125774.fb2 Poker um die Zukunft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

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Sandra war sofort überwältigt, kaum daß sie die ersten Töne vernommen hatte. Sie hatte zu verhindern versucht, daß ein Nachtlager aufgeschlagen wurde.

»Können wir uns nicht beeilen und die Nacht hindurch wandern?« hatte sie gefragt. »Vielleicht erreichen wir den Turm dann schon vor Tagesanbruch. Jetzt ist noch keiner müde, und das Marschieren in der kühlen Nacht wird uns guttun.« Lansing hatte dieses Ansinnen ziemlich brüsk zurückgewiesen. Sandra hatte nicht weiter gedrängt. Aber gegen ihre Gewohnheit hatte sie nicht bei den Vorbereitungen für das Abendbrot geholfen, sondern war auf einen Hügel oberhalb des Lagers gestiegen. Dort hatte sie gestanden und gelauscht, eine kleine, schlanke, vom Wind geschüttelte Gestalt. Sie hatte nichts gegessen und nicht geschlafen. Die ganze Nacht über war sie auf dem Hügel geblieben.

Und jetzt, nachdem die Gruppe den Hügel mit dem sogenannten Turm erklommen hatte, war Sandra immer noch in Trance. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte sie zur Spitze empor und lauschte mit allen Fasern ihres Seins. »Was findet sie nur in dieser Musik?« fragte Jorgenson. »Mich läßt sie völlig kalt.«

»Weil Sie kein Herz haben«, sagte Melissa. »Ganz gleichgültig, was Sie behaupten mögen, diese Klänge sind Musik, obwohl ich zugeben muß, daß es eine sehr sonderbare Musik ist. Ich bevorzuge Musik, zu der man tanzen kann. Ich habe früher viel getanzt. Zu dieser Musik kann man nicht tanzen.« »Ich mache mir Sorgen um Sandra«, sagte Mary zu Lansing. »Seit gestern nachmittag hat sie nichts mehr gegessen, und sie hat die ganze Nacht über gewacht. Wir müssen doch etwas dagegen unternehmen.«

Lansing schüttelte den Kopf. »Laß sie eine Weile in Ruhe«, riet er. »Vielleicht fängt sie sich bald wieder.«

Nachdem das Abendessen bereitet war, ging Melissa mit einem Teller zu Sandra und überredete sie zu essen. Sandra nahm nur sehr wenig zu sich und sprach fast gar nicht. Lansing saß am Feuer und betrachtete die Frauengestalt, die sich dunkel von dem abendlichen Himmel abhob. Ihm fiel ein, wie sich Sandra gefreut hatte, den singenden Turm zu sehen. Schon in der ersten Nacht hatte sie gesagt: »Vielleicht ist er schön. Oh, wie sehr ich das hoffe! Es gibt so wenig Schönheit auf dieser Welt.«

»Sie leben nur für die Schönheit«, hatte er gesagt. »O ja, sie ist mein Lebenssinn. Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, ein Gedicht zu machen. Hier gibt es nirgends etwas, aus dem sich ein Gedicht gestalten ließe, ein Ding voll eigener Schönheit, aus einem Ort entstanden, dem jegliche Schönheit fehlt. Aber es gelingt mir nicht, den Anfang zu finden. Ich weiß, was ich mitteilen möchte, aber Worte und Gedanken wollen sich nicht zusammenfinden.«

Und jetzt fragte sich Lansing, ob die Musik des Turms, die Sandra so in ihren Bann geschlagen hatte, die Gestaltung des Gedichtes wohl gefördert haben mochte.

Jorgenson unterhielt sich mit Jürgens. »Im Gasthof sagten Sie, daß wir uns nach Norden wenden sollten. Wir sind vor dem Norden gewarnt worden. Sie sagten, es mache Sie mißtrauisch, wenn man versuche, Sie von etwas abzuhalten. Wenn die Leute einem rieten, einen bestimmten Ort zu meiden, dann müsse man ihn gerade aufsuchen. Es gebe immer wieder Leute, sagten Sie, die versuchen, einen in die Irre zu leiten.« »So ist es«, entgegnete Jürgens, »und ich glaube, meine Argumente sind stichhaltig.«

»Aber wir sind nach Westen gereist und nicht nach Norden!« »Wir hatten ein Ziel, das haben wir zuerst angesteuert, anschließend werden wir uns dem Unbekannten zuwenden. Jetzt, nachdem wir den Turm erreicht haben, werden wir nach Norden schwenken und einen Blick auf >Chaos< werfen.« Jorgenson blickte fragend auf Lansing, dieser nickte zustimmend.

»Genauso hatte ich es auch geplant. Haben Sie irgendwelche Einwände?«

Jorgenson schüttelte den Kopf.

»Ich frage mich, was Chaos wohl sein könnte«, sagte Melissa.

»Es kann fast alles sein«, antwortete Lansing. »Ich mag den Klang des Wortes nicht.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben Angst?«

»Ja, das stimmt. Ich habe Angst.«

»Viele Begriffe haben für verschiedene Leute eine ganz unterschiedliche Bedeutung«, sagte Mary. »Unter Chaos können wir etwas verstehen, das ein anderer nicht mit diesem Wort verbindet. Unterschiedliche Kulturkreise haben unterschiedliche Blickwinkel.«

»Wir klammern uns verzweifelt an Strohhalme«, sagte Jorgenson. »Zuerst war es der Würfel, dann die Stadt, der singende Turm, und jetzt ist es >Chaos<.«

»Ich glaube immer noch, daß der Würfel bedeutsam war«, sagte Mary. »Ich werde das Gefühl einfach nicht los, daß wir uns beim Würfel falsch verhalten haben. Der General hielt die Stadt für den Schlüssel, aber das wäre zu einfach gewesen, zu offenkundig. In der Stadt hätte jeder die Antwort vermutet, deshalb glaube ich, die Stadt war ein Irrweg.« Sie wandte sich an Jorgenson. »Sie haben dort doch auch nichts gefunden?«

»Nur leere Räume und Staub. Vielleicht haben die anderen vier aus unserer Gruppe die Antwort gefunden, das könnte der Grund dafür sein, daß sie nicht zurückgekehrt sind. Sie haben mehr entdeckt als wir - die Türen und die Maschine. Aber auch das hat Sie der Antwort keinen Schritt näher gebracht. Ihre Entdeckungen waren wertlos.«

»Nicht völlig wertlos«, erwiderte Mary. »Durch sie haben wir einiges über die Einwohner der Stadt erfahren. Sie waren ein Volk von Wissenschaftlern, technologisch fortgeschritten und kulturell hochstehend. Und unsere Entdeckungen haben uns auch den Weg gewiesen, den dieses Volk gegangen ist - fort zu anderen Welten.« »So wie wir?«

»Genau«, sagte Jürgens. »Mit dem einen Unterschied: Sie sind freiwillig gegangen.«

»Und dann haben sie uns eingefangen und hierhergebracht.« »Dessen können wir nicht sicher sein«, erwiderte Lansing. »Irgend etwas oder irgend jemand, eine Agentur oder was auch immer, hat uns hierhergeschafft, aber wer das war, können wir nicht sagen.«

Mary wandte sich an Jorgenson: »Für Sie kann dieses Abenteuer nicht so völlig fremdartig sein wie für uns. Sie sind doch Zeitreisender gewesen. Sie haben freiwillig andere Zeiten und andere Welten besucht.«

»Ich habe meine Fähigkeit verloren«, sagte Jorgenson bitter. »An diesem Ort funktioniert die Verfahrensweise nicht!« »Und wenn Sie einmal versuchten, sich darauf zu konzentrieren, wie Sie es früher gemacht haben, welche Technik Sie benutzt haben, welche Worte Sie gesprochen haben, wie Ihre geistige Verfassung war...«

»Ja glauben Sie denn, das hätte ich nicht getan?« schrie Jorgenson sie an. »Zuletzt noch in der Stadt.« »Das stimmt«, sagte Melissa. »Ich habe ihn dabei beobachtet.« »Ach, wenn es doch nur geklappt hätte«, sagte Jorgenson. »Dann hätte ich die Zeit besuchen können, in der die Stadt noch nicht verlassen war, hätte die Menschen, die hier gelebt haben, und ihre Projekte kennengelernt.«

»Stellen Sie sich das einmal vor«, sagte Melissa. »Wäre das nicht nett gewesen?«

»Doch, sehr nett«, sagte Lansing.

»Sie glauben nicht an meine Zeitreise-Fähigkeit«, sagte Jorgenson herausfordernd. »Das habe ich nicht gesagt.« »Gesagt nicht, aber.«

»Jetzt hören Sie mir einmal gut zu«, erwiderte Lansing. »Versuchen Sie keinen Streit vom Zaun zu brechen. Wir haben auch so schon genug Ärger, persönliche Zwistigkeiten können wir uns nicht erlauben. Sie behaupten, Sie können durch die Zeit reisen, und ich widerspreche Ihnen nicht. Sollten wir es letztendlich nicht dabei belassen?«

»Mit Vergnügen«, sagte Jorgenson, »wenn Sie in Zukunft den Mund halten.«

Lansing unterdrückte eine Erwiderung.

»Alle unsere Entdeckungen waren Fehlschläge«, sagte Mary. »Ich hatte große Hoffnungen auf den Turm gesetzt, ich hatte gehofft, er werde die Lösung bringen.«

»Er hat uns kein bißchen weitergeholfen«, sagte Jorgenson. »Genau wie der andere Kram.«

»Vielleicht entdeckt Sandra etwas«, wandte Jürgens ein. »Sie gibt sich völlig der Musik hin. Nach einer Weile.« »Musik?« unterbrach Jorgenson. »Für mich ist das allenfalls ein Gewimmer, und ich wüßte nicht, was es darin zu entdecken gäbe.«

»Sandra stammt von einer künstlerischen Welt«, erklärte ihm Mary. »Sie ist an ästhetische Qualitäten gewöhnt, die auf anderen Welten erst in Ansätzen entwickelt sind. Die Musik.« »Wenn es Musik ist.«

»Die Musik«, fuhr Mary fort, ohne auf seine Unterbrechung zu achten, »könnte ihr durchaus Aufschlüsse geben. Vielleicht kommt sie bald zurück, um uns davon zu berichten.«

24

Sie kam nicht zurück, um zu berichten. Sie aß nur wenig. Sie weigerte sich nicht, zu sprechen, aber sie sagte nur wenig und Unverbindliches. Die ersten beiden Tage, fast achtundvierzig Stunden lang, stand sie aufrecht und lauschte gebannt. Sie schenkte den Gefährten keine Beachtung, ja vielleicht nicht einmal sich selbst.

»Wir vergeuden Zeit«, beklagte sich Jorgenson. »Wir sollten nach Norden aufbrechen. Chaos, was immer es sein mag, könnte uns vielleicht Aufschlüsse geben. Wir können nicht bis in alle Ewigkeit hier herumlungern.« »Ich gehe nicht nach Norden«, kreischte Melissa. »Ich habe Angst vor Chaos.«

»Sie sind eine dumme Gans«, sagte Jorgenson. »Wie können Sie vor etwas Angst haben, das Sie gar nicht kennen.«

»Diese Art von Gesprächen führt zu nichts«, sagte Lansing.

»Zanken hilft uns nicht weiter. Natürlich müssen wir alles besprechen, aber ohne uns dabei anzukeifen.«

»Wir können doch nicht einfach weiterziehen und Sandra zurücklassen«, wandte Mary ein. »Sie war von Anfang an dabei.

Ich werde sie nicht im Stich lassen.«

»Norden ist nicht die einzige Richtung, die wir einschlagen können«, sagte Jürgens. »Man hat uns gesagt, daß wir im Norden einen Zustand antreffen würden, der Chaos genannt wird. Aber wenn wir weiter nach Westen ziehen, finden wir vielleicht auch dort etwas. Im ersten Gasthaus erfuhren wir von dem Würfel und der Stadt, im zweiten von dem Turm und Chaos. Die Wirtsleute auf dieser Welt sind nicht allzu freigebig mit ihren Informationen. Wir haben zwar eine Landkarte, aber sie ist nutzlos. Sie zeigt nur den Weg von der Stadt in die Badlands, das zweite Wirtshaus und der Turm sind nicht mehr verzeichnet.«

»Vielleicht haben uns die Leute alles gesagt, was sie wußten«, meinte Lansing.

»Vielleicht, aber wir können uns nicht auf sie verlassen.« »Also, um es kurz zu machen«, sagte Jorgenson, »wir sollten sowohl nach Norden als auch nach Westen ziehen.« »Ich werde Sandra nicht zurücklassen!« sagte Mary bestimmt. »Vielleicht können wir mit ihr reden«, schlug Jorgenson vor. »Das habe ich schon versucht«, sagte Mary. »Ich habe ihr gesagt, daß wir hier nicht länger bleiben könnten, jedoch zum Turm zurückkommen wollten. Dann könne sie in Ruhe weiterlauschen. Aber ich frage mich, ob sie meine Worte überhaupt wahrgenommen hat.«

»Sie könnten doch bei Sandra bleiben«, sagte Jorgenson, »und wir vier teilen uns auf. Zwei gehen nach Westen und zwei nach Norden, um zu sehen, was dort los ist. Wir einigen uns darauf, in vier oder fünf Tagen wieder hier zusammenzutreffen.« »Das halte ich für keine gute Idee«, protestierte Lansing. »Ich bin dagegen, Mary allein zurückzulassen. Und ich finde auch, wir sollen zusammenbleiben.«

»Bisher hat unsere Reise keine Gefahren geboten, keine wirklichen physischen Gefahren jedenfalls«, sagte Jorgenson. »Mary ist hier in Sicherheit. Sie sollte bei Sandra bleiben, und wir anderen beeilen uns mit unseren Erkundungsgängen. Ich habe zwar wenig Hoffnung, aber es besteht immerhin die Möglichkeit, daß man etwas entdeckt.« »Können wir Sandra nicht tragen?« fragte Jürgens. »Möglicherweise erholt sie sich wieder, wenn sie sich nicht mehr im Bannkreis der Musik befindet.«

»Das ist gut möglich«, sagte Lansing. »Aber es besteht die Gefahr, daß sie sich dagegen wehren würde. Sie ist nicht voll zurechnungsfähig. Aber selbst wenn sie sich nicht sträubte, wenn sie sich willig mitschleppen ließe, würde sie unser Tempo erheblich beeinträchtigen. Die Landschaft ist unwirtlich. Die Wasserstellen sind weit voneinander entfernt. Zwischen der Wasserstelle hier und der letzten liegen zwei Tagesreisen.« »Bevor wir aufbrechen, werden wir die Wasserflaschen füllen«, sagte Jorgenson. »Wir werden wenig trinken, dann wird es reichen. Vielleicht wird die Wassersituation später besser.« »Ich glaube, Jorgenson hat recht«, sagte Mary. »Wir können Sandra nicht allein zurücklassen; ich werde bei ihr bleiben. Hier scheinen keine Gefahren zu lauern. Es gibt keine Lebewesen -bis auf den Schnüffler, und der ist einer von uns.« »Ich möchte dich nicht alleinlassen«, sagte Lansing. »Dann soll Jürgens hierbleiben«, schlug Jorgenson vor.