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»Ich habe es die ganzen Jahre über immer wieder beobachtet«, sagte der alte Mann. »Sie wären überrascht, wie viele vielversprechende junge Männer in diesem Zimmer enden, außer Atem, mit einer Waffe in der Faust, drei Minuten hinter ihnen folgen die Jäger. Sie erwarten unsere Hilfe, aber wir Mutanten gehen Unannehmlichkeiten gern aus dem Weg.«
»Sei' still, Dem«, mischte sich die alte Frau ein.
»Schätze, wir werden Ihnen helfen müssen«, sagte Dem.
»Myla hat sich aus unergründlichen Erwägungen heraus dazu entschlossen.« Er lächelte ironisch. »Ihre Mutter und ich haben ihr gesagt, daß sie sich irrt, aber sie besteht darauf. Und da sie die einzige von uns ist, die die Vergangenheit erforschen kann, müssen wir sie gewähren lassen.«
»Selbst wenn wir Ihnen helfen, besteht nicht viel Hoffnung für Sie, die Jagd zu überleben«, sagte Myla.
»Wie soll Ihre Voraussage zutreffen, wenn ich getötet werde?« fragte Barrent. »Erinnern Sie sich noch, Sie sahen mich, wie ich auf meine eigene Leiche niederblickte, und diese war in einzelne Teile zerspalten.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Myla. »Aber Ihr Tod hat keinen Einfluß auf die Voraussage. Wenn sie sich nicht zu Ihren Lebzeiten erfüllt, dann eben in einem neuen Leben.«
Barrent war nicht befriedigt. »Was soll ich tun?«
Der alte Mann gab ihm ein paar alte Lumpen. »Ziehen Sie das hier an. Ich werde mich Ihres Gesichtes annehmen. Sie werden sich in einen Mutanten verwandeln, mein Freund.«
Schon nach kurzer Zeit war Barrent wieder auf der Straße. Lumpen hüllten ihn ein. Darunter hielt er seine Nadelstrahlwaffe in der einen Hand, mit der anderen umklammerte er einen Betteltopf.
Der alte Mann hatte verschwenderisch mit rosagelblichem Plastikmaterial gearbeitet. Barrents Gesicht wies jetzt an der Stirn eine ungeheure Schwellung auf, seine Nase war flach und reichte fast bis zu den Backenknochen. Die Form des ganzen Gesichts war verändert, so daß die Jagdzeichen versteckt waren.
Eine Gruppe Jäger eilte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Barrent fühlte Hoffnung in sich aifsteigen. Er hatte kostbare Zeit gewonnen. Die letzten Strahlen von Omegas wäßriger Sonne verschwanden hinter dem Horizont. Die Nacht würde ihm zusätzliche Sicherheit geben, und mit einigem Glück würde er den Jägern vielleicht bis zur Morgendämmerung entgehen. Natürlich standen ihm dann noch die Spiele bevor; aber Barrent beabsichtigte nicht, sich an ihnen zu beteiligen. Wenn seine Verkleidung gut genug war, ihn vor einer ganzen jagenden Stadt zu schützen, sah er keinen Grund, warum er für die Spiele gefangen werden sollte.
Wenn der Feiertag vorüber war, konnte er vielleicht sogar wieder in der Gesellschaft von Omega auftauchen. Es war auch möglich, daß man ihn besonders belohnen und auszeichnen würde, wenn es ihm gelang, der Jagd und den Spielen zu entgehen. Solch ein vermessenes und erfolgreiches Brechen des Gesetzes mußte einfach ausgezeichnet werden..
Er sah eine neue Gruppe Jäger auf sich zukommen. Es waren fünf, und unter ihnen befand sich Tem Rend, der in seiner neuen Uniform der Mördergilde düster und stolz wirkte.
»He, du!« rief ihm einer der Jäger zu, »hast du eine Jagdbeute in dieser Gegend gesehen?«
»Nein, Bürger«, antwortete Barrent und senkte respektvoll den Kopf, die Waffe griffbereit unter den Lumpen.
»Glaub ihm nicht«, sagte ein anderer. »Diese verdammten Mutanten verraten doch nie etwas.«
»Kommt, wir werden ihn schon finden«, schlug ein anderer vor. Sie gingen weiter, nur Tem Rend blieb etwas zurück.
»Bist du sicher, daß du keinen Gejagten gesehen hast?« fragte
er.
»Ganz sicher, Bürger«, antwortete Barrent. Er war sich nicht im klaren, ob Rend ihn erkannt hatte. Er wollte ihn nicht töten; besser gesagt, er wußte nicht, ob er das überhaupt konnte, denn Rends Reaktionen waren unheimlich schnell. Im Augenblick hing Rends Waffe locker in seiner Hand, während Barrent seine schon angelegt hielt. Der Vorteil dieses Bruchteils einer Sekunde würde Rends größere Schnelligkeit und Genauigkeit vielleicht ausgleichen. Aber wenn es hart auf hart ging, dachte Barrent, würden sie sich beide wahrscheinlich gegenseitig töten
»Nun«, sagte Rend leise, »wenn du aber nun doch noch zufällig einen der Gejagten sehen solltest, so rate ihm davon ab, sich als Mutant zu verkleiden.«
»Warum?«
»Dieser Trick bewährt sich nie lange«, antwortete Rend ruhig.
»Vielleicht eine Stunde. Dann entdecken ihn die Spitzel. Wenn ich zum Beispiel gejagt werden sollte, würde ich mich vielleicht auch als Mutant verkleiden. Aber ich würde nicht einfach auf einem Rinnstein sitzenbleiben. Ich würde versuchen, aus Tetrahyde auszubrechen.«
»Tatsächlich?«
»Ganz gewiß. Jedes Jahr flüchten ein paar Gejagte in die Berge.
Die Behörden sprechen nicht offen darüber - das ist ja verständlich.
Und die meisten Bürger wissen folglich auch nichts davon. Aber die Mördergilde hat eine Beschreibung aller je angewandten Tricks, Verkleidungen und Schliche. Das gehört zu unserem Geschäft.«
»Sehr interessant«, sagte Barrent. Er wußte, daß Rend ihn erkannt hatte. Tem benahm sich wie ein guter Nachbar -allerdings auch wie ein schlechter Mörder.
»Natürlich ist es nicht leicht, aus der Stadt zu fliehen«, erklärte Rend. »Und wenn man erst mal draußen ist, heißt das noch lange nicht, daß man außer Gefahr ist. Auch dort gibt es Jagdgruppen, die die Gegend durchstreifen, aber was noch schlimmer ist -«
Rend unterbrach sich abrupt. Eine andere Jagdtruppe kam auf sie zu. Rend nickte ihm freundlich zu und ging davon
Nachdem die Jäger vorüber waren, stand Barrent auf und schritt die Straße entlang. Rend hatte ihm einen guten Rat gegeben.
Natürlich flüchteten manche aus der Stadt. Zwar würde das Leben in den kahlen Bergen von Omega äußerst schwierig sein, aber jede Schwierigkeit war besser als der Tod. Wenn es ihm gelang, an den Stadttoren vorbeizukommen, mußte er auf die Jagdpatrouillen aufpassen. Und Tem hatte etwas noch Furchtbareres erwähnt. Barrent überlegte, was das sein könnte. Vielleicht besonders geschulte Bergjäger? Das unstete Wetter Omegas?
Tödliche Flora oder Fauna? Er wünschte, Rend hätte seinen Satz beenden können. Die Nacht brach herein, als er das Südtor erreichte. Tief nach vorn gebeugt, humpelte er auf das Wachhaus zu, das ihm den Weg nach draußen versperrte.
Die Wachen machten keine Schwierigkeiten. Ganze Mutantenfamilien strömten aus der Stadt, um vor der Wildheit und den Ausschweifungen der Jagd in den Bergen Schutz zu suchen. Barrent schloß sich einer Gruppe an und befand sich bald eine Meile von Tetrahyde entfernt in den flachen Hügeln, die die Stadt in einem Halbkreis umgaben
Hier hielten die Mutanten an und richteten sich ein Lager. Barrent marschierte weiter. Gegen Mitternacht kletterte er einen steilen Pfad zu einem der höchsten Berge hinauf. Er verspürte Hunger und fühlte sich matt, aber die kühle, klare Luft belebte ihn.
Allmählich begann er daran zu glauben, daß er die Jagd tatsächlich überleben würde.
Aus der Ferne hörte er eine geräuschvolle Jagdgruppe, die die Hügel absuchte. Es gelang ihm leicht, ihr in der Dunkelheit auszuweichen, und er kletterte immer höher. Bald war kein Laut mehr zu vernehmen, außer dem gleichmäßigen Rauschen des Windes an den Klippen. Es war gegen zwei Uhr morgens. Nur noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang!
Es begann zu regnen, zuerst leicht, dann immer stärker. Das war ein typisches Wetter für Omega. Ebenso typisch waren die Gewitterwolken über den Bergspitzen, der Donner und die gelben Blitze.
Barrent fand in einer kleinen Höhle Schutz und betrachtete es als ein Glück, daß die Temperatur noch nicht gesunken war.
Fast wäre er eingenickt. Er saß in der Höhle - die Überreste seines Makeups flossen an seinem Gesicht entlang und über die Steine vor der Höhle. Plötzlich bemerkte er in dem grellen Aufleuchten eines Blitzes etwas über den Abhang herankriechen und direkt auf die Höhle zukommen
Die Waffe schußbereit in der Hand, erhob er sich und wartete auf einen weiteren Blitz. Als er aufzuckte, sah er das kalte, nasse Glitzern von Metall, das Flackern von rotem und grünem Licht, ein paar Metalltentakel, die sich über Felsen und kleine Büsche hinwegtasteten.
Es war eine Maschine, ähnlich der, gegen die Barrent in dem Saal des Justizministeriums gekämpft hatte. Jetzt wußte er, wovor ihn Rend hatte warnen wollen. Und er konnte auch verstehen, warum wenige der Gejagten zu entfliehen vermochten, selbst wenn sie die Stadt verlassen hatten. Diesmal würde Max nicht nach Zufallsstatistiken vorgehen, um einen gleichwertigen Kampf zu bieten. Und es würde auch keine Batterie an seiner Unterseite offen daliegen
Als Max in Schußweite kam, feuerte Barrent. Der Treffer prallte harmlos an der Maschine ab. Barrent verließ den Schutz seiner Höhle und kletterte weiter aufwärts.
Die Maschine folgte ihm mit gleichmäßigen Bewegungen über den schlüpfrigen, nassen Gebirgspfad. Barrent versuchte ihn auf dem mit dicken Felsblöcken übersäten Plateau abzuhängen, aber Max ließ sich nicht abschütteln. Barrent wurde sich bewußt, daß die Maschine irgendeiner chemischen Spur folgen mußte; wahrscheinlich dem Geruch, der den unauslöschlichen Merkmalen auf seinem Gesicht anhaftete.
Nun versuchte Barrent es auf andere Weise. Von der Höhe einer steilen Felswand rollte er Felsbrocken auf die Maschine und hoffte, dadurch eine Lawine ins Rollen zu bringen. Den meisten Blöcken wich Max aus, die restlichen polterten ohne sichtliche Wirkung auf ihn und wieder von ihm herab.
Endlich wurde Barrent in eine enge, steilabfallende Felsnische gedrängt. Er vermochte nicht höher zu klettern. Er wartete. Als sich die Maschine über ihn schwang, hob er die Nadelstrahlwaffe gegen die Metalloberfläche und feuerte.
Max erzitterte einen Moment von dem Stoß. Dann stieß die Maschine Barrent die Waffe aus der Hand und legte ihm einen Fangarm um den Hals. Die Klammer verstärkte sich und wurde enger. Barrent fühlte, wie er das Bewußtsein verlor. Es blieb ihm gerade noch Zeit zu überlegen, ob die Klammer ihn erwürgen oder sein Genick brechen würde.