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Er legte das vordere Ende der zweiten Platte frei, stellte sich darauf und befreite sie dann vollständig vom Sand. Vorgebeugt wischte er weiter, ein dritter Stein kam zum Vorschein.
»Trittsteine«, sagte Mary, »direkt zum Würfel.«
»Wenn wir ihn erreicht haben, was wird dann geschehen?«
»Das werden wir sehen, wenn es soweit ist.«
»Und wenn nichts passiert?«
»Dann haben wir wenigstens alles versucht«, erwiderte sie. »Ein Stein noch«, sagte er und fragte sich, ob der Stein dasein würde. Es würde zu den Witzbolden passen, die dieses ganze Unternehmen arrangiert hatten, daß sie einen Gehweg anlegen, aber den letzten, entscheidenden Stein weglassen würden. Er beugte sich vor und wischte. Ein weiterer Stein erschien. Mary stellte sich neben ihn. Zusammen standen sie nun vor der graublauen Wand des Würfels. Lansing ließ seine Handfläche über die Wand gleiten.
»Nichts«, sagte er. »Die ganze Zeit über hatte ich mir vorgestellt, dort könnte eine Tür sein. Aber hier ist keine. Man müßte sonst wenigstens einen haarfeinen Spalt sehen. Aber hier ist nur die Wandfläche, sonst nichts.« »Stoß dagegen«, sagte Mary.
Er tat es, und eine Tür öffnete sich. Schnell schlüpften sie hindurch. Mit einem Zischen schloß sich die Tür hinter ihnen.
30
Sie standen in einem riesigen Raum, der durch blaues Licht erhellt wurde. Gobelins hingen an den Wänden, und zwischen den Gobelins waren Fenster - die Teile der Wände, die nicht von den Gobelins verhüllt waren. Überall im Raum verstreut befanden sich Gruppen von Sitzmöbeln. In einem gepolsterten Korb nahe bei der Tür lag zusammengerollt ein Tier und schlief. Es ähnelte einer Katze, war aber keine Katze. »Edward«, flüsterte Mary atemlos, »durch die Fenster kann man die Welt sehen, die wir gerade verlassen haben. Hier könnten sich Leute aufgehalten und uns beobachtet haben. Und beim erstenmal, als wir hier waren, auch schon.«
»Verspiegeltes Glas«, sagte Lansing. »Ein Besucher kann nicht hineinsehen, kann aber von drinnen gesehen werden.« »Es ist kein Glas«, sagte sie. »Natürlich nicht, aber das Prinzip ist das gleiche.«
»Sie haben hier gesessen und sich über uns amüsiert, als wir einzudringen versuchten«, sagte Mary.
Der Raum schien unbewohnt. Doch dann entdeckte Lansing auf einem breiten Sofa am hinteren Ende des Raumes die vier Kartenspieler. Sie saßen, warteten und starrten die Neuankömmlinge mit ihren weißen Totengesichtern an. Lansing stieß Mary an und wies auf die Spieler. Als Mary sie sah, zuckte sie zurück.
»Sie sind gräßlich«, sagte sie. »Können wir ihnen denn niemals entkommen?«
»Sie haben so eine Art, immer wieder aufzutauchen«, erwiderte er.
Lansing bemerkte mit einemmal, daß die Gobelins keine normalen Gobelins waren. Sie bewegten sich - oder vielmehr die Szenen, mit denen sie bestickt waren, bewegten sich. Ein Bächlein glitzerte in der Sonne. Es bahnte sich seinen Weg durch Kies und Steine, und die kleinen Wellen und Strudel, die sich dabei auf seiner Oberfläche bildeten, waren wirkliche Wellen und Strudel und keine illusionistische Darstellung. Die Zweige der Bäume, die den Bach säumten, bewegten sich im Wind. Vögel flogen zwischen ihnen hin und her. Ein Kaninchen hockte mummelnd in einem Kleefeld; dann hoppelte es weiter und setzte seine Mahlzeit an einer anderen Stelle fort. Auf einem anderen Gobelin sah man junge Mädchen in zarten Gazeschleiern, die fröhlich auf einer Waldlichtung tanzten. Ein Faun blies Flöte dazu und tanzte beim Musizieren. Sein Tanz war wilder, aber weniger anmutig als der der Mädchen. Im Rhythmus der Musik stampfte er mit seinen gespaltenen Hufen auf den Grasboden. Die Bäume am Rand der Lichtung waren keine gewöhnlichen Bäume, sondern groß und bizarr geformt. Sie bewegten ihre Zweige zum Flötenspiel des Fauns, als ob sie sich an dem Tanz beteiligen wollten.
»Wir könnten hinübergehen und sehen, was die vier von uns wollen«, schlug Mary vor.
»Falls sie überhaupt mit uns reden«, sagte Lansing. »Vielleicht bleiben sie auch stumm sitzen und starren uns weiter an.« Sie begannen den Raum zu durchqueren. Der Weg erschien ihnen unerträglich lang, denn die ganze Zeit über beobachteten sie die Kartenspieler mit unbewegten Mienen. Sie verkörperten die Sorte Menschen, falls sie Menschen waren, denen es unmöglich ist, die Lippen zu einem Lächeln zu verziehen, unmöglich ist, menschlich zu sein.
Die vier saßen reglos nebeneinander auf der Couch, die Hände auf die Knie gelegt, und ihre Gesichter waren so ausdruckslos, daß man nicht hätte entscheiden können, ob sie überhaupt etwas wahrnahmen.
Die vier waren sich so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Es war Lansing unmöglich, sie als vier Einzelindividuen zu betrachten. Er sah sie als Vierer-Einheit. Er wußte nicht, wie sie hießen, niemals hatte jemand ihre Namen erwähnt. Er fragte sich, ob sie überhaupt Namen besaßen. Um sie voneinander unterscheiden zu können, verlieh er ihnen eine künstliche Identität, versah sie sozusagen mit geistigen Etiketten. Von links nach rechts, der Reihe nach, bezeichnete er sie als A, B, C und D. Energisch durchquerten Mary und Lansing den Raum. Zwei Meter vor den Spielern hielten sie an. Abwartend blieben sie stehen. Die Kartenspieler sahen durch sie hindurch, als ob sie Luft wären.
So wahr ich hier stehe, dachte Lansing, ich werde nicht als erster sprechen. Ich werde hier so lange stehenbleiben, bis sie den Mund aufmachen.
Er legte den Arm um Marys Schulter und zog sie zu sich heran. Dicht aneinandergeschmiegt standen die beiden Menschen vor den stummen Spielern und blickten sie unverwandt an. Schließlich begann A zu sprechen. Er öffnete seine Mundöffnung nur wenig, so als koste es ihn Mühe, die Worte zu formen. »So«, sagte er »Sie haben also das Problem gelöst.« »Sie versetzen uns in Erstaunen«, erwiderte Mary. »Uns war nicht bewußt, daß es ein Problem zu lösen gilt.« »Vielleicht hätten wir es eher gelöst«, sagte Lansing, »wenn wir das Problem gekannt hätten. Oder wenn wir gewußt hätten, daß es ein Problem gibt. Da wir es geschafft haben, was soll nun weiter geschehen? Können wir wieder nach Hause gehen?« »Keiner löst es beim erstenmal«, sagte B. »Alle müssen noch einmal zurückkommen.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Lansing. »Was geschieht jetzt? Können wir wieder nach Hause?« »Aber nein«, erwiderte D. »Sie werden nicht nach Hause zurückgehen, das können wir nicht zulassen.«
»Sie müssen sich vergegenwärtigen«, begann C, »daß wir nur sehr wenige von Ihrer Art bekommen. Aus manchen Gruppen einen, ganz selten zwei wie in Ihrem Fall. Bei den meisten Gruppen gehen wir völlig leer aus.« »Sie schwirren in alle Himmelsrichtungen davon«, sagte A, »suchen ihr Heil in der Apfelblütenwelt. Oder der Übersetzer schlägt sie in ihren Bann oder.«
»Der Übersetzer?« fragte Mary. »Meinen Sie damit die singende Maschine?«
»Das ist nur der Name, den wir ihr gegeben haben«, sagte B. »Vielleicht fällt Ihnen ja ein besserer ein.«
»Ich werde mir nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken«, entgegnete Mary.
»Und Chaos«, sagte Lansing. »Da werden sicher eine Menge aufgerieben. Trotzdem haben Sie mir ein Seil zugeworfen.« »Wir haben Ihnen das Seil zugeworfen, weil Sie versucht haben, den Roboter zu retten«, sagte A. »Sie haben ohne Zaudern Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um den Roboter zu retten.« »Ich glaube, er war es wert, gerettet zu werden. Er war mein Freund.«
»Vielleicht wäre er es wert gewesen«, sagte A. »Aber er hatte ein schwaches Urteilsvermögen. Für solche Leute haben wir keinen Platz hier.«
»Worauf, zum Teufel, wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte Lansing wütend. »Mir gefällt die Art nicht, wie Sie hier sitzen und Gericht halten. Mir gefällt überhaupt nichts an Ihnen. Ich habe Sie, ehrlich gesagt, noch nie gemocht.« »So kommen wir nicht weiter«, sagte D. »Ich gestehe Ihnen eine gewisse Animosität uns gegenüber zu, kleinliches Gezänk jedoch kann ich nicht erlauben. Das hält uns nur davon ab, miteinander zu reden.«
»Noch etwas«, sagte Lansing. »Falls die Unterhaltung sich in die Länge ziehen sollte, fänden wir es nicht gut, vor Ihnen stehen zu müssen wie Bittsteller vor einem Thron. Sie könnten wenigstens soviel Anstand besitzen, uns einen Platz anzubieten.« »Um Gottes willen, setzen Sie sich nur«, sagte A. »Holen Sie sich zwei Sessel herüber, und machen Sie es sich bequem.«
Lansing ging zu einer Seite des Raumes und kam mit zwei Stühlen zurück. Die beiden setzten sich.
Das Wesen, das in dem Korb geschlafen hatte, kam quer durch den Raum auf sie zu. Es schnüffelte beim Näherkommen. Dann rieb es sich zärtlich an Marys Beinen und legte sich auf ihre Füße. Es starrte sie mit Augen an, die vor Freundlichkeit überflossen.
»Ist das eventuell der Schnüffler?« fragte sie. »Er hat immer unser Lager untersucht, aber es ist uns niemals gelungen, einen Blick auf ihn zu werfen.«
»Ja, das ist Ihr Schnüffler«, antwortete C. »Es gibt zahlreiche Schnüffler, aber dieser hier war Ihnen zugeteilt.«
»Der Schnüffler hat uns beobachtet?«
»Das hat er getan.«
»Und Bericht erstattet?«
»Natürlich«, sagte C.
»Sie haben uns also die ganze Zeit über beobachtet«, stellte Lansing fest. »Sie haben keine Minute verpaßt. Sie waren über alles, was wir unternommen haben, informiert. Sie haben uns studiert wie ein offenes Buch. Hätten Sie vielleicht die Güte, uns zu erklären, was das alles zu bedeuten hat?« »Gern«, sagte A. »Sie haben ein Recht, es zu erfahren. Dadurch, daß Sie hierhergekommen sind, haben Sie sich diese Berechtigung verdient.«
»Wenn Sie zuhören wollen«, sagte B, »werden wir versuchen, es Ihnen zu erklären.«
»Wir lauschen«, sagte Mary.
»Sie kennen selbstverständlich die Vielzahl der Welten; Welten, die sich an Krisenpunkten von anderen Welten abgespalten haben. Und ich setze voraus, daß Sie mit der Evolutionstheorie vertraut sind.«
»Wir kennen die Evolution«, sagte Mary. »Es ist ein Selektionsprozeß, der nur die Stärksten überleben läßt.« »Genau. Und wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie feststellen, daß auch die Bildung von alternativen Welten ein Evolutionsprozeß ist.«
»Sie meinen, für die Selektion besserer Welten? Haben Sie keine Probleme mit der Definition einer besseren Welt?« »Ja, natürlich haben wir die. Und aus diesem Grunde sind Sie hier, aus diesem Grunde haben wir auch die vielen anderen hergebracht. Die Evolution als solche funktioniert nicht. Sie basiert auf dem Prinzip, überlegene Lebensformen zu entwickeln. Aber in vielen Fällen sind die Überlebensfaktoren, die zur Dominanz einer Lebensform führen, in sich selbst fehlerhaft. Alle haben Mängel, viele tragen in sich den Keim zur Selbstzerstörung.«
»Das ist wahr«, gab Lansing zu. »Auf meiner eigenen Welt hatten wir einen Mechanismus entwickelt, der uns zum kollektiven Selbstmord befähigte.«
»Die menschliche Rasse mit all ihrer Intelligenz«, sagte B, »ist als Lebensform zu wertvoll, um ihr zu erlauben, sich selbst zu verschenken, oder, wie Sie es ausgedrückt haben, kollektiven Selbstmord zu begehen. Natürlich wird auch sie einen Nachfolger haben, falls sie irgendwann einmal verlöschen sollte. Eine Lebensform mit einem Überlebensfaktor, größer und umfassender als Intelligenz, wird dann das Erbe der Menschheit antreten. Wie dieser Überlebensfaktor aussehen könnte, wissen wir nicht. Er müßte nicht notwendig etwas Höheres sein als Intelligenz. Das Problem liegt bei der menschlichen Rasse darin begründet, daß sie ihrer Intelligenz niemals die Gelegenheit gegeben hat, sich bis zur vollen Größe zu entwickeln.« »Und Sie glauben Sie hätten einen Weg gefunden, wie sich dieses Intelligenzpotential voll entwickeln könnte?« fragte Mary.
»Wir hoffen es«, sagte D.
»Sie haben die Welt gesehen, auf der Sie sich zur Zeit befinden«, sagte A. »Sie hatten anhand einiger Werke ihrer früheren Bewohner die Möglichkeit Vermutungen anzustellen, in welche Richtung sich ihre Technologie entwickelt haben mochte.« »Wir haben die Türen gesehen«, sagte Lansing, »die zu anderen Welten führten. Das Konzept scheint mir besser zu sein als das der Weltensucher in meiner Heimat. Auf meiner Welt träumten die Menschen von Sternenschiffen. Es war nur ein Traum, denn wahrscheinlich ist es unmöglich Sternenschiffe zu bauen. Doch da fällt mir ein, was Jürgens erzählte. Seine Welt sei leer gewesen, weil die Menschheit zu anderen Sternen aufgebrochen war.«
»Wissen Sie, ob sie jemals angekommen ist?« fragte C. »Ich vermute es, aber ich weiß es nicht«, erwiderte Lansing. »Und dann haben wir noch diese Apparatur gesehen, die Sie Übersetzer genannt haben«, sagte Mary. »Eine weitere Möglichkeit zu reisen - zu reisen und zu lernen. Ich vermute, man konnte das Gerät benutzen, um den gesamten Kosmos zu studieren. Die Menschen gelangten auf diese Weise zu Ideen und Konzepten, die sie sich niemals erträumt hätten. Edward und ich gerieten nur in den äußeren Wirkungsbereich der Maschine, aber der General lief mitten hinein und verschwand. Können Sie uns sagen, wohin er geraten ist?« »Das können wir Ihnen nicht sagen«, erwiderte A. »Aber der Übersetzer kann gefährlich sein, wenn man ihn unsachgemäß benutzt.«