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Und zu Lansing sagte sie: »Wir können nicht alle hierbleiben. Das ist Zeitverschwendung. Wir müssen wissen, was im Westen und im Norden liegt. Wenn dort nichts ist, dann wissen wir wenigstens Bescheid und können andere Pläne machen.« »Ich will nicht nach Norden gehen«, sagte Melissa. »Ich will einfach nicht.«
»Dann gehen wir beide eben nach Westen«, meinte Jorgenson, »und Lansing und Jürgens machen sich nach Norden auf. Wir werden uns beeilen. In ein paar Tagen sind wir wieder zurück.
Vielleicht ist bis dahin auch Sandra wieder die alte.«
»Ich habe immer noch Hoffnung«, begann Mary, »daß sie dort etwas erfährt, etwas hört, wofür wir anderen keine Ohren haben.
Vielleicht liegt die Antwort oder ein Teil der Antwort hier, und nur Sandra kann sie für uns finden.«
»Wir bleiben zusammen«, beharrte Lansing. »Ich bin dagegen, daß wir uns trennen.«
»Sie sind sehr hartnäckig«, sagte Jorgenson. »Dann bin ich eben hartnäckig«, erwiderte Lansing. Bevor der Tag zu Ende ging, hatte Sandra ihre aufrechte Haltung aufgegeben und war auf die Knie gefallen. Hin und wieder kroch sie ein paar Zentimeter und schob sich auf diese Weise immer näher an den singenden Turm heran. »Ich mache mir Sorgen um sie«, sagte Lansing zu Mary. »Ich auch«, sagte Mary. »Aber es scheint ihr nicht schlecht zu gehen. Sie spricht ein wenig, wenn auch nicht viel. Sie sagte mir, daß sie bleiben müsse. Wir anderen sollten ruhig weiterziehen, aber sie könne den Ort nicht verlassen. Wir sollten ihr Wasser und etwas zu essen dalassen, das werde ihr völlig genügen. Sie hat heute abend tatsächlich ein paar Bissen gegessen und ein wenig Wasser getrunken.« »Hat sie dir erzählt, was mit ihr geschieht?«
»Nein, darüber hat sie nicht geredet. Ich habe sie gefragt, aber entweder sie wollte oder sie konnte mir nichts erzählen. Ich vermute das letztere. Vielleicht weiß sie selbst nicht, was mit ihr vorgeht.«
»Du glaubst also, daß sich etwas mit ihr ereignet und mehr dahintersteckt als pure Begeisterung und Faszination?« »Ich glaube schon.«
»Es ist schon sonderbar«, sagte Lansing, »daß uns der Turm gar keine Hinweise gibt. Nichts, absolut nichts. Wie der Würfel. Beides sind Konstruktionen. Irgend jemand hat sie gebaut, und er muß eine Absicht dabei verfolgt haben.«
»Jorgenson hat sich ähnlich wie du geäußert. Er hält den Würfel und den Turm für falsche Fährten, Gebilde, deren einziger Sinn es ist, uns zu verwirren.«
»Das Irrgarten-Syndrom. Ein Test, um uns auszusortieren.« »Er hat es zwar nicht so ausgedrückt, aber genau das wollte er sagen.«
Die beiden saßen allein beisammen, etwas abseits von den anderen und vom Feuer. Jürgens stand stumm und untätig am anderen Ende des Lagers. Melissa und Jorgenson saßen am Feuer. Hin und wieder wechselten sie ein paar Worte, aber meistens blickten sie schweigend in die Flammen. Mary ergriff die Hand des Mannes. »Wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte sie. »Wir können nicht länger hierbleiben und auf Sandra warten. Der Wirt im ersten Gasthaus hat vom Wintereinbruch gesprochen. Er sagte, daß er im Winter die Gaststätte schließt. Der Winter in dieser Gegend könnte furchtbar werden. Uns bleibt wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit. Jetzt ist schon Herbst, Spätherbst vielleicht.« Lansing legte den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. Sie schmiegte den Kopf an seine Brust. »Ich kann dich nicht hier zurücklassen«, sagte er. »Nicht allein. Bei dem Gedanken schnürt sich mir die Kehle zu.«
»Du mußt aber«, sagte sie.
»Ich könnte allein nach Norden gehen, und Jürgens bleibt bei dir.«
»Nein, ich möchte, daß Jürgens dich begleitet. Dieser Ort ist sicher, aber im Norden könnten Gefahren lauern. Sieh doch ein, daß es getan werden muß.«
»Ich sehe es ja ein, es ergibt Sinn. Aber ich kann dich einfach nicht allein hier zurücklassen.«
»Edward, du mußt. Vielleicht ist das, was wir suchen, im Norden. Wir müssen uns Klarheit verschaffen.« »Vielleicht ist es im Westen.«
»Vielleicht im Westen, möglicherweise sogar hier. Das wissen wir eben nicht. Aber Sandra ist nur eine schwache Hoffnung. Vielleicht überrascht sie uns eines Tages mit einer Antwort, aber diese Chance ist nur sehr gering. Nichts, worauf es sich zu warten lohnt.«
»Wirst du auch vorsichtig sein? Brav hierbleiben und nichts auf eigene Faust unternehmen?«
»Ich verspreche es dir!« sagte Mary.
Am nächsten Morgen brachen die beiden Gruppen auf. Mary küßte Lansing zum Abschied. Dann wandte sie sich an Jürgens: »Passen Sie gut auf ihn auf. Ich verlasse mich auf Sie.« »Wir werden aufeinander aufpassen«, erwiderte der Roboter stolz.
25
Vom Gasthaus bis zum Turm war die Landschaft allmählich immer karger geworden. Nördlich des Turmes verwandelte sich die Kargheit in Wüste. Das Gehen wurde beschwerlich. Sand glitt unter ihren Füßen weg, und Dünen mußten erklommen werden. Der Wind blies ständig von Nordwesten herüber und wirbelte Sand in ihre Gesichter.
Sie sprachen kaum. Die Körper gegen den Wind gestemmt, kämpften sie sich verbissen nach Norden vor. Jürgens legte anhand des Kompasses die Route fest. Der Roboter humpelte vorweg, Lansing stapfte hinterher. Zu Beginn der Reise waren sie in umgekehrter Reihenfolge marschiert. Aber als Lansing ermüdete, hatte Jürgens die Führung übernommen. Nach einigen Stunden verschwanden die Dünen, und sie betraten einen festeren Landstrich, obwohl immer noch Sand den Boden bedeckte.
Lansing beobachtete Jürgens, der energisch vor ihm herhinkte, und begann über ihn nachzudenken. Jürgens war ihm immer noch ein Rätsel - genau wie alle anderen. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was er von jedem einzelnen wußte, aber das Ergebnis war sehr dürftig. Mary war Ingenieurin auf einer Welt, in der noch die alten Imperien des achtzehnten Jahrhunderts bestanden und eine stabile, aber mitleidlose Ordnung aufrechterhielten. Das war schon alles, was er von ihr wußte, mit Ausnahme einer Tatsache - er liebte sie. Er hatte keine Ahnung von der Arbeit, die sie tat, in welchem Zweig der Ingenieurwissenschaft sie ausgebildet war, er wußte nichts über ihre Familie und ihr früheres Leben, ja vielleicht wußte er von ihr weniger als von allen anderen.
Sandras Heimat war eine bizarre Welt, eine Kultur, die er nicht verstand. Aber vielleicht spiegelte Sandra auch nur den kleinen kulturellen Bereich wider, in dem sie aufgewachsen war und gelebt hatte, dachte er. Möglicherweise war die Gesamtkultur ihrer Welt völlig anders geartet, und sie selbst hatte das gar nicht wahrgenommen. Sie hatten sich Sandra gegenüber nicht richtig verhalten, sagte er sich. Die Gruppe als Ganzes hatte sie im Grunde ignoriert. Wenn man ihr die Möglichkeit dazu gegeben hätte, sie hätte vielleicht wertvolle Beiträge leisten können. Wenn sie, anstelle von Mary und ihm, von der Maschine übernommen worden wäre, wären sie jetzt vielleicht um eine Erkenntnis reicher. Möglicherweise hielt sie in diesem Augenblick, durch ihre Zwiesprache mit dem Turm, den Schlüssel zur Lösung des Rätsels in der Hand. Der Pastor, dachte Lansing, war ein offenes Buch gewesen. Aber vielleicht hatte auch er nur einen kleinen kulturellen Bereich seiner Welt repräsentiert. Es gab keinen Hinweis darauf, daß seine ganze Welt so bigott, engstirnig und böse war, wie er sie empfunden hatte. Mit der Zeit hätten sie vielleicht eine Möglichkeit gefunden, den Pastor zu verstehen, hätten sich vielleicht eine gemeinsame Verständigungsbasis erarbeiten können. Aber er hatte sie verlassen, bevor sie Gelegenheit hatten, seinen geistigen Hintergrund kennenzulernen, was ihnen vielleicht ermöglicht hätte, ein gewisses Maß an Sympathie für sein kleinkariertes Denken zu empfinden.
Bei dem General hatte der Fall anders gelegen. Er war von Anfang an sehr zurückhaltend gewesen, hatte keinen Versuch unternommen, seine Welt zu erklären, und hatte sich auch zu erzählen geweigert, auf welche Weise er an diesen Ort transportiert worden war. Durch sein dominierendes Wesen, seinen Hang zum Kommandieren und die Unfähigkeit, andere als seine eigenen Argumente gelten zu lassen, blieb er Lansing bis zuletzt ein Rätsel. Er hatte mit absoluter Sicherheit keinen kulturellen Einzelbereich, sondern die Gesamtkultur seiner Welt repräsentiert. Sie erschien Lansing als ein Ort militärischer Anarchie, auf dem Hunderte von streitsüchtigen kleinen Kriegsherren einander bekämpften. Nur ein Spiel, hatte der General gesagt, aber es war ein mörderisches Spiel. Und Jürgens? Die Menschen seiner Welt waren zu den Sternen aufgebrochen und hatten nur die Armseligsten und Unfähigsten zurückgelassen. Diese waren auf die Stufe der Barbarei zurückgefallen. Freiheit, hatte Jürgens gesagt - endlich sei er aus der drückenden Verantwortung entlassen, die er und die anderen Roboter für die traurigen Überbleibsel der Menschheit verspürt hätten. Hatte Jürgens die Freiheit wirklich erreicht? Nein, dachte er und fragte sich, ob dies auch Jürgens bewußt sei. Er spielte immer noch den Hirten für seine Menschen, tat es in ebendiesem Augenblick: Er wies seinem Menschen den Weg nach Chaos. Seit sie diese Welt betreten hatten, war Jürgens immer zur Stelle gewesen, immer bereit zu dienen und immer mit den Sorgen und Hoffnungen seiner Menschen beschäftigt. Aus irgendeinem Grunde jedoch hatte er zu diesen seinen Menschen kein volles Zutrauen gehabt. Nur ihm, Lansing, hatte er zumindest einen Teil seiner Geschichte erzählt. Er hatte ihm seine Welt beschrieben und von seinem Hobby, humanoide Puppen herzustellen, berichtet. (Puppen wie die Puppe Melissa?) Den anderen gegenüber hatte er nichts von seiner Vergangenheit erwähnt, und selbst als Mary ihn fragte, hatte er hartnäckig geschwiegen.
Sonderbar, dachte Lansing. Warum hatte der Roboter nur zu einem in der Gruppe Vertrauen gehabt? Gab es zwischen ihnen beiden eine Verbindung, die der Roboter sah, der Mensch aber nicht?
Vor ihm hatte Jürgens am Fuß einer kleinen Düne angehalten. Als Lansing ihn erreichte, wies der Roboter auf einen Gegenstand, der aus dem Sand herausragte. Es war eine Kuppel aus Glas oder durchsichtigem Plastik, die wie der Helm eines Raumanzuges aussah. Aus dieser Kuppel heraus blickte sie ein menschlicher Schädel an. Die Doppelreihe der Zähne zeigte ihr breites Grinsen. Einer der Zähne war aus Gold und glitzerte in der Sonne. An einer Stelle der Düne erhob sich ein abgerundetes Metallstück aus dem Sand, und etwas weiter unten entdeckten sie ein weiteres.
Jürgens kramte eine Schaufel aus seinem Packen und begann den Sand abzutragen. Lansing sah ihm schweigend bei der Arbeit zu.
»In einer Minute wissen wir Bescheid«, sagte Jürgens. Nach ein paar Minuten wußten sie Bescheid. Das sonderbare Metallgebilde hatte eine entfernt menschenähnliche Form. Es hatte einen Rumpf und zwei Arme, aber drei Beine statt zweien. Es war mehr als drei Meter groß, und im oberen Teil war ein Hohlraum ausgespart, so daß ein Mensch darin sitzen konnte. Die Knochen, die einmal das Skelett des Reiters gebildet hatten, lagen nun unregelmäßig verstreut in diesem Hohlraum, der Schädel war in der Kapsel gefangen. Jürgens, der neben dem Gebilde hockte, sah Lansing an. »Haben Sie eine Vermutung?« fragte er. Lansing schauderte. »Ich gebe die Frage an Sie zurück.« »Nun gut«, sagte der Roboter. »Vielleicht eine Gehmaschine.« »Eine Gehmaschine?«
»Möglich«, sagte Jürgens, »jedenfalls war das mein erster Gedanke.«
»Aber was ist eine Gehmaschine?«
»Die Menschen auf meiner Welt bauten ähnliche Maschinen. Das war, bevor sie zu den Sternen aufbrachen. Die Maschinen waren für den Gebrauch auf fremden Planeten bestimmt. Für eine feindselige Umgebung, nehme ich an. Ich habe allerdings niemals ein solches Gerät gesehen, ich habe nur davon gehört.« »Eine Maschine, mit der man sich auf einem lebensfeindlichen Planeten fortbewegen kann?«
»Genau. Sie wurde an das menschliche Nervensystem angeschlossen. Es war ein komplizierter Mechanismus, der genauso reagierte, wie der menschliche Körper reagieren würde. Der Mensch möchte gehen, also geht die Maschine. Das gleiche gilt für die Arme.«
»Jürgens, wenn das stimmt, haben wir hier vielleicht einen Ureinwohner dieser Welt vor uns. Von einer anderen Welt kann er nicht herübergebracht worden sein, jedenfalls nicht mit einer solchen Maschine am Leibe. Wir kamen in den Kleidern, die wir gerade trugen.« »Sie können es nicht völlig ausschließen«, entgegnete Jürgens. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Lansing. »Aber wenn er aus einer Alternativwelt stammt, dann müssen die Lebensbedingungen dort für die menschliche Rasse extrem ungünstig geworden sein, gefährliche Umweltverschmutzung.« »Eine Welt im Kriegszustand«, sagte Jürgens. »Voll gefährlicher Strahlen und Gase.«
»Ja, das könnte eine Erklärung sein. Was ich nicht verstehe: Warum hat er das Ding nicht ausgezogen, als er auf dieser Welt ankam? Die Luft hier ist nicht verseucht.«
»Vielleicht konnte er es nicht«, antwortete Jürgens. »Vielleicht war er biologisch so fest mit der Maschine verbunden, daß er sich nicht von ihr lösen konnte. Er war in ihr gefangen. Aber wahrscheinlich machte ihm das nichts aus; er war ja daran gewöhnt. Und eine solche Maschine kann auch von Vorteil sein, in einer Landschaft wie dieser mit Sicherheit.« »Ja«, sagte Lansing, »das könnte sie.« »Und dennoch ist er hier gescheitert«, erwiderte Jürgens. »Hier ist er, mit all seiner Arroganz, endgültig gescheitert.« Lansing sah den Roboter an. »Halten Sie alle Menschen für arrogant?« fragte er. »Ist Arroganz das Merkmal der menschlichen Rasse?«
»Nicht alle Menschen«, sagte Jürgens. »Aber Sie müssen verstehen, daß ich etwas verbittert bin. Zurückgelassen zu werden.«
»Das hat all die Jahre an Ihnen genagt?« »Genagt nicht«, sagte Jürgens.
Beide schwiegen eine Weile, dann begann der Roboter: »Sie sind nicht arrogant, Sie waren es niemals. Der Pastor war arrogant, desgleichen der General, sogar Sandra auf ihre sanfte Art.« »Ja, ich weiß«, sagte Lansing. »Ich hoffe, Sie können ihnen verzeihen.«
»Aber Sie und Mary«, fuhr Jürgens fort, »für Sie würde ich mein Leben geben.«
»Und dennoch haben Sie sich geweigert, Mary von Ihrem Leben zu erzählen.«
»Sie hätte mich bedauert«, sagte Jürgens. »Ich hätte ihr Mitleid nicht ertragen. Sie hingegen haben mich nicht bemitleidet.« »Das stimmt«, sagte Lansing, »ich habe Sie nicht bemitleidet.« »Edward, wir sollten das Thema jetzt fallenlassen. Wir müssen weiterziehen.«
»Gehen Sie voran, ich folge Ihnen«, sagte Lansing. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich habe Mary nur sehr ungern allein zurückgelassen. Ich muß mich zusammennehmen, um nicht auf der Stelle umzukehren.«
»Noch drei Tage, dann sind wir wieder bei ihr. Wir werden sie gesund und munter wiederfinden. Vier Tage ist das Äußerste, was wir uns als Frist setzen.«
Sie fanden kein Holz während ihres Marsches. Das Land war völlig kahl. In dieser Nacht mußten sie auf ein Lagerfeuer verzichten.
Die Nacht war schön, schön auf eine kalte, gläserne Weise. Nackter Sand und ein aufgehender Mond. Ungetrübt durch den weißen Glanz des Mondes strahlten die Sterne mit grausamer Intensität.
Lansing gab sich ganz der harten, klassischen Schönheit der Nacht hin. Irgendwann hörte er ein Geräusch, das wie fernes Heulen klang. Es erinnerte ihn an das Geheul des großen einsamen Tieres, das sie in der Stadt und später während der Nacht in den Badlands vernommen hatten. Das Geräusch war von Süden gekommen. Lansing lauschte intensiv, weil er sich nicht sicher war, aber er hörte nichts mehr. »Haben Sie auch etwas gehört?« fragte er Jürgens. Aber Jürgens verneinte.