »Machen Euch die Rippen immer noch zu schaffen?«
»Nein, Majestät. Aber ich bin kein so großartiger Reiter.« Belustigt kniff er die Augen zusammen. »Wenn ich mich zum Wettstreit stelle, suche ich mir einen besseren Kampfplatz.«
Ista hatte den Verdacht, dass er nicht über die Wettkämpfe bei solch ländlichen Feierlichkeiten sprach.
Angeleitet von den Rufen zweier Ordner formierten die Reiter sich zu einer unregelmäßigen Reihe, die quer über die Straße verlief. Der Stadtgeistliche von Vinyasca erklomm den Baumstumpf, eine blauweiße Schärpe um die Taille. Er sprach einen kurzen Segen und weihte das Rennen der Göttin. Dann hielt er ein blaues Tuch empor. Seine Hand fiel herab. Begleitet von gellendem Geschrei sowohl von den Reitern wie auch aus dem Publikum preschten die Pferde los.
Zuerst entbrannte der Kampf um die beste Position, wobei die Tiere in einer gefährlich dichten Gruppe galoppierten, fast Leib an Leib. Einer der Reiter stürzte, doch als die Ersten auf halber Strecke zum Wendepunkt waren, zog die Linie sich bereits weit auseinander. Liss’ Fuchsstute und Ferdas Rappe liefen beide weit vorn mit. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Ista besorgt die Geschehnisse in der Ferne. Ihr Mund stand halb offen, und ihr Atem ging rascher. Als die Reiter wieder hinter dem bewaldeten Hügel hervorkamen, ritten Liss und Ferda deutlich vorneweg, und ihr Vorsprung vergrößerte sich. Die Männer aus Istas Schar jubelten.
Auf halbem Weg zwischen der Baumgruppe und dem Ziel warf Liss einen Blick über die Schulter auf Ferda und seinen keuchenden Rappen. Dann beugte sie sich tief über den Hals ihres Tieres. Der hoch gewachsene Braune schien förmlich durch die Luft zu schweben, und der Abstand zwischen beiden wurde größer.
Selbst Ista brach nun in anfeuernde Rufe aus: »Ja! Weiter! Ha!«
Mit zwei Dutzend Längen Vorsprung hielt Liss auf den Baumstumpf zu, setzte sich dann aber unvermittelt auf. Der Schritt ihres Pferdes verkürzte sich abrupt; und nach einigen weiteren Metern sprang die Fuchsstute beinahe auf der Stelle. Ferdas schaumbedeckter Rappe schoss an ihr vorüber, und Liss ließ die Zügel fahren und ihr Reittier in verhaltenem Kanter hinterdrein trotten. Ihr Tier sah aus, als könne es noch ein weiteres Rennen wie dieses laufen. Ista erinnerte sich, dass die typische Etappe für ein Kurierpferd ungefähr fünfzehn Meilen betrug. Die Rufe der Zuschauer klangen verwundert. Der Rest des Feldes galoppierte durchs Ziel, und die Menge strömte auf die Straße.
Foix hielt mit einem Arm die Knie umfasst und wippte auf der Stelle. Dabei drückte er die Hand vor den Mund; dennoch war sein unterdrücktes, abgehacktes Lachen zu vernehmen.
Ferda stand in den Steigbügeln. Er wirkte erstaunt, und sein Gesicht war rot vor Anstrengung und Zorn. Trotz allem wurde er von den verwunderten Einheimischen als Sieger gefeiert, wobei allerdings so mancher Blick auf Liss fiel. Diese streckte die Nase in die Luft und ließ ihr Pferd an Ferda vorbeiparadieren, auf die Stadt und die wartenden Ställe zu. Ferda schien ihr seine blauweiße Girlande am liebsten vor die Füße werfen zu wollen, durfte die Göttin oder seine Gastgeber aber keinesfalls derart beleidigen.
»Wenn das alles eine Art Liebeswerbung ist«, sagte Ista zu Foix, »solltet Ihr Eurem Bruder vielleicht ein paar hilfreiche Ratschläge bezüglich seiner … hm, Vorgehensweise geben.«
»Nie im Leben!«, erwiderte Foix, der allmählich wieder zu Atem kam, hin und wieder aber noch unterdrückte, vergnügte Quiekser ausstieß. »Selbst wenn ich es versuchte, er würde es mir gewiss nicht danken. Nein, Majestät. Ich würde mich ohne Zögern zwischen meinen Bruder und einen Armbrustbolzen der Roknari werfen, was ich übrigens schon getan habe. Aber die brüderliche Selbstaufopferung muss auch ihre Grenzen haben.«
Ista lächelte spöttisch. »So ist das also. Ich verstehe.«
Foix zuckte die Achseln. »Nun, wer weiß. Man wird sehen.«
»Allerdings.« Ista fühlte sich an die Winkelzüge bei Hofe erinnert, im Kleinen sozusagen. Sie würde Liss davor warnen müssen, in ihrer kleinen Schar keine Unstimmigkeiten zu fördern, sei es nun zufällig oder mit Absicht. Und was Foix betraf, war sie nicht sicher, ob er jemandes Rat bedurfte.
Mit einem Leuchten in den Augen erhob sich Foix. »Ich muss mich nun aufmachen und meinen Bruder zum Sieg beglückwünschen. Die Gelegenheit will ich auf keinen Fall versäumen.« Er beugte sich herunter und half ihr auf, mit einem Elan, der auch für Cardegoss gereicht hätte.
Später am Nachmittag — Liss stand bereits wieder an Istas Seite — beschloss Foix, an einem Holzfäller-Wettbewerb teilzunehmen. Vor den Augen der Damen ging er ohne Hemd in diesen schweißtreibenden Wettkampf. Auf seinem muskulösen Oberkörper waren kaum Narben zu erkennen, obwohl seine Haut an einigen Stellen immer noch ein wenig fleckig wirkte. Ista vermutete, dass er das Breitschwert mit derselben Wucht schwingen konnte wie jetzt die Axt. Doch entweder hatte er sich von seinen Verletzungen nicht so gut erholt, wie er stets behauptete, oder er verfolgte eine äußerst hintersinnige Strategie — auf jeden Fall schloss er den Wettkampf gut gelaunt als Zweiter ab. Er klopfte dem Sieger auf die Schulter, reichte ihm zum Glückwunsch einen Krug Bier aus und ging pfeifend davon.
Erst viel später fand Ista Gelegenheit, mit ihrer Zofe ein paar vertrauliche Worte zu wechseln. Sie zogen sich nach dem Abendessen auf den Balkon ihres prächtigen Gemachs zurück, das einen Blick auf den Stadtplatz bot. Auf der gepflasterten Fläche zu ihren Füßen hatte es zuvor ein Festmahl gegeben. Inzwischen waren die Reste fortgeräumt und Platz für Musik und Tanz geschaffen worden. Hunderte von Metalllaternen mit fein ausgestanzten Oberflächen waren rund um den Platz verteilt, hingen in den Bäumen vor dem Tempel und warfen ein filigranes Lichtmuster auf die Szenerie. Bislang ging es noch nicht allzu wild zu, denn die jungen Frauen wurden von ihren Familien gut beaufsichtigt. Ista vermutete, dass das ernsthafte Besäufnis erst später am Abend begann, wenn die Mädchen den Heimweg angetreten hatten.
Sie machte es sich auf einem Stuhl bequem, den man für sie herausgestellt hatte. Liss stützte sich auf die hölzerne Brüstung und schaute sehnsüchtig den Tänzern zu.
»Also«, sagte Ista nach einer Weile. »Was hatten du und Ferda vor dem Rennen miteinander zu besprechen? Was hat euch so aufgebracht?«
»Ach …« Liss verzog das Gesicht und drehte sich halb herum. »Dummheiten. Er wollte mir erzählen, es wäre unlauter von mir, am Rennen teilzunehmen, weil mein Botenpferd viel zu überlegen für so einen ländlichen Wettbewerb sei. Als ob sein Pferd nicht das Beste wäre, was Cardegoss aufzubieten hatte! Außerdem sei es ein unziemlicher Wettbewerb für eine Frau, sagte er. Dabei war ein halbes Dutzend anderer Frauen dabei! Bei einem Rennen zu Ehren der Göttin! Sämtliche Männer sind im Namen ihrer Frauen angetreten, auch Ferda — er hat sich Euch zu Ehren eingeschrieben.«
»Dann waren seine Einwände wohl nicht ganz angebracht, das muss ich zugeben«, murmelte Ista.
»Er war abscheulich! Nun, ich habe es ihm gezeigt.«
»Ja, aber du hast ihm auch gezeigt, dass er zumindest zum Teil Recht hatte. Dein Pferd war den Tieren aus Vinyasca weit überlegen.«
»Genau wie seins! Wenn ich deshalb nicht hätte antreten sollen, gilt das auch für ihn.«
Ista lächelte, und nach einem Augenblick wandte Liss sich wieder den ländlichen Tänzen zu, bei denen Männer und Frauen mal getrennt tanzten, wobei sie sich an den Händen fassten und im Reigen drehten, dann wieder zusammen, in komplizierten Figuren, die ein Ausrufer festlegte und laut verkündete, während die Musik weiterspielte. Meist ging es sehr wild zu, mit wirbelnden Röcken und Untergewändern und rhythmisch stampfenden Füßen.
Ista versuchte, sich darüber klar zu werden, ob die Missstimmung zwischen ihren beiden maßgeblichen Bediensteten ein Problem darstellte oder eher das Gegenteil. Tatsächlich wusste sie nicht einmal, ob ihre Kammerjungfer, die sie so hastig in ihre Dienste genommen hatte, überhaupt noch Jungfrau war. Die Reiterinnen im Kurierdienst achteten vermutlich darauf, dass sie nicht schwanger wurden, denn damit hätten sie ihren Lebensunterhalt verloren. Das bedeutete aber nicht notwendigerweise, dass sie in Liebesdingen enthaltsam waren, oder unschuldig, oder unwissend. Eher war das Gegenteil anzunehmen, denn Unschuld, die auf Unwissenheit beruhte, konnte sich nicht schützen.
Am Hofe König Ias’ hatte Ista unweigerlich auch einiges darüber gehört, wie Männer und Frauen — oder welche Geschlechter auch immer aufeinander trafen — ihren Spaß haben konnten, ohne eine Schwangerschaft zu riskieren. Ista wusste nicht, wie viele dieser Geheimnisse in den Schlafsälen der Mädchen beim Kurierdienst ausgetauscht wurden oder was ihnen die Frauen beibrachten, die sie beaufsichtigten und die in der Regel selbst einstige Botenreiterinnen waren. Nun ja, als Mädchen vom Lande und von einem Hof, der sich der Tierzucht widmete, war Liss ohnehin zweifellos besser über die wesentlichen Dinge aufgeklärt, als Ista es in einem vergleichbaren Alter gewesen war. Doch in einer so kleinen Gruppe konnten Gefühle leicht einen ähnlichen Schaden anrichten wie körperliche Verletzungen.
Auch hatte Ista ihre Zweifel, ob die Brüder dy Gura Liss ernsthaft den Hof machen wollten oder bloß eine Verführung im Sinn hatten. Der Standesunterschied zwischen einem landlosen niederen Adligen und dem Kind eines wohlhabenden freien Bauern ließ eher auf Letzteres schließen — doch war der Unterschied nicht so groß, dass ernste Absichten undenkbar wären. Insbesondere, wenn eine Mitgift in Aussicht stand, was in Liss’ Fall allerdings zu bezweifeln war.
Dennoch hatte schon eine kurze Zeit in Liss’ Gesellschaft ausgereicht, um bei beiden Brüdern die Aufmerksamkeit zu wecken. Und das war kein Wunder! Das Mädchen war ebenso hübsch wie aufgeweckt, und die jungen Männer waren gesund und tatkräftig … Vielleicht war es nicht ratsam, allzu eifrig zu vermitteln und das Zerwürfnis zwischen Liss und Ferda beizulegen, sonst ersetzte sie womöglich die eine Komplikation durch eine andere, die sehr viel schwerer zu bewältigen war.
Trotzdem konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig nachzubohren: »Was hältst du jetzt eigentlich von den Brüdern dy Gura?«
»Ferda war zu Anfang ganz nett, aber in letzter Zeit ist er ziemlich aufgeblasen.«
»Er nimmt seine Verantwortung sehr ernst, nehme ich an.«
Liss zuckte die Achseln. »Und Foix … es geht so, würde ich sagen.«
Wäre Foix wohl am Boden zerstört, wenn er dieses wenig begeisterte Urteil zu hören bekäme? Womöglich nicht. Ista brachte einen vorsichtigen Hinweis an: »Ich verlasse mich darauf, dass kein Mann meiner Wache dich belästigt. Eine Zofe muss stets auf ihren Ruf achten, damit auch die Tugend ihrer Herrin über jeden Zweifel erhaben ist.«
»Nun, anscheinend nehmen alle den Eid sehr ernst, den sie der Göttin geleistet haben.« Sie rümpfte die Nase. »Oder Ferda hat sie eigens ausgesucht, weil sie ebensolche Tugendbolde sind wie er.« Ein fröhliches Lächeln zauberte ein Grübchen auf Liss’ Wangen. »Was den guten Geistlichen betrifft — der hat allerdings keine Zeit verschwendet. Er hat mir schon während unserer ersten Nacht in Palma ein eindeutiges Angebot gemacht.«
Ista blinzelte überrascht. »Ach?«, bemerkte sie vorsichtig. »Nun, nicht jedes Mitglied der Kirche des Bastards hat … äh, diese spezielle Vorliebe. Das vergisst man allzu leicht.« Sie dachte sorgfältig darüber nach, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte. »Eine Beleidigung musst du nicht dulden, egal welches Amt oder welchen Rang der Betreffende einnimmt. Genau genommen darfst du keine Beleidigung hinnehmen, solange du in meinen Diensten stehst. Du sollest mich also in Kenntnis setzen, sobald so etwas geschieht.«
Liss warf den Kopf zurück. »Wahrscheinlich hätte ich beleidigt sein sollen, aber er hat sein Anliegen bezaubernd vorgebracht. Wirklich! Als ich ihn abgewiesen habe, hat er es mit Fassung getragen und sich dann an ein Zimmermädchen herangemacht.«
»Ich habe keine Beschwerden gehört!«
Liss kicherte. »Ich glaube nicht, dass das Mädchen Grund zu Beschwerden hatte. Als sie später aus ihrem Gemach kamen, hat sie herzhaft gelacht, dass ich mich schon fragte, was ich wohl versäumt habe.«
Ista gab sich alle Mühe, ein gutes Beispiel an Ernsthaftigkeit zu geben und ihre Erheiterung nicht zu zeigen; diesmal aber scheiterte sie. »Ach du meine Güte!«
Liss grinste und schaute wieder neidisch zu den Tänzern hinunter. Nach einer Weile konnte Ista es nicht länger ertragen und entließ sie, damit sie sich der Feier anschließen konnte. Liss schien erfreut über diese unerwartete Gunst, und Ista war ein wenig erschrocken, als ihre Zofe sich sogleich vom Balkon schwang, kurz mit einer Hand am Geländer hing, sich dann einfach aufs Pflaster fallen ließ und davoneilte.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, alleine zu sein. Einige Männer gingen unten vorbei und riefen Bemerkungen hinauf, die leicht anzüglich waren, aber nicht wirklich unfreundlich. Ista wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, also beachtete sie die Zurufe gar nicht. Die Männer gingen weiter, nicht ohne sich dabei noch anzüglicher zu äußern. Liss hatte solche derben Späße mit heiterer Leichtigkeit erwidert, und die betrunkenen Verehrer waren abgezogen und hatten leise in sich hineingelacht. Das ist nicht meine Welt. Und doch hatte Ista einmal darüber geherrscht, scheinbar, aus entrückter Ferne in Cardegoss.
Ferda dy Gura erschien auf dem benachbarten Balkon, fand Ista alleine vor und musterte einen Möchtegern-Ständchenbringer, bis dieser davonschlich. Er tadelte Ista dafür, dass sie ihre Begleitung fortgeschickt hatte, auch wenn er seine Worte zurückhaltend wählte. Dann verschwand er und kam wenig später unten aus der Tür des Gasthauses wieder zum Vorschein, um sich in die Menge zu stürzen und sich auf die Suche nach Liss zu machen. Als Ista die beiden wieder sah, hatten sie die Fäuste geballt und standen sich zornig gegenüber. Doch worüber sie so heftig stritten, erfuhr Ista nicht, denn beide verstummten, ehe sie in Istas Hörweite gelangten.
Schließlich ging Ista zu Bett. Die Festlichkeiten hielten noch einige Stunden lautstark an, doch nicht einmal der Lärm konnte Ista noch wach halten.
Spät in der Nacht schlug sie in einem Traum die Augen auf und fand sich erneut in jenem geheimnisvollen Burghof wieder. Diesmal war die Szenerie in Dunkelheit getaucht — war es dieselbe Nacht? Zumindest, so schien es, stand derselbe abnehmende Mond am Himmel, der auch über Vinyasca leuchtete. Er verbreitete ein kränkliches, fahles Licht. Doch die Schatten waren nicht undurchdringlich: Ein merkwürdiges Glühen hing in der Luft, wie ein Seil aus weißem Feuer. Es lief über den Hof und die Treppen hinauf und verschwand schließlich durch die schwere Tür am Ende der Galerie. Istas Traum — Ich wagte es nicht, die leuchtende Linie zu berühren, obwohl sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie folgte ihr die Treppen hinauf, über die Dielen, durch die Tür.
In dem Schlafraum war es dunkler als auf dem Hof. Kein Mondschein drang durch die geschlossenen Fensterläden, und doch gab es Licht: Die feurige Schnur schien geradenwegs vom Herz des Mannes aufzusteigen, der ausgestreckt auf dem Bett lag. Die bleichen Flammen züngelten über seinen ganzen Körper, als stünde er in Brand, stiegen flackernd und lodernd von seiner Brust auf und strömten davon … und in diesem Moment fragte sich Ista, ob sie hier wirklich ein Seil vor sich sah und nicht eher eine Rohrleitung. Und wenn es eine Leitung war — wohin führte sie? Ista blickte an der dahintreibenden Lichtschnur entlang und fühlte sich versucht, danach zu greifen, sich daran festzuhalten und sich mitziehen zu lassen zum anderen Ende, so wie ein Seil eine Ertrinkende aus dem Wasser ziehen konnte.
Ihre Traumhand griff zu; der Lichtstrom brach ab, zerfiel unter ihren Fingern und perlte in glühenden Wirbeln auseinander.
Der Mann auf dem Bett erwachte, schnappte nach Luft, fuhr halb empor. Erblickte sie. Streckte eine brennende Hand nach ihr aus.
»Ihr da!«, stieß er hervor. »Werte Dame! Helft mir, um des Gottes willen …«
Welchen Gottes?, fragte Ista sich unwillkürlich, von grellem Entsetzen gepackt. Sie wagte es nicht, diese Furcht einflößende, flammenumkränzte Hand zu ergreifen, so sehr diese sich auch nach ihr ausstreckte. »Wer seid Ihr?«
Mit weit aufgerissen Augen verschlang er ihren Anblick. »Sie spricht!« Seine Stimme brach. »Verehrte Dame, ich flehe Euch an, geht nicht fort …«
Ista riss die Augen auf und blickte in das Halbdunkel ihres kleinen Gastzimmers in Vinyasca.
Es war still. Die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge von Liss’ Pritsche auf der anderen Seite des Raumes waren der einzige hörbare Laut. Das Tanzvergnügen war offensichtlich zu Ende; die letzten betrunkenen Feiernden hatten ihren Weg nach Hause gefunden oder waren unterwegs in irgendwelchen Hauseingängen eingeschlafen.
Leise schwang Ista die Beine aus dem Bett und schlich zu den verschlossenen Fensterläden. Behutsam löste sie den Riegel und schlüpfte auf den Balkon. Das einzige Licht hier draußen stammte von zwei Wandlaternen, die auf der anderen Seite des Marktplatzes zu beiden Seiten der verschlossenen Tempeltüren hingen und weit heruntergedreht waren. Ista schaute hinauf zur schmalen Mondsichel am Nachthimmel. Sie wusste, dass es derselbe Mond war wie in ihren Traumbildern. Dieser Ort, dieser Mann — alles war so wirklich wie sie selbst, wo immer es sich auch befinden mochte. Hatte dieser merkwürdige Mann heute Nacht von Ista geträumt, so wie Ista von ihm? Was hatten seine dunklen Augen gesehen, dass er so verzweifelt die Hand nach ihr ausgestreckt hatte? Verwirrte sie ihn so sehr wie er sie?
Seine Stimme war klangvoll, wenn auch ausgehöhlt von Schmerz oder Entsetzen oder Erschöpfung. Doch er hatte Ibranisch gesprochen, die gemeinsame Sprache von Ibra, Chalion und Brajar. Nicht Darthacan oder Roknari — obwohl es ein Dialekt aus Nordchalion gewesen war, beeinflusst von der roknarischen Sprechweise.
Ich kann Euch nicht helfen. Wer immer Ihr seid, ich kann nichts tun. Betet zu Eurem Gott, wenn Ihr auf Rettung hofft. Aber ich kann Euch nicht dazu raten.
Sie floh vor dem Mondschein, schloss sorgfältig die Fensterläden hinter sich und schlüpfte wieder in ihr Bett, so leise sie konnte, sorgsam darauf bedacht, Liss nicht zu wecken. Dann zog sie sich das daunengefüllte Kissen über den Kopf. Es sperrte jeden Anblick aus, bis auf den einen, den sie nicht mehr sehen wollte, der sich jedoch vor ihrem inneren Auge eingebrannt hatte. Als sie im ersten Morgengrauen des nächsten Tages erwachte, war diese Erinnerung noch immer deutlich und ließ alle tatsächlichen Ereignisse des vergangenen Tages eher wie verblasste Träume erscheinen. Ista umklammerte ihre Decken und wartete auf das Tageslicht.
Es war kurz nach Sonnenaufgang, und Liss flocht Ista das Haar, als ein Klopfen an der Tür des Gemachs ertönte. Die Stimme von Foix dy Gura war zu vernehmen: »Herrin? Liss?«
Liss ging zur Tür und öffnete. Dahinter verlief eine Galerie über dem Innenhof des Gasthauses, auf dem sich auch der Brunnen befand. Foix, bereits fertig angekleidet für die Reise, nickte ihr zu und verbeugte sich kurz vor Ista, die über Liss’ Schulter blickte.
»Guten Morgen, Herrin. Hochwürden dy Cabon lässt Euch seine untertänigsten Entschuldigungen bestellen, doch kann er heute bedauerlicherweise nicht die Morgenandacht leiten. Er ist plötzlich krank geworden.«
»O nein«, sagte Ista. »Ist es ernst? Sollen wir zum Tempel schicken und einen Heiler erbitten?« Doch Vinyasca war viel kleiner als Valenda; war die Kirche der Mutter hier überhaupt hinreichend ausgestattet, um eine gut ausgebildete Ärztin zu unterhalten?
Foix kaute auf der Unterlippe, wobei seine Mundwinkel beständig nach oben zuckten. »Nun … äh, ich glaube, so schlimm ist es nicht, Majestät. Vielleicht hat er gestern nur etwas Verkehrtes gegessen. Oder … hm, getrunken.«
»Er war nicht betrunken, als ich ihn zuletzt gesehen habe«, meinte Ista zweifelnd.
»Oh, das war früh am Abend. Anschließend hat er sich einer Gruppe aus dem örtlichen Tempel angeschlossen, und … nun, sie haben ihn ziemlich spät zurückgebracht. Durch eine verschlossene Tür hindurch kann man zwar kein gesichertes Urteil über die Art der Krankheit fällen, doch sein Stöhnen und die anderen Laute, die er von sich gab, hörten sich für mich sehr nach einem schlimmen Kater an. Erschreckend vertraut. Das hat bei mir alte Erinnerungen aufgewühlt … zum Glück verschwommene Erinnerungen. Aber unangenehme.«
Liss unterdrückte ein Auflachen.
Ista warf ihr einen missbilligenden Blick zu und meinte: »Also gut. Sagt Euren Leuten, sie können langsam machen und ihre Pferde beim Heu lassen. Wir werden stattdessen die Morgenandacht im Tempel besuchen und später entscheiden, wann wir aufbrechen. Schließlich sind wir nicht in Eile.«
»Wie Ihr wünscht, Herrin.« Foix nickte und verabschiedete sich mit einem knappen Gruß, ehe er ging.
Die Morgenmesse währte eine Stunde, auch wenn Ista das Gefühl hatte, dass sie verkürzt war und nicht sonderlich gut besucht. Der einheimische Geistliche wirkte selbst ziemlich bleich und mitgenommen. Nach der Messe schlenderten Ista, Liss und Foix müßig durch das schläfrige Städtchen, in dem bereits die Festzelte abgebaut und verstaut wurden. Sie spazierten den Fluss entlang auf der gestrigen Rennstrecke. Foix ermunterte Liss, von ihrem Ritt zu erzählen, und von den Pferden und Reitern, von denen Ista kaum etwas mitbekommen hatte. Liss erklärte, dass ihr bemerkenswerter Spurt am Ende des Rennens teilweise trügerisch gewesen war: Vielmehr hatten die anderen Pferde zu diesem Zeitpunkt des Rennens stark nachgelassen. Ista stellte erfreut fest, dass die fünf Meilen lange Wanderung sie nicht mehr so sehr erschöpfte, wie es am Tag ihrer Flucht aus der Burg in Valenda der Fall gewesen war. Und das lag nicht nur an der zweckmäßigeren Kleidung und dem besseren Schuhwerk, das sie heute trug.
Gegen Mittag verließ auch dy Cabon erstmals wieder sein Gemach. Sein Gesicht war so fahl wie ein Hefeteig. Nachdem Ista einen kurzen Blick auf ihn geworfen hatte, verwarf sie endgültig sämtliche Reisepläne für den Tag und schickte dy Cabon zurück ins Bett. Er kroch davon und murmelte dabei ebenso klägliche wie tief empfundene Dankesworte. Ista war erleichtert, dass er kein Fieber hatte. Foix’ Krankheitsbefund war offenbar richtig gewesen — und wurde zusätzlich bestätigt, als der Geistliche gegen Abend das nächste Mal aus seinem Gemach schlich, tief beschämt. Er nahm ein Abendessen aus geröstetem Brot und Tee zu sich und lehnte schaudernd ab, als man ihm ein wenig verdünnten Wein anbot.
Am nächsten Morgen hatte dy Cabon sich scheinbar vollständig erholt, obwohl er bei seiner Predigt zum Sonnenaufgang erneut auf eine Vorlage aus seinem Buch zurückgriff. Dann war Istas Schar wieder unterwegs, während die Morgenkälte noch über dem Land lag. Sie durchquerten das steinige Flussbett und folgten der Straße die Hügel hinauf, fort von Vinyasca und weiter in den Norden.
Sie reisten nun auf der trockenen Seite der Berge, und die Landschaft war nur spärlich mit kleinen Wäldchen aus Pinien und Stechpalmen bewachsen, durchsetzt von Buschwerk. Überall stachen graue Felsspitzen aus dem gelblich-dürren Bewuchs. Der Boden war viel zu karg für einträglichen Ackerbau, von einigen handgepflegten Beeten und Terrassengärten abgesehen. Bald schon wich die dünn besiedelte Gegend um Vinyasca einer regelrechten Wildnis. Die Straße führte hangauf und hangab; ein kleines Tal glich dem anderen. Dann und wann kreuzten Flüsse ihren Weg, die von den fernen Höhen zu ihrer Linken herabströmten. Die Reisenden überquerten sie auf alten Brücken oder über unterirdische Durchleitungen, die alle nicht mehr im besten Zustand waren. Immer öfter mussten ihre Pferde und Maultiere sich einen Weg durch mit Felsen markierte Furten suchen. Am frühen Nachmittag hielten sie neben einem solchen Fluss, um Rast zu machen. Das Wasser war die einzige Gabe, die in diesem Land reichlich zur Verfügung stand: klar und rein und eisig kalt.
Das Ziel für den Abend war ein bekanntes Heiligtum, das versteckt in den Bergen lag, der dörfliche Geburtsort einer gesegneten Heilerin und Anhängerin der Mutter, die ihre Wunder allerdings allesamt weit entfernt von diesem entlegenen Ort gewirkt hatte. Andernfalls, überlegte Ista während des Rittes, wäre sie kaum so bekannt geworden. Goldfarbene Felsziesel lebten zwar reichlich hier — sie flitzten umher, erhoben sich dann und wann zwischen den Steinen und zwitscherten den vorüberreitenden Menschen unfreundliche Willkommenslaute zu —, doch diese Tierchen hätten die Taten der Heiligen gewiss nicht aufgezeichnet und auch kein Interesse daran gehabt, sie zu verbreiten und noch Generationen später Reisende anzulocken. Nach diesem Abstecher wollten die Gefährten wieder hinunter in die Ebenen von Chalion ziehen und bequemen, geraden Straßen folgen.
Und schließlich wieder südwärts nach Baocia und nach Hause reiten?
Nein, Ista wollte nicht wieder zurück. Aber wie lange konnte es so weitergehen? Wie lange konnte sie diese jungen Männer kreuz und quer durch die entlegensten Landschaften führen? Bald schon würden härtere Pflichten sie in Anspruch nehmen, wo die Mächtigen von Chalion bereits für einen herbstlichen Feldzug im Norden rüsteten. Dann werden wir uns eben alle noch ein wenig länger vor unseren Pflichten drücken. Das Wetter war angenehm; es war die beste Jahreszeit für eine Reise. Der Duft von Feldthymian und Salbei erfüllte die warme Nachmittagsluft.
Der Geruch von Blut, Schweiß und Stahl würde sie alle noch früh genug einholen.
Der Weg wurde breiter und verlief um einen bewaldeten Abhang herum, ehe er wieder in ein Tal führte. Ferda und dy Cabon ritten vorneweg, gefolgt von Foix und einer der jungen Wachen. Liss ritt dicht hinter Ista, und der Rest folgte hinterdrein.
Ista spürte es zuerst, als eine Woge des Gefühls: eine verwirrte Bedrohung; Schmerz und Verzweiflung; eine furchtbare und erstickende Enge. Im nächsten Augenblick setzte ihr Pferd die vier Beine stocksteif auf den Boden, hielt abrupt an, blieb zitternd stehend, riss ruckartig den Kopf empor und schnaubte.
Aus dem Schatten der Bäume brach ein Bär hervor. Sein wuchtiger Schulterkamm ragte hoch über seinen gesenkten Kopf, und sein bronzefarbenes Fell kräuselte sich wie Wasser im Schein der tief stehenden Sonne. Für eine solch massige und kurzbeinige Kreatur bewegte er sich unglaublich schnell, und sein Knurren schnitt durch die Luft wie eine Säge.
Sämtliche Pferde und Maultiere bäumten sich auf und drohten durchzugehen. Der junge Krieger vor Ista — Pejar war sein Name — stürzte nach links, als sein erschrockenes Reittier nach rechts ausbrach. Ista sah nicht mehr, wie Pejar zu Boden prallte, denn inzwischen hatte sie mit ihrem eigenen Pferd zu kämpfen, das einen schrillen Schrei ausstieß und auf die Hinterhand stieg. Zu spät versuchte Ista, die Zügel zu verkürzen und nach der Mähne zu greifen. Der Sattelknopf schlug ihr hart in den Leib, und der Sattel wurde unter ihr weggerissen; dann wirbelte ihr der Boden entgegen. Der Aufprall verschlug ihr beinahe den Atem. Benommen richtete sie sich auf und schnappte nach einem umherschlagenden Zügel, verfehlte ihn jedoch.
Inzwischen galoppierten die Pferde in alle Richtungen auseinander, und die wütenden Reiter rissen an den Zügeln und versuchten verzweifelt, die Tiere wieder unter Kontrolle zu bringen. Pejars Pferd war mit leerem Sattel über die Straße galoppiert und hatte sich schon weit entfernt; Istas Reittier folgte ihm, buckelte dabei und trat aus. Der junge Mann lag auf dem Boden und starrte entsetzt auf den Bären, der geifernd über ihm aufragte. War das Tier tollwütig, dass es auf diese Weise angriff? Die Bären in den Bergen waren in aller Regel scheu und gingen Menschen aus dem Weg. Und dieses Tier war keine Mutter, die ihre Jungen verteidigte. Es war ein ausgewachsenes Männchen.
Es ist kein Bär!
Atemlos und fasziniert, stolperte Ista näher heran. Trotz des anfänglichen Eindrucks von beängstigender Kraft war der Bär schwächlich und krank. Aus der Nähe war zu erkennen, dass der Pelz räudig war und in großen Büscheln ausfiel. Das Tier war von gewaltigem Körperbau, doch seine Muskeln wirkten ausgezehrt. Er bewegte sich auf zittrigen Beinen und schaute nun zu Ista empor, als wäre er von ihr ebenso fasziniert wie sie von ihm.
Sie hatte den Eindruck, dass die Essenz seines Wesens, seine Bärenhaftigkeit, von innen heraus verzehrt wurde. In den Augen, die ihren Blick erwiderten, glühte eine Intelligenz, die nichts mit dem Verstand eines Tieres zu tun hatte. Ein Dämon hat von ihm Besitz ergriffen und ihn fast schon verschlungen. Und nun braucht er einen neuen Wirt.
»Wie kannst du es wagen«, stieß Ista zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du gehörst nicht in diese Welt, Dämon. Geh zurück zu deinem verfluchten Herrn.«
Sie hielten einander mit Blicken fest. Ista trat näher heran. Der Bär wich vor dem leichenblassen Jüngling am Boden zurück. Ein weiterer Schritt. Und noch einer. Der Bären-Dämon drückte den Kopf bis fast zum Boden herab. Seine Augen waren weit aufgerissen und weiß umrandet. Er schnüffelte und wich ängstlich immer weiter zurück.
»Ich komme, Majestät!« Mit einem atemlosen Ruf erschien Foix am Rande von Istas Blickfeld. Sein Mantel bauschte sich, und er führte sein Breitschwert in einem kraftvollen Bogen, legte seine ganze Kraft in den Schlag. Seine Lippen waren verzerrt und entblößten die zusammengebissenen Zähne.
»Foix, nein!«, rief Ista. Doch es war zu spät.
Mit einem einzigen Schlag trennte die schwere Klinge dem Bären den Kopf von den Schultern und bohrte sich in die Erde darunter. Ein Blutschwall schoss aus dem Hals der Kreatur, und der Kopf rollte über den Boden davon. Eine der Vorderpranken zuckte; dann fiel der massige, pelzige Leib zu einem kraftlosen Bündel zusammen.
Ista glaubte, den Dämon mit fast allen Sinnen wahrzunehmen. Es war eine greifbare Präsenz, eine blutrote Lohe, ein Geruch wie von glühendem Metall. Es wälzte sich auf Ista zu, um dann in einer Art instinktivem Entsetzen plötzlich vor ihr zurückzuweichen. Einen verzweifelten Augenblick lang zögerte es zwischen Foix und dem Jungen am Boden. Dann strömte es in Foix hinein.
»Was …«, brachte Foix in einem seltsam beiläufigen Tonfall hervor. Dann verdrehte er die Augen und brach zusammen.