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Die vier standen dicht zusammengedrängt auf dem Laufsteg und starrten auf die Stelle, wo der General verschwunden war. Die Katzenaugen schimmerten, und die Maschine sang leise vor sich hin.
»Vielleicht sollten wir noch ein wenig warten, bevor wir die Stadt verlassen«, schlug Mary vor.
»Der Ansicht bin ich auch«, stimmte Jürgens zu.
»Wenn er tatsächlich zurückkommt, wird er uns brauchen«, meinte Sandra.
»Edward«, wandte sich Mary an Lansing, »was meinst du dazu?«
»Wir sollten warten«, antwortete er. »In einer solchen Situation dürfen wir den Mann nicht im Stich lassen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß er zurückkommen wird, aber für alle Fälle sollten wir noch eine Weile hierbleiben.«
Sie verlegten ihr Lager in die Gasse nahe beim Treppenaufgang. Sie warteten drei Tage. Jede Nacht stieg das unbekannte Wesen auf die Hügel bei der Stadt, um seine einsame, bittere Klage anzustimmen.
Am Morgen des vierten Tages brachen sie auf. Nachdem sie die Karte studiert hatten, verließen sie die Stadt und stießen bald auf die westliche Verlängerung des Weges, der sie hergeführt hatte.
21
Am frühen Nachmittag erreichten sie einen Gipfel der Bergkette, die die Stadt umschloß, und betraten eine Welt bizarrer Erosionserscheinungen. Der Pfad schlängelte sich zwischen Zinnen, Burgen, Schlössern und Türmen in die Tiefe. Die phantastischen Gebilde schimmerten in einer unendlichen Fülle von Farbnuancen. Die unterschiedlich getönten Gesteinsschichten verliehen der Landschaft eine alptraumhafte Schönheit.
Sie gingen langsam; es gab keinen Grund, sich zu beeilen. Der Pfad war inzwischen so schlecht geworden, daß er den Namen Weg nicht länger verdiente. Hin und wieder betraten sie kleine Ebenen von Schwemmland, aber schon bald führte sie ihr Weg wieder in den farbigen Rausch des von Zeit und Wetter gezeichneten Geländes.
Lange bevor die Nacht hereinbrach, wählten sie ihren Lagerplatz am Fuß einer hoch aufragenden Kalksteinwand. Sie fanden Holz; es lag in ungeordneten Haufen wie Treibgut zwischen den Felszinnen. Die rasenden Fluten, die vor Urzeiten das Gestein abgeschliffen hatten, hatten ihre Beute an entwurzelten Bäumen dort niedergelegt. Sie fanden Holz, aber kein Wasser. Der Tag war jedoch nicht ungewöhnlich heiß gewesen, und ihre Feldflaschen waren noch fast voll. Die Vegetation war spärlich. Harte Gräser und kümmerliche Nadelhölzer, die dicht über dem Boden wuchsen, waren die einzigen Pflanzen. Ansonsten war der Fels nackt. Nach dem Abendbrot saßen sie still beisammen und beobachteten, wie die Farbenpracht allmählich verblaßte. Die Nacht brach herein, die Sterne funkelten hell und klar. Lansing suchte den Himmel ab und entdeckte vertraute Sternbilder. Kein Zweifel, dachte er, diese Welt ist die Erde. Nicht die alte heimatliche Erde, aber auch kein fremder Planet in einem fernen Sonnensystem. Es war eine von jenen Alternativwelten, die Andy in ihrem Gespräch erwähnt hatte, ohne jedoch jemals an die Möglichkeit ihrer Existenz zu glauben.
Der Zeitfaktor verwirrte Lansing. Die Sternbilder waren so wenig verändert, daß die Zeitdifferenz zwischen seiner Erde und dieser hier nicht mehr als ein paar Jahrtausende betragen konnte. Dennoch hatte sich hier eine Hochkultur entwickelt, die alle Zivilisationen seiner Erde übertraf, hatte ihre Blüte erreicht und war untergegangen. War es möglich, fragte er sich, daß die menschliche Rasse hier ein paar Millionen Jahre früher entstanden war? Konnte der Scheidepunkt zwischen den beiden Welten das Aussterben der Menschheit auf dieser Erde sein, die Notwendigkeit für einen Neubeginn? Der Gedanke ließ ihn nicht los. Wenn die menschliche Rasse vom Antlitz einer Erde verschwindet, wäre es dann möglich, daß dieser Erde eine zweite Chance gegeben wird? Aber eine solche zweite Chance konnte es nicht geben, das sagte ihm sein Verstand. »Edward« rief Mary, »warum bist du so schweigsam? Was ist los mit dir?«
»Ich habe nur nachgedacht. Es war nichts Wichtiges.« »Ich habe das ungute Gefühl, daß wir die Stadt zu früh verlassen haben«, nörgelte Sandra. »Wir haben dem General kaum Gelegenheit zur Rückkehr gegeben.«
»Warum haben Sie das nicht eher gesagt?« fragte Mary. »Ich war ja genauso begierig wie Sie, dort wegzukommen. Ich hätte die Vorstellung nicht ertragen, noch einen weiteren Tag in der Stadt verbringen zu müssen.«
»Ich glaube, daß es Zeitverschwendung war, auf ihn zu warten«, warf Jürgens ein. »Er ist gegangen, und zwar für immer.«
»Wie wird es jetzt mit uns weitergehen?« seufzte Sandra. »Jetzt, wo der Pastor und der General verschwunden sind?« fragte Jürgens.
»Es geht nicht nur darum, daß die beiden fort sind. Es geht darum, daß wir einmal sechs waren und jetzt nur noch vier sind. Wann wird sich unsere Anzahl auf drei oder zwei verringert haben?«
»Hier draußen haben wir eine größere Chance durchzukommen«, sagte Mary. »Die Stadt war mörderisch. Wir haben unsere Leute dort verloren.«
»Wir werden uns schon durchschlagen«, sagte Jürgens. »Wir halten die Augen offen und gehen kein Risiko ein.«
»Aber wir wissen doch gar nicht, wo wir hingehen«, jammerte Sandra.
»Das wußten wir noch kein einziges Mal, seit wir uns auf dieser Welt befinden«, erwiderte Jürgens. »Vielleicht liegt die Antwort hinter der nächsten Wegbiegung, vielleicht finden wir sie übermorgen oder am Tag darauf.«
In dieser Nacht kehrte der Schnüffler zurück. Er schnüffelte rund um das Lager, ließ sich aber nicht blicken. Sie lauschten aufmerksam dem Geräusch. Seine Anwesenheit hatte etwas Tröstliches, so als sei ein alter Freund heimgekommen oder als habe ein streunender Hund den Weg nach Hause zurückgefunden. Das Schnüffeln hatte für sie nichts Erschreckendes mehr. Der Schnüffler war nicht mit ihnen in die Stadt eingedrungen, vielleicht hatte sie auch ihm Angst gemacht. Doch jetzt, nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, schloß er sich ihnen wieder an.
Am Abend des zweiten Tages, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, entdeckten sie auf einer kleinen Felsplattform oberhalb des Pfades eine Ruine.
»Hier könnten wir gut unser Nachtlager aufschlagen«, sagte Jürgens.
Sie erklommen die Plattform. Dort fanden sie die Trümmer einer niedrigen Sandsteinmauer, die einstmals wohl einen rechteckigen Wall um das eingestürzte Gebäude gebildet hatte. »Sandstein«, stellte Lansing fest. »Wo mag er herstammen?« »Von dort«, sagte Jürgens und wies auf die niedrige Lehmwand, die die Plattform nach hinten begrenzte. »Sehen Sie die Sandsteinschicht in dem Lehm? Und dort sind auch Spuren, sehr alte Bruchspuren.« »Sonderbar«, sagte Lansing.
»Gar nicht so sonderbar«, widersprach ihm Jürgens. »Der Sandstein ist auch schon an anderen Stellen, die wir passiert haben, zutage getreten.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Man muß auch sehr genau hinsehen, um ihn zu bemerken. Er hat die gleiche Farbe wie der Lehm. Beim erstenmal habe ich ihn nur durch Zufall entdeckt, danach habe ich auf Sandsteinschichten geachtet.«
Die Fläche innerhalb der Mauer maß ungefähr einen halben Morgen. Die Ruine in ihrem Zentrum mochte einmal ein Haus mit einem einzigen Raum gewesen sein. Das Dach war eingestürzt wie auch der größte Teil der Wände. Zerbrochene Töpferwaren lagen verstreut auf dem Lehmboden, und in einer Ecke fand Jürgens einen zerbeulten, angelaufenen Metalltopf. »Ein Rastplatz für Reisende«, sagte Sandra. »Eine Karawanserei.«
»Oder eine Festung«, bemerkte Jürgens.
»Wozu sollte man hier eine Festung brauchen?« fragte Lansing. »Hier gibt es nichts, wogegen man sich verteidigen muß.« »Früher mag das anders gewesen sein«, entgegnete der Roboter. Außerhalb der Ruine fanden sie Reste eines alten Lagerfeuers. Asche und rauchgeschwärzte Steine, die ringförmig um die Feuerstelle angeordnet waren, deuteten darauf hin, daß der Platz einmal als Herd benutzt wurde. Neben der Feuerstelle war Treibholz aufgestapelt.
»Die letzte Reisegesellschaft hat mehr gesammelt, als sie brauchte«, sagte Jürgens. »Mit dem Holz werden wir die ganze Nacht auskommen.«
»Wie steht es mit dem Wasser?« fragte Lansing. »Ich glaube, für heute reicht es noch«, sagte Mary. »Aber morgen müssen wir unbedingt welches finden.« Lansing trat an die Mauer und ließ seine Blicke über die grotesk zerklüftete Landschaft gleiten. Badlands, dachte er. Nach diesem Wort hatte er die letzten beiden Tage gesucht, aber er hatte sich nicht darauf besinnen können. In West Dakota gab es ähnliche Landstriche, und die ersten Europäer, die ihren Fuß auf dieses Land gesetzt hatten - er glaubte, es waren Franzosen gewesen, wußte es aber nicht mit Bestimmtheit -, hatten das Gebiet die »Badlands« genannt, schlechtes Land zum Reisen. Hier hatten vor Jahrmillionen gewaltige Fluten das Erdreich abgetragen und das Gestein ausgewaschen. Nur die härtesten Gesteinsschichten hatten den tobenden Wassern widerstehen können und waren als bizarre Türme und Zinnen zurückgeblieben.
Vor Unzeiten mochte der Pfad, dem sie folgten, einmal ein Handelsweg gewesen sein. Wenn Sandra recht hatte und die Ruine einst wirklich eine Karawanserei gewesen war, dann hatten hier früher Karawanen gerastet, die kostbare Fracht mitführten. Güter aus der Stadt oder Güter für die Stadt. Aber wenn die Stadt ihr Ziel gewesen war, wo mochte sich dann ihr Ausgangspunkt befunden haben?
Mary trat neben ihn. »Schon wieder in Gedanken versunken?« »Ich versuche nur, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Wenn wir die Vergangenheit kennten, wenn wir wüßten, welche Bedeutung dieser Platz vor Jahrtausenden einmal hatte, dann wüßten wir auch besser, was uns erwartet. Sandra hat die Vermutung geäußert, daß die Ruine einst ein Rastplatz für Reisende war.«
»Jetzt ist sie ein Rastplatz für uns.«
»Aber wer war vor uns hier? Ich hatte gerade darüber nachgedacht, ob Karawanen unseren Pfad benutzt haben könnten. Ihnen wäre das Land vertraut gewesen, uns aber ist es völlig unbekannt.«
»Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen«, beruhigte ihn Mary.
»Wir dringen immer tiefer ins Unbekannte vor. Wir haben keine Vorstellung von dem, was vor uns liegt. Irgendwann wird uns die Nahrung ausgehen. Was werden wir dann tun?« »Wir haben noch die Lebensmittel vom Pastor und dem General. Es wird noch eine Weile dauern, bevor uns die Nahrung knapp wird. Wasser ist ein viel dringenderes Problem. Morgen müssen wir unbedingt welches finden.« »Irgendwo muß dieser öde Landstrich enden«, sagte er. »Dort werden wir dann Wasser finden. Komm, wir wollen zum Lagerfeuer zurückgehen.«
Der Mond war aufgegangen. Er hatte fast seine volle Größe erreicht und tauchte die Badlands in ein unwirkliches, gespenstisches Licht. Jenseits des Pfades erhob sich ein einzelner mächtiger Fels. Die ihnen zugewandte Seite lag in völliger Dunkelheit, aber seine Kontur war im Licht des aufgehenden Mondes deutlich zu erkennen. Sandra kauerte dicht beim Feuer; sie fröstelte. »Das ist ein Märchenland«, sagte sie, »aber ein böses Märchenland. Ich hätte nie gedacht, daß ein Märchenland auch böse Züge annehmen könnte.«
»Ihre Sicht der Dinge ist eben durch die Welt geprägt, auf der sie gelebt haben«, erwiderte Lansing.
Sandra sah ihn zornig an. »Die Welt, von der ich stamme, war in Ordnung. Es war eine schöne Welt voll schöner Dinge und schöner Menschen.«
»Genau das meine ich«, sagte Lansing. »Sie hatten keine Vergleichsmöglichkeit.«
Die letzten Worte wurden von einem Heulton erstickt, der aus der Luft direkt über ihnen zu kommen schien. Sandra sprang auf und begann zu schreien. Mit einem Satz war Mary bei ihr, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Hören Sie auf!« brüllte sie. »Seien Sie still!« »Es ist uns gefolgt«, kreischte Sandra. »Es verfolgt uns.« »Dort«, sagte Jürgens und wies auf den Fels jenseits des Pfades. Das Heulen hatte aufgehört, einen Moment lang herrschte vollkommene Stille.
»Es sitzt oben auf der Kante«, sagte er ruhig. Und dort saß es, eine monströse Gestalt, die sich wie ein Scherenschnitt vor dem bleichen Antlitz des Mondes abhob. Es war wolfsartig, aber viel größer als ein Wolf. Sein Körper war schwerer und massiger, ließ aber die Züge von Ausdauer und Beweglichkeit erkennen, die die Gestalt eines Wolfes kennzeichnen. Die Kreatur wirkte zottig und abgerissen, so als habe sie schwere Zeiten durchgemacht, Zeiten, in denen sie verzweifelt nach Nahrung suchen mußte, in denen sie selten einen Platz zum Schlafen fand und in denen Qual und Jammer in eine Klage gegen die Welt einmündeten.
Das Geschöpf bog den Kopf zurück, erhob die Schnauze und begann von neuem zu klagen. Diesmal war es kein Heulen, es war ein schluchzender Jammerlaut, der zitternd und abgehackt durch die Nacht erscholl.
Lansing fühlte, wie ihn ein kalter Schauder überrieselte. Die Knie gaben ihm nach, und er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Sandra hockte am Boden, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Mary beugte sich über sie. Lansing spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte den Kopf und sah, daß Jürgens neben ihm stand.
»Ich bin schon in Ordnung«, sagte Lansing. »Ja, natürlich«, erwiderte Jürgens.
Der Heuler schluchzte und jammerte, wimmerte und winselte. Seine Klage schien kein Ende nehmen zu wollen. Es war, als müsse sie für ewige Zeiten über das Land erschallen. Doch dann, so plötzlich, wie sie begonnen hatte, hörte sie auf. Der Heuler war verschwunden. Der Mond, der sich nach Osten senkte, beleuchtete eine nackte, zackige Felskante. In dieser Nacht besuchte der Schnüffler sie wieder. Die drei Menschen waren schon in ihre Schlafsäcke gekrochen, und Jürgens hatte seinen Posten für die Nachtwache bezogen, als das Schnüffeln erklang. Er schnüffelte das Gebiet rund um das Lager ab. Die Menschen in ihren Schlafsäcken und der Roboter lauschten ohne Furcht. Nach dem Heuler war der Schnüffler ein willkommener Freund.