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Der General machte sich nun daran, alle Anwesenden einander vorzustellen. »Ich bin Brigadegeneral Everett Darnley«, sagte er, »vom Abschnitt sieben. Der Mann an meiner Seite ist Pastor Ezra Hatfield, und die Dame am Tisch ist Dichterin und heißt Sandra Carver. Neben Mr. Lansing steht der Roboter Jürgens. So, und jetzt, wo wir uns bekannt gemacht haben, sollten wir unsere Plätze einnehmen und uns an den ausgezeichneten Getränken laben, die man für uns bereitgestellt hat. Wir drei Menschen haben sie bereits ausprobiert und können uns für ihre Qualität verbürgen.«
Lansing ging um den Tisch herum und ließ sich neben Mary Owen nieder. Er bemerkte, daß der Tisch aus massivem Eichenholz und mit bäuerlich schlichten Schnitzereien verziert war. Drei flackernde Kerzen standen auf der Platte, ein Tablett mit kleinen Krügen und drei Flaschen. Plötzlich entdeckte Lansing, daß noch weitere Menschen im Gastraum saßen: Es waren vier Männer, die in einer Ecke mit einem Kartenspiel beschäftigt waren.
Der General stellte zwei Krüglein vor Mary und Lansing auf und schenkte aus einer Flasche ein.
»Ich kann nur hoffen«, sagte er dabei, »daß sich das Abendessen als so bekömmlich wie dieses Getränk erweist.« Lansing nahm einen Schluck. Es war ein milder Schnaps, der wohltuend warm durch die Kehle rann. Der Professor trank ein zweites Mal.
»Bevor Sie beide kamen«, sagte der General, an Mary und Lansing gewandt, »haben wir hiergesessen und uns gefragt, ob Sie vielleicht wüßten, was hier eigentlich vor sich geht. Aber nach dem, was Sie gesagt haben, Miss Owen, schließe ich, daß Sie es auch nicht wissen. Wie ist es mit Ihnen, Mr. Lansing?« »Keine blasse Ahnung«, erwiderte Lansing. »Unser Wirt beteuert ebenfalls, nichts zu wissen«, sagte der Pastor. » Er versichert, daß er sich nur um sein Lokal kümmert und keine Fragen stellt. Er wisse gar nicht, wen er fragen solle, behauptet er. Ich würde sagen, der Mann lügt.«
»Sie sind zu schnell mit Ihrem Urteil bei der Hand«, warf Sandra Carver, die Dichterin, ein. »Er hat ein offenes, ehrliches Gesicht, finde ich.« »Er sieht aus wie ein Schwein«, erklärte der Pastor. »Und er beherbergt die Sünde unter seinem Dach. Diese Männer dort mit ihrem Kartenspiel.«
»Sie haben mit mir zusammen einen Schnaps nach dem anderen getrunken«, knurrte der General.
»Trinken ist nicht Sündigen«, entgegnete der Pastor. »Die Bibel sagt, ein kleiner Schluck Wein ist gut für den Magen.« »Mein Liebster!« unterbrach ihn der General. »Was wir hier trinken, ist aber kein Wein.«
»Vielleicht sollten wir alle ein wenig ruhiger werden«, schlug Mary vor. »Dann sollten wir einmal vergleichen, was jeder von uns über die Lage weiß. Möglicherweise können wir so etwas herausbekommen. Wer sind wir, wie sind wir hierhergekommen, was denken wir über unsere Situation?« »Das ist der erste vernünftige Vorschlag, den ich heute abend höre«, stellte der Pastor fest. »Hat jemand einen Einwand dagegen, zu sagen, wer er ist?«
»Ich habe nichts dagegen«, murmelte Sandra Carver. Sie sprach so leise, daß die anderen genau auf ihre Worte achtgeben mußten. »Ich bin Diplompoetin am altantiken Athenäum und beherrsche vierzehn Sprachen. Ich schreibe oder singe aber nur in einer: in Frühgallisch, der ausdrucksvollsten Sprache der Welt. Wie ich hierhergelangt bin, begreife ich nicht. Ich habe ein Konzert besucht, ich wollte mir ein Orchester aus dem Land jenseits des Westmeeres anhören. Noch nie im Leben habe ich etwas vergleichbar kraftvoll Schöpferisches gehört. Mir war, als würde ich aus meinem Körper herausgehoben, als würde mein Geist an einen anderen Ort getragen. Nachdem ich wieder in meine leibliche Hülle zurückgekehrt war, fanden sich Körper und wandernder Geist plötzlich in einer pastoralen Landschaft von erstaunlicher Schönheit wieder. Ich entdeckte einen Pfad, ich bin ihm gefolgt, und.«
»Wann war das?« fragte der Pastor. »In welchem Jahr?« »Bitte? Ich verstehe Sie nicht.«
»Das Jahr? In welcher Zeiteinheit?«
»Im achtunddreißigsten Jahr der Dritten Renaissance.«
»Ach nein, das meine ich nicht. Ich rede vom Anno Domini, dem Jahr des Herrn.«
»Ja, natürlich, Jesus Christus.«
»Welchen Herrn meinen Sie? Ich kenne so viele Herren.« »Im wievielten Jahr seit Jesus geboren wurde?« »Jesus?«
»Diesen Namen habe ich noch nie gehört, mein Herr.« Der Pastor war offensichtlich einem Herzanfall nahe. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er riß sich den Kragen auf und rang vergeblich nach Worten.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe«, stammelte die Poetin. »Es geschah nicht mit Absicht; ich konnte ja nicht wissen.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, meine Liebe«, sagte der General beruhigend. »Unser Herr Pastor erleidet gerade einen Kulturschock. Über kurz oder lang mag es auch anderen unter uns so ergehen. Ich beginne etwas von der Situation zu erahnen, in der wir uns befinden. Was mir durch den Kopf geht, halte ich für unglaublich, aber vielleicht werden wir uns damit abfinden müssen, daß es doch nicht absolut unmöglich ist.« »Sie wollen darauf hinaus«, erklärte Lansing, »daß wir alle aus unterschiedlichen Kulturen, womöglich sogar aus unterschiedlichen Welten kommen. Was die Welten betrifft, da bin ich mir noch nicht sicher.« Es überraschte ihn, sich selbst so sprechen zu hören. Er mußte an Andy Spaulding denken, der noch vor wenigen Stunden wilde Phantasien über alternative Welten entwickelt hatte. Lansing hatte dem Geplapper kaum zuhören können.
»Aber wir sprechen alle Englisch«, sagte Mary Owen unvermittelt. »Zumindest beherrschen wir alle diese Sprache. Wie viele Sprachen haben Sie gelernt, Sandra?« »Vierzehn«, antwortete die Dichterin. »Aber ich spreche sie nicht alle gleich gut.«
»Mr. Lansing hat einen ersten Hinweis darauf gegeben, was mit uns geschehen sein könnte«, stellte der General fest. »Ich möchte Ihnen zu Ihrem scharfen Wahrnehmungsvermögen gratulieren, Sir. Vielleicht verhält es sich nicht ganz so, wie Sie sagen, aber ich glaube schon, daß Sie mit Ihrer Vermutung der Wahrheit recht nahe kommen. Was nun die Tatsache angeht, daß wir alle Englisch sprechen können, da möchte ich ein wenig spekulieren: Wir sind eine kleine Schar, die Englisch spricht. Wäre es nicht möglich, daß es noch weitere Gruppen gibt - französische, lateinische, griechische, spanische. Menschen, die deswegen zusammengekommen sind, weil sie eine gemeinsame Sprache sprechen.«
Der Pastor unterbrach ihn empört: »Das ist reine Spekulation! Die Theorien, die Sie gemeinsam aufstellen, sind blanker Wahnsinn. Sie verstoßen gegen alle irdischen und himmlischen Lehrsätze!«
»Was wir über Himmel und Erde wissen«, versetzte der General, »ist doch nur ein leiser Hauch, gemessen an der ganzen Wahrheit. Wir sind nun einmal hier, das müssen wir zugeben, und die Tatsache, daß wir hier sind, und die Art, wie wir hierhergekommen sind, verstoßen bereits gegen alles Wissen, über das wir heute verfügen.«
»Ich denke, was Mr. Lansing zu uns gesagt hat.« begann Mary. »Ach, Mr. Lansing, wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, ich mag nicht dauernd Mr. Lansing zu Ihnen sagen.« »Ich heiße Edward.«
»Danke sehr. Ich meine, Edwards Vermutungen könnten ein wenig zu phantasievoll sein. Aber wenn wir herausbekommen wollen, wo wir sind und warum wir hierhergekommen sind, dann müssen wir in unserem Denken neue Wege einschlagen. Ich bin Ingenieur, und ich stamme aus einer hochtechnisierten Gesellschaft. Jede Denkweise, die nicht auf einer soliden theoretischen Grundlage fußt, bereitet mir Unbehagen. Doch alle Untersuchungsmethoden, mit denen ich vertraut bin, liefern für diese Situation keine Erklärungen. Vielleicht gibt es jemanden unter uns, der eine bessere Methode kennt. Wie ist es mit Ihnen, Jürgens?«
»Auch ich stamme aus einem technologischen Umfeld«, erwiderte Jürgens, »und auch ich kann mit keiner Erklärung aufwarten.«
»Warum haben Sie ihn überhaupt gefragt?« wetterte der Pastor. »Sie bezeichnen ihn als Roboter, das ist ein Wort, das einem leicht von der Zunge geht. Wenn man ihn jedoch genau betrachtet, dann ist er weiter nichts als eine Maschine, eine mechanische Spielerei.«
»Das geht zu weit!« schnarrte der General. »Zufällig stamme ich aus einer Welt, in der diese >mechanischen Spielereien< sich in einem viele Jahre dauernden Krieg bewährt haben. Sie haben hervorragend gekämpft, intelligenter und ideenreicher, als viele Menschen es vermocht hätten.«
»Wie schrecklich«, murmelte die Dichterin. »Sie wollen damit sagen, daß Sie den Krieg schrecklich finden, vermute ich?« fragte der General.
»Ja, ist er das denn nicht?« entgegnete sie. »Der Krieg ist ein gewöhnlicher Faktor im Menschenleben«, erklärte der General. »Es gibt einen natürlichen Aggressionstrieb in der menschlichen Rasse, der zwangsläufig zu Konflikten führt. Wenn dem nicht so wäre, hätte es nicht so viele Kriege gegeben.« »Aber all das Leid, der Schrecken, die gescheiterten Hoffnungen!«
»Heutzutage ist der Krieg zu einem Spiel geworden«, erzählte der General, »so wie er es in der Frühzeit war. Die Indianerstämme auf dem westlichen Kontinent haben den Krieg als Spiel betrachtet. Ein junger Kämpfer wurde erst dann zu einem Mann, wenn er an seinem ersten Feldzug teilgenommen hatte. Alles Mannhafte und Edle hat seinen Ursprung im Krieg.
Es mag Zeiten gegeben haben, wo der Krieg - so wie Sie es behauptet haben - Leid über die Menschen brachte. Heute wird nur noch wenig Blut vergossen. Wir führen den Krieg, so wie man Schach spielt.«
»Mit Robotern?« fragte Jürgens.
»Wir bezeichnen sie nicht als Roboter.«
»Vermutlich nicht. Vielleicht als Mechaniks? Als Maschinen, die denken können und über eine Identität verfügen?« »So ist es. Sie sind hervorragend konstruiert und perfekt ausgebildet. Sie kämpfen nicht nur für uns, sondern sie helfen uns auch bei der Strategie. In meinem Stab sind die Mechaniks gut vertreten. Oftmals erfassen sie die Lage besser als ich.« »Und die Schlachtfelder sind mit diesen Mechaniks übersät?« »Ja, schon. Aber wir versuchen, die Verluste so niedrig wie möglich zu halten.«
»Sie sammeln die Teile ein, setzen sie wieder zusammen und schicken sie erneut in den Kampf?«
»Na klar«, antwortete der General. »Wir müssen mit unseren Mitteln sparsam haushalten.«
»Herr General«, stellte Jürgens fest, »ich glaube nicht, daß es mir gefallen würde, in Ihrer Welt zu leben.« »Wie sieht es denn in Ihrer Welt aus? Wenn Sie nicht in meiner Welt leben wollen, dann erzählen Sie mir doch bitte, wie Ihre Welt beschaffen ist.«
»Eine friedliche, eine freundliche Welt. Wir sind unseren Menschen sehr zugetan.«
»Das klingt ja abscheulich«, stöhnte der General. »Unseren Menschen sehr zugetan. Was heißt überhaupt >unseren Menschen?«
»In unserer Welt gibt es nur noch sehr wenige Menschen. Wir kümmern uns um sie.«
»So sehr ich mich dagegen gesträubt habe, allmählich scheint es mir, daß Edward Lansing recht haben könnte«, sagte der Pastor. »Wenn ich Ihnen so zuhöre, wird mir klar, daß wir tatsächlich aus verschiedenen Welten kommen. Eine Welt ist zynisch, auf ihr wird der Krieg als Kinderspiel betrachtet.« »Doch nicht als Kinderspiel!« fuhr ihm der General ins Wort. »Es handelt sich um eine sehr komplexe Aufgabe.« »Eine zynische Welt«, fuhr der Pastor fort, »die den Krieg als komplexes Spiel betrachtet, eine Welt der Dichter und Musikanten, eine Welt, in der sich Roboter auf eine freundliche Art der Menschen annehmen. Und Ihre Welt, gnädige Frau, in der eine Frau Ingenieur werden kann.« »Und was ist daran nicht in Ordnung?« fragte Mary. »Frauen sollten niemals Ingenieure sein, das ist nicht in Ordnung! Treusorgende Ehefrauen sollen sie sein, fähige Hüterinnen des Hauses, liebevolle Erzieherinnen der Kinder. Das sind die natürlichen Aufgaben der Frau.«
»In meiner Welt gibt es nicht nur weibliche Ingenieure«, entgegnete Mary. »Die Frauen arbeiten als Physiker, Psychologen, Chemiker, Philosophen, Geologen, sie sitzen in den Verwaltungsräten, sind Präsidentinnen großer Gesellschaften, Richterinnen und Anwältinnen. Auch in den Exekutivorganen kann man sie finden. Ich könnte die Liste beliebig verlängern.« Mine, der Wirt, watschelte heran.
»Platz!« rief er. »Machen Sie Platz für das Abendessen! Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken.«
7
Das schmackhafte Mahl war bald verzehrt. Man hatte den Tisch zurückgeschoben und saß nun wieder vor dem lodernden Kaminfeuer. In der Ecke des Raumes hockten noch immer die vier Spieler über ihren Karten.
Lansing zeigte mit dem Daumen in ihre Richtung. »Was ist eigentlich mit diesen Leuten los?« fragte er. »Wieso haben sie nicht mit uns gegessen?«
Der Wirt winkte ab. »Sie wollen ihr Spiel nicht unterbrechen. Wir haben ihnen ein paar Sandwiches hingestellt; sie haben weitergespielt. Erst in den frühen Morgenstunden werden sie aufhören. Sie schlafen ein Weilchen und stehen bald wieder auf. Nach dem Morgengebet und dem Frühstück setzen sie sich wieder an den Kartentisch.«
»Zu wem beten sie?« fragte Mary. »Zu den Göttern des glücklichen Zufalls vielleicht?«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihnen nie dabei zugehört.«