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Sie stießen die Tür auf und betraten einen großen Schankraum mit einem Kamin auf einer Seite. Vor dem Kamin stand ein langer Tisch mit Stühlen. Zwei Menschen saßen am Feuer, sie hatten den Neuankömmlingen den Rücken zugewandt. Eine kleine stämmige Frau mit Mondgesicht kam aus der Küche geeilt. Im Gehen trocknete sie sich die Hände an ihrer karierten Schürze ab.
»Sie sind schon hier?« keuchte sie. »Erstaunlich! So früh hatte ich Sie nicht erwartet.«
Sie blinzelte die Reisenden fragend an und strich sich mit der Hand eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Donnerwetter«, sagte sie anerkennend. »Sie sind noch zu viert! Dann haben Sie in der Stadt nicht mehr als zwei verloren. Die Leute am Feuer haben, vier Mitglieder eingebüßt, und es gab Gruppen, die völlig aufgerieben wurden.«
Ein schwaches Geräusch ließ Lansing aufhorchen. Er blickte zu der anderen Seite des Raums, die vom Feuerschein kaum noch erhellt wurde. Dort sah er sie: An einem Tisch hockten die vier Kartenspieler, völlig in ihr Spiel vertieft, ohne die Neuankömmlinge eines Blickes zu würdigen. Das Geräusch, das Lansing gehört hatte, war das Austeilen der Karten gewesen. Er wies mit dem Kopf auf die Spieler. »Wann sind die hier aufgetaucht?« fragte er.
»Gestern abend«, antwortete die Frau. »Sie gingen geradewegs auf den Tisch zu und ließen sich dort nieder. Seitdem haben sie ununterbrochen gespielt.«
Die zwei Personen, die am Kamin gesessen hatten, erhoben sich und traten auf die Reisenden zu. Eine der beiden war eine Frau, groß, blond und anmutig. Die andere, ein Mann, erinnerte Lansing an den Finanzmakler, der einstmals versucht hatte, ihm Wertpapiere zu verkaufen, die äußerst fragwürdig gewesen waren.
Die Frau reichte Mary die Hand. »Ich heiße Melissa«, sagte sie. »Ich bin kein Mensch, auch wenn ich so aussehe. Ich bin eine Puppe.«
Sie gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern schüttelte allen der Reihe nach die Hand.
»Mein Name ist Jorgenson«, sagte der Mann, »und ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr ich mich freue, Sie zu treffen. Ich muß gestehen, wir beide haben Angst. Wir drücken uns schon seit Tagen hier herum und können uns nicht entschließen, diese sinnlose Reise fortzusetzen, die wir unbewußt und ohne es zu wollen begonnen haben.«
»Ich kann Ihre Gefühle nachempfinden«, sagte Lansing. »Wir alle haben schon Ähnliches durchgemacht.«
»Lassen Sie uns zum Feuer zurückgehen«, schlug Jorgenson vor.
»Wir haben da eine Flasche, mit der wir nicht so recht vorankommen. Vielleicht können Sie uns beim Leeren helfen?«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Lansing. »Danke für die Einladung.«
Die Frau mit der Schürze, offensichtlich die Wirtin, war verschwunden. Die Kartenspieler setzten ihr Spiel, ohne aufzublicken, fort.
Nachdem es sich alle bequem gemacht hatten und die Krüge gefüllt waren, sagte Jorgenson: »Und jetzt schlage ich vor, daß wir unsere Gedanken und Erfahrungen austauschen, damit wir uns besser kennenlernen. Was mich betrifft, ich bin Zeitreisender. Als ich diesen Ort zum erstenmal betrat, dachte ich noch, es sei eine Zwischenstation. Leider mußte ich feststellen, daß ich mich geirrt hatte. Andernfalls hätte ich diese Welt auch längst wieder verlassen. Warum ich hier bin, weiß ich nicht. Ich habe absolut keine Erklärung für das, was passiert ist. Es ist das erste Mal, daß ich in der Zeit steckengeblieben bin.«
Lansing kostete von dem Getränk und fand es gut. Er trank einen zweiten Schluck.
»Wie ich Ihnen schon sagte«, ergriff nun Melissa das Wort, »bin ich eine Puppe. Ich habe keine genaue Definition für den Begriff, aber ich weiß, eine Puppe ist die Nachbildung eines Menschen. Wozu man Menschennachbildungen braucht, kann ich Ihnen nicht sagen. Wir waren nur wenige, und wir lebten an einem Ort, den man die >Äußerste Stadt< nennen könnte. Ein Ort großen Komforts und höchster Bequemlichkeit. Man kann das Leben, das wir dort führten, wohl als gutes Leben bezeichnen. Es schien nur keinen Sinn zu haben, und das bedrückte uns von Zeit zu Zeit ein wenig. In der Stadt lebten nur wenige Personen. Möglicherweise waren wir alle Puppen, aber ich habe mich nie getraut, die entscheidende Frage zu stellen. Ich hatte Angst, es könnte sich herausstellen, daß ich die einzige Puppe bin. Und das wäre schrecklich gewesen, verstehen Sie?« »Ich suche nun schon seit Jahren nach einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit«, fuhr Jorgenson fort. »Vor vielen Jahren war ich einmal dort, aber ich glitt aus dem Raum-Zeit-Gefüge, ohne daß ich es wollte. Seitdem habe ich ständig versucht, die Stelle wiederzufinden, aber so sehr ich mich auch abmühe, ich scheine sie immer knapp zu verfehlen. Ich habe mich schon gefragt, ob sie aus irgendeinem Grund für mich verschlossen ist, kann mir aber nicht vorstellen, welchen Grund es da geben könnte.«
»Wenn Sie sich alles gut eingeprägt haben, dann könnte das Ihre Suche erleichtern«, sagte Mary. »Ich meine, wenn Sie Ort und genauen Zeitpunkt wüßten.«
»Oh, ich kenne beides recht gut«, erwiderte Jorgenson. »Die Zeit waren die zwanziger Jahre, die Wilden Zwanziger, obwohl ich von ihrer Wildheit nichts mitbekommen habe. Dort, wo ich mich aufgehalten habe, war alles ruhig und friedlich. Die Welt hatte noch nicht jene zynische Blasiertheit erreicht, die sich einige Jahrzehnte später etablieren sollte. Ich glaube, ich habe den Zeitraum ziemlich exakt eingegrenzt. Wir schrieben das Jahr 1926, und der Monat war August. Der Ort war ein verschlafenes Städtchen an der Ostküste, vielleicht in Massachusetts, wahrscheinlicher aber in Delaware oder Maryland.«
»Mit keinem der Namen, die Sie erwähnen, kann ich das geringste anfangen«, beklagte sich Melissa. »Sie haben mir von Nordamerika erzählt, aber ich kenne kein Nordamerika. Ich kenne nur den Ort, wo ich gelebt habe. Er war großartig, und wir hatten kleine mechanische Dienstboten, die ihn sauber und ordentlich hielten und für unser Wohl sorgten. Aber es gab keine Ortsnamen; auch der Platz, wo wir lebten, hatte keinen Namen. Namen waren nicht wichtig, denn wir hatten nicht den Wunsch, andere Orte aufzusuchen, falls es dort überhaupt andere Orte gab.«
»Am Anfang unserer Reise waren wir noch sechs«, sagte Jorgensen.
»Wir auch«, sagte Mary. »Aber ob Reisegruppen wie die uns-rigen immer aus sechs Mitgliedern bestehen?«
»Das kann ich beim besten Willen nicht sagen«, erwiderte Jorgenson. »Ihre Gruppe und meine sind die einzigen, die ich kenne.«
»Wir hatten einen Idioten dabei«, sagte Melissa. »Er war nicht schwachsinnig, nein, er war ein richtiger Spaßmacher. Immer lustig und zu Scherzen aufgelegt. Und dann war in unserer Gruppe noch der Mississippi-Spieler. Ich habe vorher nie gefragt, weil ich meine Unwissenheit nicht zeigen wollte, aber jetzt frage ich Sie: Kann einer von Ihnen mir erklären, was ein Mississippi ist?«
»Es ist ein Fluß«, antwortete Lansing. »Die Wirtin erwähnte, daß Sie die anderen vier in der Stadt verloren hätten«, sagte Mary. »Können Sie uns erzählen, wie das geschehen ist?« »Sie sind nicht zurückgekehrt«, erwiderte Melissa. »Eines Tages sind wir alle aufgebrochen, um nach etwas zu suchen. Was wir suchen sollten, wußte keiner von uns. Kurz vor Einbruch der Nacht kamen wir beide zu unserem Lager auf dem Platz zurück. Wir entfachten das Feuer, kochten ein Abendessen und warteten auf die anderen. Wir warteten die ganze Nacht, aber sie kehrten nicht zurück. Wir waren sehr besorgt und hatten große Angst, und so machten wir uns schließlich auf die Suche nach ihnen. Wir suchten fünf Tage, entdeckten aber nicht die geringste Spur. Jede Nacht erschien ein riesiges Tier auf den Hügeln oberhalb der Stadt und schrie seinen Jammer in die Finsternis hinaus.«
»Und dann haben Sie den Pfad im Westen der Stadt entdeckt, sind ihm gefolgt und haben schließlich dieses Gasthaus erreicht?« fragte Sandra.
»Genauso hat es sich abgespielt«, sagte Jorgenson. »Seitdem halten wir uns hier auf und wagen nicht weiterzureisen.« »Die Wirtin hat schon Andeutungen gemacht, wir sollten langsam aufbrechen«, sagte Melissa. »Sie weiß, daß wir kein Geld haben.
Zwei in unserer Gruppe hatten Geld. Nun, da sie fort sind, ist auch das Geld fort.«
»Wir haben Geld«, sagte Lansing. »Wir werden Ihre Rechnung bezahlen, dann können Sie mit uns weiterziehen.« »Sie wollen Weiterreisen?« fragte Melissa.
»Natürlich wollen wir das«, sagte Jürgens. »Was sollten wir sonst tun?«
»Aber das ist doch sinnlos!« schrie Jorgenson. »Wenn wir nur wüßten, warum wir hier sind, was von uns erwartet wird. Haben Sie denn keine Ahnung?« »Nicht die geringste«, erwiderte Mary.
»Wir sind Ratten, die in einem Labyrinth umherirren«, bemerkte Lansing. »Vielleicht geht ja alles gut aus.«
»Auf meiner Welt«, sagte Melissa, »gab es große Spieltische. Wir spielten dort stundenlang, manchmal tagelang. Das Spiel hatte keine Regeln, die Regeln entwickelten sich, während wir spielten.
Aber sobald die Regeln feststanden oder wir glaubten, daß sie es täten, änderten sie sich wieder.«
»Hat überhaupt jemand gewonnen?« fragte Mary.
»Ich kann mich kaum erinnern«, antwortete Melissa. »Nein, ich glaube nicht, daß wir gewonnen haben. Keiner von uns. Aber das hat uns natürlich nichts ausgemacht. Es war ja nur ein Spiel.«
»Dieses Spiel hier ist Wirklichkeit«, sagte Jorgenson düster. »Der Einsatz ist unser Leben.«
»Es gibt Zweifler«, begann Lansing, »die Ihnen sagen werden, daß es im Universum kein dauerhaftes Prinzip gibt. Kurz bevor ich meine Welt verließ, sprach ich mit einem Freund über dieses Thema. Er war der Ansicht, das Universum basiere auf Zufall. Aber das glaube ich nicht. Es muß dort ein Element der Vernunft geben, es muß Ursache und Wirkung und einen Grund für unser Hiersein geben, was nicht bedeutet, daß wir auch fähig sein müssen, diesen Grund zu verstehen. Wenn eine andere, höhere Lebensform versuchen würde, uns den Sinn zu erklären, bliebe er für uns vielleicht dennoch im dunkeln.« »Es gibt also nicht viel Hoffnung für uns«, sagte Jorgenson. »Vermutlich nicht, aber die Möglichkeit, daß uns noch Hoffnung bleibt, besteht immerhin. Wir sind nicht völlig am Boden.« »Es gibt Mysterien, die sich enthüllen, wenn man sich nur tief genug in sie versenkt«, sagte Jürgens.
»Wir haben die Wirtin nach dem Land vor uns gefragt«, sagte Melissa, »aber ihre Auskunft war sehr dürftig.«
»Der gleiche Fall wie bei dem Lümmel in dem ersten Gasthaus«, erzählte Jorgenson. »Der hat auch so mit den Informationen gegeizt.«
»Die Wirtin sagt, wir würden in einiger Entfernung auf einen singenden Turm treffen«, fuhr Melissa fort. »Das ist alles.
Außerdem warnt sie uns davor, nach Westen oder nach Norden zu reisen. Im Norden, sagt sie, liege Chaos.«
»Sie weiß nicht, was Chaos ist«, ergänzte Jorgenson. »Sie kennt nur das Wort, und es läuft ihr kalt über den Rücken, wenn sie es ausspricht.«
»Also werden wir nach Norden reisen«, sagte Jürgens. »Ich werde sofort mißtrauisch, wenn jemand uns vor einem bestimmten Ort warnt. Wir könnten dort etwas entdecken, was man vor uns geheimhalten will.«
Lansing leerte seinen Krug und stellte ihn auf dem Tisch ab. Langsam erhob er sich und durchquerte den Raum, bis er den Tisch erreicht hatte, an dem die vier beim Kartenspiel saßen. Lange stand er so. Keiner der vier beachtete ihn. Es war, als hätten sie seine Ankunft gar nicht bemerkt. Schließlich hob einer von ihnen den Kopf und blickte Lansing an. Lansing wich einen Schritt zurück, voller Grauen über den Anblick, der sich ihm bot. Anstelle der Augen starrten ihn aus dunklen Löchern im Schädel zwei schwarze Obsidiane an. Zwei Atemschlitze ersetzten die Nase, und auch der Mund war nur ein Schlitz. Das Gesicht besaß kein Kinn, es fiel in einer schrägen Linie zum Hals ab.
Lansing wandte sich um und ging. Als er sich dem Tisch am Kamin näherte, hörte er, wie Sandra mit einem sonderbaren Beben in der Stimme sagte: »Ich kann es kaum erwarten, den singenden Turm zu sehen.«
23
Vier Tage nachdem sie das Gasthaus verlassen hatten, erreichten sie den singenden Turm.
Der Turm war kein Turm, sondern eine Nadel. Er stand auf dem Gipfel eines Hügels und reckte sich hoch in den Himmel. An der Basis maß er knapp zwei Meter und verjüngte sich zu einer scharfen Spitze in dreißig oder mehr Metern Höhe. Er hatte eine unangenehme rosa Farbe und schien aus einem ähnlichen Material zu bestehen wie der Würfel. Plastik, sagte Lansing zu sich, obwohl er ziemlich sicher war, daß es sich bei der Substanz nicht um Plastik handelte. Er legte die flache Hand auf die Oberfläche und spürte eine leichte Vibration, so als ließe der Westwind den ganzen Turm erzittern wie eine gigantische, freistehende Violinsaite.
Mit Ausnahme von Sandra waren alle von der Musik des Turms enttäuscht. Jorgenson behauptete sogar, daß es gar keine Musik sei, sondern schlicht Lärm. Eigentlich war sie nicht laut, schwoll aber von Zeit zu Zeit an. Sie erinnerte Lansing entfernt an Kammermusik, obwohl er zugeben mußte, daß er nur wenig Ahnung von Kammermusik hatte. Vor langer Zeit hatte Alice ihn eines Nachmittags zu einem Kammerkonzert geschleppt, und er hatte zwei lange Stunden hindurch still, aber heftig gelitten. Die Musik des Turmes hatte, obwohl sie im Grunde leise war, eine unglaublich tragende Kraft. Die ersten Tonfetzen hatte der Wind bereits am Nachmittag des dritten Tages zu ihnen herübergeweht.