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Der Pastor erhob sich. »Ich werde einen kleinen Spaziergang machen«, verkündete er. »An der frischen Luft werde ich eher einen klaren Kopf bekommen. Hat jemand Lust, mich zu begleiten?«
»Ich komme mit«, sagte Lansing.
Der Platz draußen lag bereits in tiefem Schatten. Die Sonne war inzwischen untergegangen, bald würde die Nacht anbrechen. Die kantigen, geborstenen Umrißlinien der Hausfassaden hoben sich schwarz vom Dämmerlicht ab. Während Lansing neben dem Pfarrer schritt, spürte er zum erstenmal die uralte Ausstrahlung der Stadt.
Der Pfarrer mußte die gleiche Empfindung gehabt haben, denn er sagte: »Diese Stätte ist so alt wie die Zeit selbst. Sie hat etwas Niederdrückendes. Es ist fast, als würde man das Gewicht der Jahrhunderte auf den Schultern spüren. Die Steine selbst sind unter dem Druck der Zeit verwittert. Die Stadt wird wieder eins mit dem Boden, auf dem sie einst errichtet wurde. Wie ist es mit Ihnen, Mr. Lansing? Fühlen Sie es auch?« »Ja, Herr Pfarrer, mir geht es wie Ihnen.«
»Dies ist ein Ort, an dem die Geschichte zum Stillstand gekommen ist«, erklärte der Pastor. »Hier hat sie sich erfüllt, dann ist sie erloschen. Die Reste der Stadt sollen uns daran gemahnen, daß alle fleischlichen Wesen vergänglich sind und die Geschichte selbst nur ein Schemen, ein Trugbild ist. An solchen Orten sind die Menschen gehalten, über ihr Scheitern nachzusinnen. Diese Welt ist gescheitert. Sie hat gefehlt, öfter und schwerer gefehlt als andere Welten.«
»Vielleicht haben Sie recht«, bemerkte Lansing, der nicht wußte, was er sonst hätte sagen sollen.
Der Pastor verstummte nun und setzte seinen Weg fort. Die Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet und den Kopf erhoben. Hin und wieder ließ er seine Blicke über die Umgebung des Platzes schweifen.
Schließlich ergriff er wieder das Wort: »Wir müssen auf den General sorgfältig achtgeben. Der Mann ist ein Wahnsinniger. Aber sein Wahnsinn versteckt sich so geschickt hinter seiner vernünftigen Redeweise, daß man einen scharfen Blick braucht, um den Irrsinn zu entdecken. Der Mann ist voreingenommen und starrsinnig. Man kann mit ihm nicht argumentieren. Dabei ist er in mehr Irrtümern befangen als irgendein Mensch, dem ich je begegnet bin. Das liegt an seinem militärischen Denken. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß alle Militärs besonders engstirnig sind?«
»Ich bin bisher kaum je einem General begegnet«, erwiderte Lansing.
»Nun, ich kann Ihnen versichern, sie sind engstirnig. Für alle Probleme kennen sie nur eine Lösung. Ihr Gehirn ist nichts weiter als eine Dienstvorschrift, und nach diesen Vorschriften leben sie. Sie tragen Scheuklappen und sehen nicht, was links oder rechts von ihnen liegt, sondern nur das, was sich vor ihrer Nase befindet. Wir beide müssen auf den General die größte Acht geben; wenn wir nicht scharf aufpassen, wird er uns in große Schwierigkeiten bringen. Das liegt in seiner Natur. Immer muß er den Anführer spielen. Das ist geradezu eine Neurose bei ihm. Sicher haben Sie das auch schon bemerkt?« »Ja, das habe ich. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie ich mit dem General über diese Neigung gesprochen habe?« »Ich habe ihn deswegen auch schon zur Rede gestellt«, berichtete der Pastor. »Der General erinnert mich in vieler Hinsicht an einen Nachbarn, den ich einmal hatte. Dieser Mann wohnte in einem Haus, das dem meinen direkt gegenüberstand. Ein Stück weiter die Straße hinunter lebte ein Höllendämon. Es war ein hübsches Stadtviertel, und niemand hätte dort einen erwartet, aber es gab ihn. Ich fürchte, nur wenige Menschen haben ihn erkannt. Nun, ich hatte ihn sofort durchschaut, und ich denke, auch jener Nachbar, von dem ich eben sprach, wußte Bescheid. Wir haben allerdings niemals über dieses Thema gesprochen. Worauf ich eigentlich hinauswill, ist folgendes: Dieser Nachbar, der den Dämon tatsächlich durchschaut hatte -ich bin sicher, er hatte ihn erkannt -, lebte mit ihm in gutnachbarlichem Verhältnis. Er grüßte den Dämon, und wenn sie sich auf der Straße begegneten, blieb er sogar stehen, um mit ihm zu plaudern. Ich weiß genau, daß sie keine düsteren Verschwörungen miteinander geplant haben. Nein, sie schwatzten nur, um die Zeit totzuschlagen. Was sagen Sie dazu? Mein Nachbar war freundlich zu diesem Dämon, obwohl er ihn durchschaut hatte. Wenn ich versucht hätte, meinen Nachbarn davon abzubringen, wenn ich ihm gesagt hätte, daß er sich nicht mit einem Diener der Hölle einlassen sollte, wissen Sie, was er mir geantwortet hätte? Er hätte zu mir gesagt, er sei ein toleranter Mensch und habe nichts gegen Juden, Schwarze oder Papisten. Und weil er gegen solche Menschen keine Vorurteile habe, würde er auch dem Teufel nicht mit Vorurteilen begegnen, auch wenn dieser Teufel mit ihm in einer Straße wohne. Das hätte er zu mir gesagt.
Für mich steht eines fest: Im Universum muß es eine Moral geben. Es gibt Dinge, die richtig, und andere, die falsch sind, und es ist an uns, die Entscheidung für einen Weg zu treffen. Wenn wir moralische Menschen sein wollen, wird uns die Entscheidung nicht schwerfallen. Das soll nicht heißen, daß wir unsere Wahl engstirnig treffen. Religiösen Menschen wird ja oft nachgesagt, sie seien engstirnig. Andererseits wird oft behauptet, man könne ein tugendhaftes Leben führen, ohne einer Religion anzugehören. Dieser Meinung bin ich nicht, denn ich weiß, daß der Mensch das Bollwerk eines festen Glaubens braucht, wenn er für das eintreten will, was er für das Rechte hält.«
Der Pastor verstummte. Er drehte sich um und sah Lansing direkt ins Gesicht. »Das ist meine Überzeugung«, fuhr er fort. »Doch jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht gerade aus reiner Gewohnheit so gesprochen habe. Zu Hause auf meinem Stück Land oder vor meinem weißen Haus an einer schlichten, ruhigen Straße - einer ruhigen Straße, auch wenn ein Dämon in ihr wohnt -, da hatte ich noch meine Gewißheit. Ich war so selbstbewußt und selbstgerecht wie jeder andere Mensch. In unserer kleinen Kirche, schlicht und weiß ganz wie mein Haus, konnte ich vor die Gemeinde treten und ihr sagen, was richtig und was falsch ist, in kleinen wie in großen Dingen. Jetzt weiß ich nichts mehr. Mir ist, als hätte man mir alle Selbstsicherheit geraubt. Alles fließt mir aus den Händen.«
Wieder verstummte er und schaute Lansing aus großen Augen an. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Warum gerade Ihnen? Können Sie mir das erklären?«
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte Lansing. »Aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, ich bin gern bereit, Ihnen zuzuhören.
Reden Sie nur weiter, wenn Sie glauben, daß es Ihnen hilft.«
»Spüren Sie sie nicht auch, diese unerträgliche Verlassenheit?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Lansing.
»Diese Leere!« rief der Pastor. »Das Nichts. Oh, dieser verfluchte Ort. Er kommt der Hölle gleich! Das habe ich schon immer meiner Gemeinde gepredigt: Die Hölle ist kein Ort der Marter und des Elends. Nein, sie ist die Leere, das Verlorensein, das Ende des Glaubens und der Liebe, der Selbstachtung des Menschen.«
Lansing schrie ihn an: »Mann, so reißen Sie sich doch zusammen! Sie dürfen sich von dieser Stadt nicht unterkriegen lassen. Denken Sie etwa, wir anderen würden nicht.« Der Pastor streckte beide Arme in den Himmel und rief mit überkippender Stimme: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum, o Herr?«
Aus den Hügeln hinter der Stadt antwortete ihm eine Stimme, auch sie war schrill, klagend und angstverzerrt. Eine Einsamkeit lag in diesem Schrei, die den Männern das Blut in den Adern gerinnen ließ, die mit eisigen Fingern nach ihren Herzen griff. Die Klageschreie erfüllten die Straßen der Stadt mit ihrem Schluchzen. Sie hallten wider von der Wölbung des mitleidlosen Himmels. Nur ein Wesen ohne Seele konnte eine solche Stimme haben.
Der Pastor wimmerte leise. Er hielt beide Hände gegen die Ohren gepreßt und rannte auf das Lager zu. Sein Tempo steigerte sich mit jedem Schritt. Mehrere Male stolperte er, und es sah so aus, als würde er stürzen, aber immer wieder fing er sich im letzten Augenblick.
Ohne Hoffnung, ihn einzuholen, lief Lansing ihm nach. Irgendwo in seinem tiefsten Inneren war er erleichtert darüber, daß er den Pastor nicht erreichen konnte. Wenn er ihn zu fassen bekäme, was sollte er mit ihm tun?
Währenddessen dröhnte das schreckliche Geheul ohne Unterlaß vom Himmel herab. Dort draußen in den Hügeln verbarg sich eine Kreatur, die sich das Herz aus dem Leibe klagte. Lansing spürte, wie die Kälte, die in diesem Schmerz lag, seine Brust einschnürte. Er rang nach Atem, aber er spürte keine Erleichterung; die eisige Klaue ließ ihn nicht aus ihrem Griff. Der Pastor hatte die Treppe des großen Gebäudes erreicht und hetzte die Stufen hinauf. Lansing rannte hinter ihm her, bis er den Lichtkreis des Lagerfeuers erreicht hatte. Dort sah er den Pastor auf dem Boden liegen, die Knie an die Brust gezogen, die Beine von den Armen umklammert in der Haltung eines ungeborenen Kindes.
Der General kniete neben ihm. Alle anderen hatten sich erschreckt zurückgezogen. Als er Lansings Fußtritte hörte, stand er auf.
»Lansing!« brüllte er mit Donnerstimme. »Was ist dort draußen geschehen? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Haben Sie den Schrei gehört?«
»Ja. Wir haben uns gefragt, was das sein könnte.«
»Der Schrei hat ihn erschreckt. Er hat sich die Ohren zugehalten und ist losgerannt.«
»Durchgedreht?«
»Ich fürchte, ja. Er war schon seit einiger Zeit in schlechter Verfassung. Er hat sich mit mir unterhalten, wirre Sachen gesagt, ohne viel Zusammenhang. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber plötzlich hat er die Arme hochgerissen und gerufen: >Mein Gott, warum hast du mich verlassen?<« Sandra, die den Platz neben dem Pastor eingenommen hatte, erhob sich und schlug die Hände vors Gesicht. »Er ist völlig steif«, stammelte sie. »Alle seine Muskeln sind verkrampft. Was können wir nur für ihn tun?«
»Wir sollten ihn in Ruhe lassen«, riet der General. »Er wird nach und nach wieder zu sich kommen. Wenn nicht, nun, dann können wir auch nichts machen.«
»Ein kräftiger Drink wird ihm auf keinen Fall schaden«, meinte Lansing.
»Wie wollten wir ihm den einflößen? Wir müßten ihm ja die Kiefer brechen, damit wir seine Lippen auseinanderbekommen. Vielleicht können wir es später probieren.«
»Oh, wie schrecklich, daß ihm das zustoßen mußte«, klagte Sandra.
»Er hat sich selbst hineingesteigert«, entgegnete der General. »Es hat begonnen, als wir aufgebrochen sind.« »Denken Sie, er wird sich wieder erholen?« fragte Mary. »Auf dem Schlachtfeld habe ich schon Menschen in diesem Zustand gesehen«, erwiderte der General. »Manchmal kommen sie wieder zu sich, manchmal auch nicht.«
»Wir müssen ihn warm halten«, drängte Mary. »Hat jemand eine Decke zur Hand?«
»Ich habe zwei«, antwortete Jürgens. »Ich habe sie für den Notfall mitgenommen.«
Der General nahm Lansing zur Seite. »Dieser Schrei aus den Hügeln, klang er wirklich so schrecklich? Wir haben ihn auch gehört, aber nur sehr gedämpft.«
»Es war ein unangenehmer Ton«, erwiderte Lansing.
»Aber Sie haben ihn ertragen.«
»Nun ja, aber ich stand nicht unter emotionaler Belastung wie der Pastor. Es geht ihm schon seit langem sehr schlecht. Er hatte mir gerade gesagt, daß Gott ihn verlassen habe, da ging das Geheule los.«
»Ein Angsthase«, sagte der General angewidert, »ein lupenreiner Angsthase.«
»Der Mann konnte nichts dafür. Er hat die Kontrolle über sich verloren.«
»Ein religiöses Großmaul«, fuhr der General unbeirrt fort, »das zu guter Letzt auf die richtige Größe zurechtgestutzt worden ist.«
»Das klingt so, als ob Sie sich freuen würden«, sagte Mary zornig.
»Mich freut der Vorfall keineswegs«, erwiderte der General. »Im Gegenteil, ich finde seinen Zustand abstoßend. Jetzt haben wir zwei Krüppel am Hals, die wir mit uns rumschleppen müssen.« »Warum stellen Sie sie nicht einfach an die Wand und erschießen sie?« fragte Lansing. »Oh, Pardon, ich vergaß, Sie haben ja keine Waffe.«
»Bei einem Abenteuer wie dem unseren«, sagte der General, »ist Zähigkeit das Schlüsselwort. Aber das wollen Sie ja offenbar nicht begreifen. Ohne Zähigkeit können Sie es nicht durchstehen.«
»Ihre Zähigkeit reicht für uns alle aus«, warf Sandra ein. »Sie mögen mich nicht«, sagte der General. »Und das ist auch in Ordnung so. Ein Offizier, der derart hart durchgreift, ist niemals beliebt.«
»Die Sache ist nur«, fuhr ihn Mary an, »Sie sind nicht unser Oberbefehlshaber. Jeder von uns würde auch ohne Sie prima zurechtkommen.«