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»Ich stehe nicht auf Ihrer Seite«, entgegnete Lansing. »Aber ich werde mein möglichstes tun, um mit Ihnen auszukommen.« »Hören Sie nur«, sagte Sandra. »Seien Sie einmal alle einen Augenblick still. Ich glaube, das Schreien hat aufgehört.« Sie lauschten. Und wirklich, es hatte aufgehört.
17
Als Lansing am nächsten Morgen aufwachte, schliefen die anderen noch. Der Körper des Pastors, der sich unter den Wolldecken abzeichnete, wirkte etwas weniger verkrampft als am Abend zuvor. Zwar hatte der Geistliche die embryonale Stellung beibehalten, seine Glieder und Muskeln waren aber inzwischen nicht mehr ganz so steif.
Jürgens hockte am Feuer und beobachtete den Kessel mit dem kochenden Haferbrei. Den Kaffee hatte er zum Warmhalten in die schwache Glut am Rand gestellt.
Lansing kroch aus seinem Schlafsack und setzte sich neben ihn. »Wie geht es unserem Mann?« fragte er.
»Er hat eine verhältnismäßig gute Nacht hinter sich«, sagte Jürgens. »Während der letzten Stunden war er ruhig. Davor hatte er ein paar Anfälle von Schüttelfrost, aber ich sah keinen Sinn darin, einen von Ihnen zu wecken; Sie hätten ihm doch nicht helfen können. Ich habe ihn die ganze Nacht über im Auge behalten und darauf geachtet, daß er zugedeckt blieb. Schließlich hörte der Schüttelfrost auf, und er schlief ein. Wissen Sie was, Lansing, wir hätten Medizin mitnehmen sollen. Warum hat nur keiner von uns daran gedacht?«
»Wir haben Verbandszeug, Schmerztabletten und Desinfektionsmittel dabei«, sagte Lansing. »Ich glaube, etwas anderes war auch nicht aufzutreiben. Und außerdem, was würden uns Medikamente nützen? Keiner von uns hat eine blasse Ahnung von Medizin, da sollte man lieber die Finger von so etwas lassen.«
»Ich hatte gestern den Eindruck, daß der General ungewöhnlich grob mit dem Pastor umgesprungen ist«, sagte Jürgens. »Der General war aufgeregt«, antwortete Lansing. »Er hat selbst genug Probleme.«
»Und was für Probleme sollen das sein?«
»Er glaubt, er sei für uns verantwortlich. Er muß so denken, es liegt in seiner Natur. Alles, was wir tun, jeder Schritt, den wir gehen, bereitet ihm Sorgen. Er verhält sich wie eine Glucke, aber die Rolle fällt ihm nicht leicht.«
»Wir können ganz gut selbst auf uns aufpassen.«
»Das weiß ich, aber er weiß es nicht. Vermutlich gibt er sich die Schuld an dem Vorfall mit dem Pfarrer.«
»Er mag den Pastor ja nicht einmal.«
»Ich weiß, keiner mag ihn. Es ist schwer, mit ihm zurechtzukommen.«
»Warum sind Sie dann mit ihm spazierengegangen?«
»Schwer zu sagen. Vielleicht hatte ich Mitleid mit ihm. Er wirkt so einsam; kein Mensch sollte so verlassen sein.« »Sie sind derjenige«, sagte Jürgens, »der sich um uns alle sorgt. Sie zeigen es nur nicht. Sie haben mit keinem über mich gesprochen, Sie haben nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, weitergegeben. Wer ich bin, wo ich herkomme.« »Als Mary Sie nach Ihren persönlichen Verhältnissen fragte, baten Sie darum, die Antwort schuldig bleiben zu dürfen. Da habe ich mir gedacht, daß auch niemand sonst es erfahren soll.« »Aber Ihnen habe ich es erzählt. Verstehen Sie, was ich meine? Mit Ihnen habe ich geredet, weil ich Ihnen vertraue. Ich weiß selbst nicht, warum, aber ich wollte, daß Sie alles über mich erfahren.«
»Das liegt wohl an meinem Beichtvater-Image.« »Nein, es ist viel mehr als das.«
Lansing erhob sich und ging zum Eingang. Auf der Treppe hielt er an und ließ seine Blicke über den Platz schweifen. Eine friedliche Szenerie breitete sich vor ihm aus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber im Osten wurde es bereits hell. Das blasse Morgenlicht verlieh den Häusern eine rosa Färbung, freundlicher als das erdige Rot, das sie bei Tage zeigten. Die nächtliche Kälte hing noch in der Luft, und irgendwo in den Ruinen zwitscherte ein einsamer Vogel.
Lansing drehte sich um, als er hinter sich Schritte hörte. Der General kam die Treppe herab.
»Dem Pastor scheint es etwas besser zu gehen«, sagte er »Jürgens berichtete mir, daß er in der Nacht Schüttelfrost gehabt hat. Die letzten Stunden soll er aber ruhig durchgeschlafen haben.«
»Der Pastor stellt ein Problem dar«, sagte der General.
»So?«
»Wir müssen uns an die Arbeit machen. Wir müssen die Stadt durchkämmen. Ich bin überzeugt, hier verbirgt sich irgend etwas, das wir finden müssen.« »Wir sollten uns ein paar Minuten Zeit nehmen und die Dinge gründlich überdenken«, schlug Lansing vor. »Das haben wir bisher noch kein einziges Mal ernstlich versucht. Sie sind also davon überzeugt, daß hier irgendwo der Schlüssel verborgen ist, der uns aus unserer Lage befreit, der uns die Möglichkeit gibt, in unsere Welten zurückzukehren?«
»Nein«, erwiderte der General, »das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, daß wir jemals wieder dorthin zurückehren können. Der Weg nach Hause ist uns versperrt. Aber es muß einen Weg zu irgendeinem anderen Ort geben.«
»Mit anderen Worten, Sie sind der Ansicht, uns hat eine fremde Macht hierhergeschafft, damit wir ein Rätsel lösen? Wir sollen zu einem Ort gehen, an dem diese Macht uns haben will, aber wir sollen den Weg dorthin allein finden? Wie Ratten, die durch ein Labyrinth irren?«
Der General sah Lansing tief in die Augen. »Sie spielen den Advocatus Diaboli«, sagte er. »Aber warum tun Sie das?« »Weil ich beim besten Willen nicht weiß, warum wir hier sind und was von uns erwartet wird. Falls überhaupt etwas von uns erwartet wird.«
»Dann schlagen Sie vor, daß wir es uns hier gemütlich machen und der Ereignisse harren, die da kommen werden?« »Nein, das würde ich nicht vorschlagen. Ich bin auch der Ansicht, das wir versuchen sollten, hier herauszukommen, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wonach wir suchen müssen.«
»Ich auch nicht«, sagte der General. »Aber suchen müssen wir nichtsdestoweniger. Und aus diesem Grund habe ich eben gesagt, daß der Pastor ein Problem darstellt. Wir alle sollten uns auf die Suche machen, aber man darf den Mann nicht allein lassen. Irgend jemand muß bei ihm bleiben, und das schwächt unsere Kampfkraft. Wir verlieren nicht nur eine, sondern zwei Personen.« »Sie haben recht, wir dürfen den Pastor nicht allein lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß Jürgens bereit ist, bei ihm zu bleiben. Er hat immer noch Schwierigkeiten mit dem Gehen.« »Nein, Jürgens nicht. Den brauchen wir. Er ist ein heller Kopf. Er redet zwar nicht viel, dafür denkt er um so mehr. Und er hat einen scharfen Blick; er bemerkt Sachen, die anderen nicht auffallen.«
»Also gut, nehmen Sie ihn mit. Ich werde hierbleiben.« »Sie auch nicht, Sie werden ebenfalls gebraucht. Denken Sie nicht, Sandra würde sich bereit erklären, auf den Pfarrer aufzupassen? Vor Ort nützt sie uns nicht viel. Sie ist eine wirr-köpfige Person.« »Fragen Sie sie«, sagte Lansing.
Sandra hatte nichts dagegen, bei dem Pastor zu bleiben, und nach dem Frühstück machten sich die anderen auf den Weg. Der General hatte die Expedition gut vorbereitet. »Lansing, Sie und Mary übernehmen die Straße dort drüben und gehen bis zum Ende durch. Wenn Sie damit fertig sind, wechseln Sie zur nächsten Straße und kommen auf ihr hierher zurück. Jürgens und ich übernehmen diese Straße und machen es genauso.«
»Wonach sollen wir Ausschau halten?« fragte Mary. »Nach allem, was ungewöhnlich ist. Prüfen Sie alles, was Ihnen auffällt. Auch wenn es nur eine Bodenwelle ist. Es zahlt sich manchmal aus, Bodenwellen nachzuspüren. Ich wünschte, wir hätten genug Zeit und Leute, um die Stadt systematisch zu durchsuchen, aber leider ist das nicht möglich. Wir müssen uns schon auf unser Glück verlassen.«
»Das hört sich alles ein wenig zufällig an«, bemerkte Mary. »Von Ihnen hätte ich einen Plan erwartet, der mehr Logik enthält.«
Mary und Lansing gingen die Straße hinab, die ihnen zugeteilt worden war. An vielen Stellen war der Weg von herabgestürztem Mauerwerk teilweise blockiert. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Die Häuser waren schäbig und verfallen, und man konnte sie kaum voneinander unterscheiden. Sie wirkten wie Wohnhäuser, aber sichere Anzeichen gab es dafür nicht. Ein paar Gebäude durchsuchten sie. Es war nichts Ungewöhnliches an den Häusern, sie taten es nur aus Pflichtbewußtsein, konnten aber nichts entdecken. Die Räume waren kahl und deprimierend; die alles bedeckende Staubschicht wies keine Spuren auf, die auf ein früheres Eindringen hingedeutet hätten. Lansing versuchte, sich die Zimmer in bewohntem Zustand vorzustellen, belebt von fröhlichen Menschen, die schwatzten und lachten, merkte aber bald, daß es ihm unmöglich war, solche Bilder heraufzubeschwören, und stellte den Versuch ein. Die Stadt war tot, die Häuser waren tot, die Zimmer waren tot. Sie waren schon zu lange tot, um noch Geister zu beherbergen. Sie hatten jegliche Erinnerung verloren, nichts war zurückgeblieben.
»Diese Suche nach einer unbekannten Größe kommt mir ziemlich sinnlos vor«, seufzte Mary. »Selbst wenn das, was wir suchen, hier in der Stadt ist - und dafür gibt es bisher keinen Anhaltspunkt -, kann es Jahre dauern, bis wir es finden. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, der General ist verrückt.« »Er selbst ist wahrscheinlich nicht verrückt«, sagte Lansing, »er verfolgt nur ein verrücktes Ziel. Schon bei dem Würfel war er sicher, die Antwort auf unsere Fragen in der Stadt zu finden. Natürlich hatte er sich die Stadt damals anders vorgestellt. Er glaubte, wir würden hier Menschen antreffen.« »Da aber nun einmal keine hier sind, wäre es da nicht vernünftiger, wenn er seine Meinung änderte?« »Für Sie und mich wäre das angemessen: Wir können Fehler zugeben und uns auf eine veränderte Situation einstellen. Der General ist da anders; wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann führt er es auch aus. Wenn er sagt, eine Sache sei so und so, dann ist sie auch so. Er wäre niemals bereit, seine Meinung zu ändern.«
»Und was, meinen Sie, können wir dagegen unternehmen?« »Gar nichts, wir müssen uns damit abfinden. Wir machen so weiter wie bisher. Vielleicht läßt er sich ja doch eines Tages überzeugen.«
»Ich fürchte, da müssen wir lange warten.«
»Dann müssen wir uns also entscheiden, was wir tun sollen«, sagte Lansing. »Mein Vorschlag wäre, ihm ein paar auf seinen Dickkopf zu geben.« Er grinste sie an, sie lächelte zurück.
»Das ist vielleicht eine Spur zu boshaft«, sagte sie, »aber ansonsten gefällt mir der Gedanke nicht schlecht.« Während der Unterhaltung hatten sie auf einer Steinplatte gesessen. Als sie sich erhoben, um weiterzusuchen, sagte Mary unvermittelt: »Hören Sie! Schreit da nicht jemand?« Einen Moment lang standen sie starr nebeneinander und lauschten, dann wiederholte sich das Geräusch, fern und schwach. Es war der Klang einer weiblichen Stimme.
»Sandra!« schrie Mary und stürmte im gleichen Augenblick die Straße hinab auf den Platz zu. Sie rannte leichtfüßig wie eine Gazelle, Lansing hatte Mühe ihr zu folgen. Die Straße war eng und kurvenreich, und die überall verstreuten Steinbrocken erschwerten ein rasches Vorwärtskommen.
Ein paarmal noch hörte Lansing die Schreie. Schließlich erreichte er den Platz, Mary hatte ihn schon halb überquert. Auf der Treppe stand Sandra und schwenkte verzweifelt die Arme. Sie schrie immer noch. Lansing versuchte, sein Tempo zu steigern, aber die Beine gehorchten ihm nicht.
Mary flog die Treppe hinauf und nahm Sandra in die Arme. Eng umschlungen standen die beiden Frauen da. Am Rande seines Blickfeldes sah Lansing den General auf den Platz einbiegen. Verbissen rannte er weiter, erreichte den Fuß der Treppe und hastete sie hinauf. »Was ist los?« keuchte er.
»Es geht um den Pastor«, sagte Mary. »Er ist verschwunden.« »Verschwunden? Sandra sollte doch auf ihn aufpassen.« »Ich mußte zur Toilette«, schrie Sandra hysterisch. »Ich mußte ein stilles Plätzchen finden! Es hat nur eine Minute gedauert.« »Haben Sie schon überall nachgesehen?« fragte Mary. »Natürlich habe ich ihn gesucht«, kreischte Sandra. »Überall!« Schwer atmend stapfte der General die Treppe empor. Weit hinter ihm hüpfte Jürgens über den Platz. In dem Versuch, rascher voranzukommen, schlug er wie wild mit der Krücke auf den Boden. »Was ist das für ein Aufruhr?« wollte der General wissen.
»Der Pastor ist verschwunden«, antwortete Lansing.
»Er ist also weggelaufen«, stellte der General fest. »Das Häschen ist da vongehoppelt.«
»Ich habe schon überall nach ihm gesucht«, jammerte Sandra. »Ich weiß, wo er ist«, sagte Mary. »Ich bin mir ziemlich sicher.« »Ich auch«, sagte Lansing und lief auf den Eingang zu. »Neben meinem Schlafsack liegt eine Taschenlampe. Ich bewahre sie dort immer auf«, rief Mary, während sie hinter ihm herrannte.
Lansing sah die Lampe und hob sie im Laufen auf. Er eilte zur Kellertreppe. Während er die Stufen hinabhastete, murmelte er: »Dieser Narr. Was ist er nur für ein schrecklicher Dummkopf!« Er erreichte den Keller und stürzte auf den Hauptkorridor zu. Der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe erleuchtete den Weg vor ihm.
Vielleicht komme ich ja noch rechtzeitig, dachte er, ich könnte es noch schaffen. Aber er wußte genau, daß es ihm nicht gelingen würde.
Er schaffte es nicht rechtzeitig.
Der große Raum am Ende des Ganges war leer. Die Gucklöcher leuchteten schwach in der Dunkelheit.
Als er die erste Tür erreicht hatte, die Tür zur »Apfelblütenwelt«, strahlte er sie mit der Taschenlampe an. Die Riegel, mit denen die Tür gesichert war, hingen lose an einer Seite herab.