125774.fb2 Poker um die Zukunft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

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Am nächsten Morgen weckte der Roboter Lansing noch vor Tagesanbruch. Der Mond hing tief über dem westlichen Horizont, im Osten verblaßten die Sterne.

»Essen Sie ein wenig«, sagte Jürgens. »Danach brechen wir auf.«

»Nein, jetzt nicht«, erwiderte Lansing. »Ich möchte nur einen Schluck Wasser. Ich werde unterwegs essen.« Zu Beginn war das Gehen einfach, aber gegen Mittag erreichten sie wieder ein Dünengebiet. Niedrige Sandhügel zunächst, doch je weiter sie nach Norden zogen, desto größer wurden die Dünen. Sie wanderten durch eine Welt aus gelbem Treibsand, die der blaßblaue Himmel wie eine Kuppel einschloß. Das Land vor ihnen stieg allmählich immer stärker an, bis es schien, als ob sie direkt in den blauen Himmel hineinwanderten. Am nördlichen Horizont erschien ein schmaler Streifen; das Blau des Himmels hatte dort einen etwas dunkleren Ton angenommen. Während sie sich ihren Weg durch den trügerischen Sand bahnten, stieg der Streifen immer weiter am Himmel empor. Das Dunkelblau an seiner Oberkante wurde weiter unten zu Schwarz.

Ein schwaches, undeutliches Murmeln erklang von Norden her. Je weiter sie sich nach Norden vorkämpften, desto lauter wurde das Geräusch.

Auf dem Gipfel einer hohen Düne hielt Jürgens an und wartete, daß Lansing zu ihm aufschloß. Lansing erreichte ihn, vom Anstieg völlig außer Atem.

»Das klingt wie Donnergrollen da vorn«, sagte Jürgens. »Vielleicht kommt ein Gewitter auf.«

»Die Farbe des Himmels stimmt«, erwiderte Lansing, »aber die Form ist sonderbar. Ich habe noch nie eine Gewitterwolke gesehen, die oben so gerade abschließt. Und normalerweise kann man auch die Luftbewegung erkennen, wo die Wolkenfronten aufeinanderprallen.«

»Eben glaubte ich einen Blitz gesehen zu haben«, sagte Jürgens. »Nicht den Strahl selbst, sondern nur ein kurzes Aufflammen. Wie eine Reflexion.«

»Wetterleuchten«, erklärte ihm Lansing. »Das sind sehr weit entfernte Blitze, die von Wolkenbänken reflektiert werden.« »Nun, bald werden wir ja wissen, worum es sich handelt«, sagte Jürgens. »Sind Sie bereit zum Weitermarschieren, oder sollen wir noch ein wenig rasten?«

»Gehen Sie nur. Ich sage Ihnen schon, wenn ich eine Pause brauche.«

Bis zum Nachmittag war die große schwarze Wolke schon weit über den Horizont heraufgestiegen. An manchen Stellen hatte sie einen dunklen Purpurton und war, alles in allem, eine furchteinflößende Erscheinung. Sie schien völlig unbeweglich am Himmel zu stehen. Dennoch glaubte Lansing eine fast nicht wahrnehmbare Abwärtsbewegung zu bemerken, so als ob irgendeine Substanz wie ein dünner Film an der Schwärze hinabliefe. Eine schreckliche Kraft schien der Wolke innezuwohnen wie die geballte Macht einer immerwährenden Gewitterdrohung, und doch waren keine äußeren Anzeichen der Gewalt wahrzunehmen. Nur hin und wieder zuckten gigantische Lichtblitze über das Antlitz aus Dunkelheit. Das Donnergrollen war jetzt laut und anhaltend. »Höchst ungewöhnlich«, sagte Jürgens. »Etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen.«

»Chaos?« fragte Lansing. Und während er die Frage aussprach, erinnerte er sich an das Chaos - oder vielmehr die Empfindung von Chaos (denn inzwischen bezweifelte er, daß er es wirklich gesehen hatte), die er für einen kurzen Augenblick gespürt hatte, als er auf dem Sternenberg hoch über dem Universum stand. Aber was er dort gefühlt hatte, dieses universelle Chaos, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was er vor sich sah, obschon er seine damalige Wahrnehmung nicht beschreiben konnte.

»Vielleicht«, sagte Jürgens. »Doch nun frage ich Sie: Was ist >Chaos<?«

Lansing gab keine Antwort.

Sie stiegen weiter, und nun war der Weg steiler als jemals zuvor. Sie schleppten sich eine Serie von immer höheren Dünen entlang. Vor ihnen krümmte sich der Horizont zu beiden Seiten nach außen, so daß es schien, als erstiegen sie nur eine einzige gigantische Düne, deren Kamm einen Halbkreis bildete und deren Seiten direkt auf die Schwärze am Himmel zielten. Am Spätnachmittag erreichten sie den Gipfel der Dünenkette, Lansing ließ sich erschöpft in den Sand fallen und lehnte sich an einen großen Stein. Ein Stein, fragte er sich. Hier, wo sie nichts angetroffen hatten, das größer als ein Sandkorn war? Er war verwirrt. Mühsam kämpfte er sich noch einmal auf die Beine. Aber der Stein war da, und nicht nur einer, sondern ein ganzer Haufen. Sie steckten unterhalb des Gipfels im Sand, so als ob jemand sie dort, vielleicht schon vor Urzeiten, sorgfältig plaziert hätte.

Jürgens stand auf dem Gipfel der Düne, die Beine gespreizt und die Krücke tief in den Sand gebohrt, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Denn vor ihm brach die Düne scharf ab und bildete einen ununterbrochenen Abhang, bis sie den Grund der mächtigen Wolke erreichte, die drohend vor ihnen aufragte. Bei genauerer Betrachtung stellte Lansing fest, daß die Wolke keine Wolke war, obwohl er nicht wußte, was es sonst hätte sein können. Es war eine massive Wand von äußerster Schwärze. Von dort, wo sie sich mit dem sandigen Abhang vereinigte, erhob sie sich weit in den Himmel hinauf, so hoch, daß Lansing den Kopf weit in den Nacken legen mußte, um ihre Oberkante sehen zu können.

Immer noch zuckten 'Lichtblitze von verheerender Stärke über ihre Oberfläche, die Donner krachten und grollten. Lansing erkannte, oder glaubte zu erkennen, daß die Wand ein monströser Damm war. Und über seine Kante ergoß sich etwas: ein gigantischer Wasserfall aus Schwärze, aber es war kein Wasser. Die schwarze Flut stürzte an der Wand entlang in die Tiefe, so dicht und ununterbrochen, daß Lansing ihr Fallen nicht eigentlich sah, sondern, auf gleichsam hypnotische Weise, ein Gefühl von Fallen empfand. Während er das Phänomen betrachtete, wurde ihm klar, daß der Lärm nicht nur von Donnergrollen herrührte: In das Donnern mischte sich das schreckliche Tosen des Falles, der sich über die Kante des Dammes ergoß, der Niagaraklang von etwas, das aus großer Höhe fällt, vom Unbekannten ins Unbekannte stürzt. Es schien Lansing, als lasse das Tosen den Boden unter seinen Füßen erbeben. Er wandte sich zu Jürgens um, aber dieser beachtete ihn nicht. Der Roboter stützte sich schwer auf seine Krücke und starrte wie hypnotisiert ins Schwarze, selbstvergessen und ganz der Beobachtung hingegeben.

Auch Lansing richtete seinen Blick wieder auf die schwarze Wand. Deutlicher als je zuvor hatte er das Gefühl, vor einem Damm zu stehen, doch Sekunden später war diese Gewißheit wieder verflogen. Erst hatte er das Gebilde für eine Wolke gehalten, jetzt erschien es ihm wie ein Damm, aber was mochte es wirklich sein?

Nur eine Gewißheit hatte er: Dies war nicht die Antwort, nach der sie suchten, nicht einmal ein kleiner Hinweis, der sich mit der Zeit in eine Antwort verwandeln würde. Genauso wie der Würfel, die Türen, die Apparatur in der Stadt und der singende Turm gab es keine Aufschlüsse. Vielleicht war es nicht völlig bedeutungslos, aber ihm, den anderen Menschen und Jürgens konnte es nichts vermitteln. Es entzog sich ihrer Intelligenz und ihrem Wahrnehmungsvermögen.

»Das Ende der Welt«, murmelte Jürgens, und seine Stimme hatte einen sonderbaren Beiklang.

»Das Ende dieser Welt?« sagte Lansing fragend. Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da bereute er ihn schon wieder, denn es war eine alberne Bemerkung.

»Vielleicht nicht nur von dieser Welt«, erwiderte Jürgens, »sondern von allen Welten. Das Ende aller Dinge. Dort versinkt das Universum, von der Schwärze verschlungen.« Der Roboter machte einen Schritt nach vorn. Er hob die Krücke und suchte nach einer Stelle, wo er sie sicher aufsetzen konnte.

Er fand keine sichere Stelle. Die Krücke rutschte ab und glitt aus seiner Hand. Das beschädigte Bein gab unter ihm nach, so daß er das Gleichgewicht verlor. Er fiel auf den Hang und überschlug sich ein paarmal im Sand. Der Rucksack löste sich von seinen Schultern und begann vor ihm den Hang hinabzugleiten. Seine Hände arbeiteten krampfhaft, wühlten sich in den Sand, suchten verzweifeit nach etwas, an dem sie sich halten konnten. Aber da war nichts, das einen Halt geboten hätte, da war nur Sand, gleitender Sand, neben ihm und unter ihm. Und zusammen mit dem Sand rutschte er in die Tiefe. Seine verkrampften Hände hinterließen eine lange Spur auf dem Abhang.

Lansing, der bei den Steinen gekauert hatte, war mit einem Satz auf den Beinen. Wenn er sich aufrecht halten könnte, überlegte er, wenn er seine Füße tief in den Sand unterhalb der rutschigen Oberfläche bohren könnte, hätte er vielleicht eine Chance, Jürgens zu erreichen und auf sicheres Gelände zu ziehen. Er tat einen Schritt den Hang hinab, aber sein suchender Fuß fand keinen festen Grund. Der Sand war wie Puder, man konnte weder in ihm stehen noch ihn durchwaten. Er versuchte sich zurückzustoßen, langte verzweifelt nach den Steinen auf dem Gipfel der Düne. Aber durch diese Bewegung rutschte er nur noch schneller; sein Fuß grub eine tiefe Furche in den Sand. Und schon befand sich sein ganzer Körper auf der gleitenden Sandfläche, und Lansing rutschte, langsam, aber unaufhaltsam. Doch nicht nur er selbst glitt, nein, mit ihm schien aller Sand seiner Umgebung langsam, aber unausweichlich dem Sog der Schwerkraft zu gehorchen.

Er spreizte die Arme und Beine, um eine größere Reibungsfläche zu bieten, und es schien ihm, als würde der Sturz dadurch ein wenig gebremst, aber das war schwer zu sagen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, dann mußte er einsehen, daß es keine Hoffnung für ihn gab, den Gipfel der Düne jemals wieder zu erreichen. Jede heftige Bewegung hätte zur Folge, daß der Sand nur noch schneller rutschte und ihn mit sich riß. Doch nun wurde die Gleitbewegung tatsächlich langsamer, und schließlich hörte sie ganz auf. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen im Sand und hatte Angst, sich zu rühren, um den Abhang nicht von neuem in Bewegung zu versetzen. Er hatte keine Ahnung, wo Jürgens sich befinden mochte. Als er den Kopf ein wenig hob, um nach dem Roboter Ausschau zu halten, fing der Sand sofort wieder an zu rutschen. Augenblicklich warf er den Kopf zurück und preßte ihn, so fest es ging, in die weiche, bodenlose Substanz.

Ewigkeiten vergingen. Der Boden schien immer noch vom Tosen des gigantischen schwarzen Wasserfalls zu dröhnen. Nach und nach erstickte der Lärm sein Wahrnehmungsvermögen: Er wußte kaum noch, wer er war und wo er sich befand. Von seinem Platz aus konnte er den Gipfel der Düne sehen. Er konnte nicht viel mehr als fünfzig Meter entfernt sein, schätzte er. Wenn er diese kurze Strecke doch nur hinaufkriechen könnte! Aber fünfzig Meter oder zehn, er wußte, es würde unmöglich sein.

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit völlig auf den unerreichbaren Gipfel, so als ob er sich ihm allein durch die Konzentration nähern könnte. Aber der Gipfel rührte sich nicht, seine Silhouette stand als unbewegliche, gelbe Linie vor dem Blau des Himmels.

Einen Augenblick lang wandte er die Augen ab, um an der scheinbar endlosen Sandfläche des Abhanges hinabzublicken. Und als er sie wieder auf den Gipfel der Düne richtete, stand dort etwas - vier Gestalten waren am Horizont aufgereiht und starrten ihn aus Gesichtern an, die gräßliche Karikaturen menschlicher Antlitze waren.

Nur langsam wurde Lansing klar, wer die vier waren. Es waren die vier Kartenspieler, die sich schon in den beiden Gasthäusern aufgehalten hatten, immer abgesondert von den anderen Gästen. Dort standen sie nun und starrten ihn an. Was wollten die hier? Was mochte sie hergeführt haben? Gab es hier etwas, das sie interessieren konnte? Einen Moment lang dachte er daran, sie um Hilfe zu bitten. Doch gleich darauf gab er den Gedanken wieder auf. Sie würden ihn doch nur ignorieren, und das könnte er nicht ertragen. Er fragte sich, ob die vier tatsächlich dort oben standen. Vielleicht spielte ihm seine Phantasie nur einen Streich. Er schloß die Augen, dann öffnete er sie wieder; die vier waren immer noch da. Lansing sah, daß einer von ihnen etwas in der Hand hielt. Er bemühte sich, den Gegenstand zu erkennen, aber es war ihm unmöglich. Dann hob dieser Kartenspieler den Arm über den Kopf und ließ den Gegenstand durch die Luft wirbeln. In diesem Augenblick erkannte Lansing, was es war: eine Seilrolle. Die Kartenspieler warfen ihm ein Seil zu!

Das Seil flog auf ihn zu, in der Luft wickelte es sich ab. Lansing wußte, daß er nur eine Chance haben würde. Er mußte das Seil beim ersten Versuch erreichen. Denn durch die Bewegung seines Körpers würde der Sand wieder zu rutschen beginnen, und in der Zeit, die man brauchte, um das Seil einzuholen, aufzuwickeln und von neuem zu werfen, würde er sich schon außerhalb seiner Reichweite befinden.

Einen Moment lang hing das Seil in der Luft, es schien sich kaum zu bewegen. Dann war es über ihm, ein perfekter Wurf. Mit einem verzweifelten Satz schoß Lansing vor und erwischte es mit einer Hand. Er drehte seinen Körper in die richtige Lage, um es auch mit der zweiten Hand ergreifen zu können. Während er dies tat, rutschte er weiter den Abhang hinunter. Er glitt sehr schnell. Aber dann hatte er auch schon die zweite Hand am Seil. Ein furchtbarer Stoß durchlief Lansings Körper, als seine Abwärtsfahrt plötzlich gebremst wurde; das Seil hatte sich bis zur vollen Länge abgewickelt. Und nun begann er, sich langsam an dem Strick emporzuziehen. Hand über Hand hangelte er sich in die Höhe. Er hielt den Körper flach über dem Boden, um jedes Risiko zu vermeiden. Irgendwann legte er eine Atempause ein. Er blickte zum Rand des Abhangs hinauf, der Horizont war leer. Die vier Kartenspieler waren verschwunden. Wer hielt dann das Seil? fragte er sich. Lansing hatte eine plötzliche Vision, daß sich das andere Ende des Seiles lösen und er hinab in die Tiefe rasen würde. Vor Angst drehte sich ihm fast der Magen um. Wie ein Wahnsinniger setzte er seine Klettertour fort, sein Atem rasselte, und sein Puls hämmerte wild. Aber darauf achtete er nicht. Er hatte nur einen Gedanken: Er mußte den Gipfel der Düne erreichen, bevor sich das Seil löste. Als er spürte, wie sein Körper über die Kante glitt, gönnte er sich die erste Pause.

Lansing rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Aber er ließ das Seil nicht los, ehe er sich sicher auf der anderen Seite der Düne wußte. Erst da lockerte er seinen Griff. Er bemerkte, daß der Strick um einen der Steine geschlungen war, die ihn auf dem Hinweg in solches Staunen versetzt hatten, als Jürgens und er den Gipfel erklommen hatten.

Jürgens! dachte er. Jürgens, o Gott. Während der letzten Minuten (waren es wirklich nur Minuten gewesen oder Stunden?) waren alle Gedanken an Jürgens wie weggewischt gewesen. Auf Händen und Knien kroch er zum Gipfel zurück und blickte den langen glatten Abhang hinab. Die Spur, die er hinterlassen hatte, war von dem langsam und ständig rieselnden Sand schon fast zugedeckt. In ein paar Minuten würde es keinen Hinweis auf seinen Absturz mehr geben.

Jürgens' Spur war vollkommen verschwunden. Es ließ sich nicht mehr feststellen, an welcher Stelle er den Abhang hinabgeglitten war. Der Roboter war verschwunden, fort für immer, das war Lansing klar. Fort ins Unbekannte, das ihn an der Grenze zwischen Sand und Schwärze erwartet hatte. Lansing erinnerte sich, daß Jürgens nicht um Hilfe geschrien hatte. Er war seinem Schicksal, wie auch immer es aussehen mochte, still entgegengeeilt. Lansing wußte, der Roboter hatte mit Rücksicht auf ihn so gehandelt. Er wollte ihn, den Menschen Lansing, nicht in den Unfall verstricken.

War es ein Unfall gewesen, fragte er sich. Ihm fiel nun wieder ein, wie gebannt und hingebungsvoll Jürgens vor der schrecklichen, donnernden Finsternis gestanden hatte - genauso wie Sandra vor dem singenden Turm. Und dann entsann er sich auch, daß Jürgens den ersten Schritt getan hatte, obwohl er wissen mußte, daß er die äußerste Grenze des sicheren Bodens erreicht hatte. Dennoch hatte er einen Schritt nach vorn gemacht, nur um der faszinierenden Schwärze etwas näher zu sein.

War Jürgens genauso wie Sandra irgendeinem Zauber erlegen? Hatte der Vorhang aus Finsternis eine Saite seines Wesens zum Schwingen gebracht? Hatte er diesen ersten Schritt mit Absicht getan, zwar nicht in der Absicht, den Hang hinabzugleiten, aber doch einem unbewußten, alles umfassenden inneren Drang gehorchend!

Lansing schüttelte den Kopf. Er würde es niemals erfahren. Aber wenn seine Überlegungen richtig waren, dann hatte der Roboter Jürgens zuletzt doch eigenständig gehandelt, hatte sein eigenes Schicksal in die Hand genommen und nicht das der ihm anvertrauten Menschen. Er hatte so gehandelt, wie er es wollte, und nicht, wie die Loyalität den Menschen gegenüber es ihm diktierte. Zu guter Letzt hatte Jürgens also doch die Freiheit erlangt, nach der er sich immer gesehnt hatte. Langsam stand Lansing auf. Er löste das Seil von dem Stein und begann es sorgfältig aufzuwickeln. Es gab keinen Grund, es aufzurollen; er hätte es dort liegen lassen können, wo es war. Aber das Wickeln war wenigstens eine Beschäftigung. Nachdem er damit fertig war, legte er das Seil auf den Boden und schaute sich nach allen Seiten um, ob nicht irgendwo die Kartenspieler auszumachen wären. Aber sie waren nirgends zu sehen. Es gab auch kein Anzeichen dafür, daß sie sich jemals in dieser Gegend aufgehalten hatten. Lansing beschloß, sich über die vier nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Dazu würde er später noch Zeit genug haben. Jetzt mußte er seine Aufgabe zu Ende bringen, und zwar schnell.

Er mußte zum singenden Turm zurückkehren, wo Mary noch immer bei der entrückten Sandra Wache hielt.

26

Lansing eilte nach Süden, mehr stolpernd als gehend. Er folgte der Spur, die er und Jürgens auf dem Hinweg hinterlassen hatten. An vielen Stellen war sie schon vom Treibsand verdeckt, aber er war doch immer wieder in der Lage, sie ein paar Meter weiter wieder aufzunehmen. Und immer noch hörte er das Donnergrollen im Rücken, den allmählich schwächer werdenden Klang von Chaos. Was war dieses Chaos, fragte er sich, während er sich durch den Sand quälte. Nicht, daß es jetzt noch von Bedeutung gewesen wäre. Nichts war mehr wichtig, nur noch die Rückkehr zu Mary.

Die Nacht brach herein, und der Mond ging auf, ein riesiger bleicher Ball, der von Osten herüberschwamm. Die ersten Sterne begannen zu funkeln. Aber Lansing stapfte verbissen weiter. Eigentlich hätte das Gehen ihm jetzt leichter fallen müssen als am Vormittag, denn schließlich führte der Weg nun bergab. Es kam ihm jedoch eher mühseliger vor.

Schließlich brach er zusammen, fiel in den Sand, unfähig, sich wieder zu erheben und weiterzugehen. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken und suchte nach seiner Feldflasche. Mitten in der Bewegung wurde er vom Schlaf übermannt.

Ein Sonnenstrahl weckte ihn. Einen Moment lang wußte Lansing nicht, wo er sich befand. Er richtete sich auf den Ellbogen auf, um sich zu orientieren, aber es gab weit und breit nichts zu sehen als den im Sonnenlicht blendend weißen Sand. Während er sich die Augen rieb, fiel ihm ein, wo er war und daß er weiterziehen mußte.

Schwankend erhob er sich und schüttelte seine Glieder. Noch halb benommen vom Schlaf zog er die Wasserflasche zu sich heran und trank von der abgestandenen Flüssigkeit. Während er die Flasche verschloß, machte er schon die ersten Schritte, folgte wieder seiner eigenen Spur. Er fischte sich Nahrung aus dem Rucksack und stopfte sich das erstbeste, auf das seine suchenden Finger stießen, in den Mund. Nichts durfte ihn jetzt mehr auf seinem Weg nach Süden aufhalten. Seine Beine, noch steif vom Schlafen, wehrten sich schmerzhaft gegen die Bewegung. Aber er trieb sie weiter voran, und allmählich wurden sie wieder zu brauchbaren Werkzeugen. Seine Kehle verlangte nach Wasser, aber Lansing trank nicht. Es war nur noch wenig Wasser in der Feldflasche, das er sich einteilen wollte. (Stunden später fiel ihm ein, daß noch eine zweite, volle Flasche im Rucksack steckte.) Der Sand vor ihm flimmerte und vibrierte im Sonnenglast. Lansing machte sich Vorwürfe, daß er zu lange geschlafen und dadurch wertvolle Zeit verloren hatte. Dieser Gedanke trieb ihn weiter.

Hin und wieder dachte er an Jürgens, aber nicht allzuoft oder sehr lange. Auch das konnte er auf später verschieben. Er versuchte sich ganz auf den Gedanken an Mary zu konzentrieren, wie sie beim singenden Turm auf ihn wartete. Aber sogar der Gedanke an Mary entglitt ihm von Zeit zu Zeit, dann fiel er in ein Vakuum und wußte nur noch eines: Er mußte zum singenden Turm.

Lansing erreichte das Ende der Dünenregion. Der Boden war immer noch sandig; so konnte er seine Spur weiter zurückverfolgen, obwohl sie inzwischen schwächer geworden war. Die Sonne erreichte den Zenit und wandte sich nach Westen. Er versuchte, ein schnelleres Tempo anzuschlagen, weil das Gelände nun ebener und angenehmer war, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Mehr als ein gleichmäßiges Marschieren konnte er ihnen nicht abverlangen. Sein Verstand sagte ihm, daß er nach drei Tagen ununterbrochenen Wanderns nicht mehr erwarten konnte. Dennoch war er wütend auf sich, weil er nicht schneller vorankam.

Die Sonne ging unter, im Osten begannen die ersten Sterne zu funkeln, und der Himmel erhellte sich, als der Mond aufging. Lansing zwang sich zum Weitergehen. Wenn er durchhalten würde, wenn er es schaffte, die ganze Nacht hindurch zu marschieren, dann konnte er den singenden Turm bei Tagesanbruch erreichen.

Aber sein Körper ließ ihn im Stich. Irgendwann wurden seine Beine so schwer, daß er eine Pause einlegen mußte. Er schleppte sich zur Lee-Seite einer kleinen Düne, um vor dem Wind geschützt zu sein, dann streifte er seinen Rucksack von den Schultern. Seine Hand stieß auf die zweite Wasserflasche, und er trank so viel, wie sein Körper brauchte, achtete aber darauf, nicht zu schnell zu trinken. Er fand ein paar trockene Wurstscheiben und etwas glasigen Käse und schlang sie gierig hinunter.

Er würde nur ein Weilchen hier sitzen bleiben und sich ausruhen, nahm Lansing sich vor. In einer Stunde etwa würde er weiterziehen. Aber er nickte ein. Als er aufwachte, verblaßten die Sterne schon im ersten Tageslicht.

Über die eigene Schwäche fluchend, rappelte er sich hoch, schulterte den Rucksack und setzte seinen Weg in Richtung Süden fort. Er hatte Mary versprochen, nicht länger als vier Tage fortzubleiben, dieses Versprechen würde er auch halten. Am Horizont erschien ein Dünenfeld, damit war die angenehme Wegstrecke zu Ende. Das Gelände bis dorthin wollte Lansing so schnell wie möglich überwinden, denn er wußte, die Dünen würden ihn viel Zeit kosten.

Warum war er nur so verbissen, fragte er sich. So eilig hatte er es doch gar nicht. Mary ging es gut. Sie wartete auf ihn, und es ging ihr gut. Aber sooft er diesen Gedanken auch wiederholte, er verschaffte ihm keine Beruhigung.