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Wenn diese Momente des Schweigens eintraten, mußte Lansing oft an sein bisheriges Leben denken. Voller Überraschung stellte er fest, daß ihm die Hochschule, an der er gelehrt hatte, als ein ferner Ort erschien. Seine Freunde waren für ihn zu Freunden aus alten, halb vergessenen Zeiten geworden. Sein altes Leben hatte er nun kaum eine Woche hinter sich gelassen, und doch hatte er ein Gefühl, als ob ihn Jahre von seinen alten Freunden und der Hochschule trennten. Heimweh überwältigte ihn, und er verspürte den heftigen Drang, umzukehren und in seiner Spur zurückzugehen. Aber das würde nicht einfach sein. Wenn er überhaupt den Weg zurück fände, weiter als bis zum Gasthaus würde er vermutlich nicht kommen. Höchstens noch bis zu der Stelle, an der er diese Welt zum erstenmal betreten hatte. Doch von dort gab es keinen Weg zur Universität, zu Andy, zu Alice, zu der Welt, die einmal die seine gewesen war. Zwischen ihm und seinem früheren Leben lag etwas Unwägbares. Etwas, das er nicht begreifen konnte.
Es gab keinen Weg zurück. Er mußte weitergehen, nur wenn er nach vorn ging, konnte er hoffen, den Rückweg zu finden. Hier gab es etwas, das er finden mußte, und solange er es nicht gefunden hatte, war an eine Heimkehr nicht zu denken. Selbst wenn er es fand, durfte er immer noch nicht mit Sicherheit annehmen, daß es für ihn überhaupt einen Rückweg gab. Vielleicht handelte er wirklich wie ein Verrückter, aber er hatte keine andere Wahl. Er mußte weitermachen. Er konnte nicht einfach aussteigen, so wie die vier Kartenspieler im Gasthaus ausgestiegen waren.
Er versuchte sich eine logische Möglichkeit vorzustellen, einen Weg, wie er und die anderen von einer Welt in die andere gelangt sein konnten. Das Ganze schmeckte nach Zauberei, aber es gab keine Zauberei. Was immer auch geschehen sein mochte, es war im Einklang mit gewissen physikalischen Gesetzen erfolgt. Die Zauberei selbst war schließlich nichts anderes als die Anwendung von physikalischen Gesetzen, die in seiner Heimatwelt bisher noch unbekannt waren.
Im Fakultätsclub hatte Andy mit dem Glas in der Hand über die Endlichkeit des Wissens geredet, über die Grenzen der Physik. Aber Andy hatte von dem, worüber er sprach, keine blasse Ahnung gehabt, nicht einmal den Hauch von Verständnis. Er hatte nur Phrasen gedroschen, sich einen Spaß mit philosophischen Denkspielen gemacht.
Konnte es hier in dieser Welt, in der er soeben an einem Lagerfeuer hockte, eine Antwort auf diese Fragen geben? War diese Antwort etwa das, wonach sie suchen sollten? Wenn es so wäre, wenn sie sie fänden, würde er sie überhaupt erkennen? Wenn er das Ende des Wissens entdeckte, würde er das bemerken?
Seine Selbstzweifel ärgerten ihn. Er versuchte, diese Gedanken aus seinem Gehirn zu verbannen, aber es gelang ihm nicht. Sie stießen auf eine Lagerstelle, an der die drei anderen übernachtet hatten. Sie fanden die kalte Asche des Feuers, das Papier einer leeren Kekspackung, verstreute Käserinde, ausgeleerten Kaffeesatz.
Das Wetter blieb schön. Manchmal stiegen Wolken am westlichen Himmel auf, aber sie verzogen sich immer wieder schnell. Es regnete nie. Die Sonne schien hell und warm. In der dritten Nacht schreckte Lansing plötzlich aus tiefem Schlaf auf. Es bereitete ihm Mühe, sich zu einer sitzenden Haltung aufzurichten; eine unsichtbare Macht schien ihn am Boden festhalten zu wollen.
Im Flackern des Feuerscheins erkannte er Jürgens. Der Roboter stand über ihn gebeugt und rüttelte ihn an der Schulter. Dabei stieß er leise Laute aus. »Was ist los?«
»Es ist wegen, Miss Mary, Sir. Etwas stimmt mit ihr nicht. Vielleicht hat sie einen Krampf.«
Lansing schaute zu Mary hinüber. Die junge Frau saß aufrecht in ihrem Schlafsack. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zum Himmel hinauf.
Lansing wühlte sich aus seiner Decke und kam schwankend auf die Füße.
»Ich habe sie angesprochen«, berichtete Jürgens, »aber sie hat mich nicht gehört. Ich habe sie ein paarmal gefragt, was los ist, aber sie hat nicht geantwortet.«
Lansing ging zu ihr hinüber. Sie saß da wie eine Statue - steif und aufrecht, wie von einem unsichtbaren Schraubstock umklammert.
Er beugte sich über sie, nahm ihr Gesicht in die Hände und tätschelte es behutsam. »Mary«, sagte er. »Mary, was ist los?« Sie reagierte nicht.
Er schlug sie mit der einen, dann mit der anderen Hand. Ihre Gesichtsmuskeln entspannten sich und begannen zu zucken. Dann brach sie zusammen und streckte haltsuchend die Hände nach ihm aus - nicht nach ihm speziell, nach irgend jemandem. Er nahm sie sanft in die Arme und wiegte sie wie einen Säugling. Sie zitterte unkontrolliert und begann zu schluchzen, ein sanftes, leises Wimmern.
»Ich werde mal eine Kanne Tee machen«, sagte Jürgens, »und das Feuer neu aufschichten. Sie braucht jetzt Wärme, innerlich und äußerlich.«
»Wo bin ich?« flüsterte sie.
»Bei uns. Sie sind in Sicherheit.«
»Edward?«
»Ja, Edward und Jürgens. Er macht gerade Tee für uns.«
»Ich bin aufgewacht, und da haben Sie sich über mich gebeugt und mich angesehen.«
»Ruhig«, sagte er, »ganz ruhig sein. Entspannen Sie sich! Sie können uns später alles erzählen. Geht es Ihnen jetzt besser?« »Ja, ich bin in Ordnung«, antwortete sie.
Sie schwieg, und während er sie weiter in seinen Armen hielt, spürte er, wie sich ihre Verkrampfung langsam löste. Schließlich richtete sie sich auf und machte sich von ihm los. Sie sah ihm in die Augen.
»Es war furchtbar«, sagte sie ruhig. »Ich habe noch nie im Leben eine solche Angst gehabt.«
»Es ist jetzt vorbei. Was war es denn, ein Alptraum?« »Nein, es war kein Traum. Sie waren wirklich da, oben am Himmel, und haben sich zu mir herabgebeugt. Helfen Sie mir aus dem Schlafsack. Ich will mich ans Feuer setzen. Jürgens macht Tee, sagten Sie?«
»Schon fertig«, sagte Jürgens. »Wenn ich mich recht entsinne, dann nehmen Sie zwei Löffel Zucker.« »Ja, richtig«, sagte sie, »zwei Löffel.«
»Möchten Sie auch eine Tasse?« wandte sich Jürgens an Lansing.
»Gern«, sagte Lansing.
Lansing und Mary setzten sich nebeneinander ans Feuer; Jürgens hockte ihnen gegenüber. Die Zweige, die Jürgens frisch aufgeschichtet hatte, fingen langsam Feuer. Dann loderten die Flammen hell auf. Schweigend tranken sie ihren Tee.
»Ich bin keine von diesen labilen, kapriziösen Frauen«, begann Mary schließlich. »Das ist Ihnen doch klar?«
Lansing nickte. »Ja, natürlich weiß ich das. Sie sind zäh, zäh wie Leder.«
»Ich wachte auf«, sagte Mary. »Es war ein angenehmes, sanftes Erwachen, nicht, wie wenn man plötzlich aus dem Schlaf gerissen wird. Ich lag auf dem Rücken, so daß ich, als ich aufwachte, direkt in den Himmel sah.«
Sie trank einen Schluck Tee und wartete, als müsse sie sich gegen den Fortgang der Erzählung wappnen.
Sie stellte die Tasse auf dem Boden ab und wandte sich Lansing zu.
»Es waren drei«, sagte sie. »Ich glaube es jedenfalls. Es könnten auch vier gewesen sein. Drei Gesichter, andere Körperteile waren nicht zu sehen. Nur Gesichter. Große Gesichter. Größer als menschliche Gesichter, obwohl sie mit Sicherheit menschlich waren. Sie sahen menschlich aus. Drei große Gesichter, so groß, daß sie den halben Himmel ausfüllten, sahen auf mich herab. Und ich dachte, wie blöd von dir, daß du dir einbildest, Gesichter zu sehen. Ich zwinkerte ein paarmal, weil ich zu halluzinieren glaubte. Aber sie verschwanden nicht, im Gegenteil, als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich sie nur noch besser sehen.«
»Ruhig«, mahnte Lansing. »Lassen Sie sich Zeit!«
»Ich bin ruhig, verdammt noch mal. Sie denken, ich spinne, stimmt's?«
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte er. »Wenn Sie sagen, Sie haben sie gesehen, dann haben Sie sie auch gesehen. Zäh wie Leder, erinnern Sie sich?«
Jürgens beugte sich vor und goß ihnen Tee nach. »Danke, Jürgens«, sagte sie. »Sie machen einen guten Tee.« Dann fuhr sie fort: »An den Gesichtern war nichts Ungewöhnliches oder Grauenerregendes. Sie waren ganz normal, wenn ich es mir recht überlege. Eines hatte einen Bart. Das war ein junges Gesicht, die anderen beiden waren alt. Wie gesagt, an den Gesichtern war nichts außergewöhnlich - zunächst jedenfalls nicht. Doch dann spürte ich es plötzlich - es war die Art, wie sie mich anschauten, so gespannt und interessiert. So wie einer von uns gucken würde, wenn ihm ein scheußliches Insekt über den Weg liefe, wenn er auf eine widerliche neue Lebensform treffen würde. Nein, noch nicht einmal das - sie blickten auf mich herab, als sei ich ein Ding, ein Gegenstand. Am Anfang glaubte ich in ihrem Blick Anteilnahme lesen zu können, doch dann erkannte ich, daß es keine war. Es war eine Mischung aus Abscheu und Mitleid, und das Mitleid verletzte mich am meisten. Ich konnte förmlich ihre Gedanken lesen. Mein Gott, dachten sie, seht euch das an! Und dann - und dann.«
Lansing schwieg. Er spürte, daß jetzt nicht der richtige Augenblick war, etwas zu sagen.
»Und dann wandten sie sich ab. Sie gingen nicht fort, sie wandten nur die Köpfe ab, als sei ich es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden, als stünde ich unterhalb von Verachtung und Mitleid. Als sei ich ein Nichts, als sei - wenn man es verallgemeinert - die ganze menschliche Rasse ein Nichts. Sie verurteilten uns zur Nichtigkeit, obwohl verurteilen ein zu starkes Wort ist. Wir wären ihrer Verurteilung gar nicht würdig - eine niedere Lebensform, über die man nicht weiter nachdenkt.«
Lansing stieß den Atem aus. »Mein Gott!« sagte er. »Kein Wunder.«
»Genau, kein bißchen wunderbar. Ach Edward, das hat mich alles sehr mitgenommen. Vielleicht hat mein Verhalten.«
»Lassen wir das Verhalten beiseite. Meines wäre genauso richtig oder falsch gewesen.«
»Können Sie sich vorstellen, was sie sind? Nicht wer, sondern was?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte noch nicht einmal Vermutungen darüber anstellen.«
»Aber es war keine Vision.«
»Sie haben keine Visionen«, erwiderte er. »Sie sind eine klar denkende Ingenieurin, eine Realistin. Alles muß Hand und Fuß haben. Zwei und zwei sind vier, nicht fünf oder drei.« »Danke«, sagte sie.
»Später einmal werden wir uns stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, was diese Gesichter gewesen sein können. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Sie haben noch nicht genügend Abstand zu der Sache.«