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„Sie stellen ununterbrochen Fragen“, beschwerte sich der Groalterri.
Bei solch einem, riesengroßen Lebewesen war es unmöglich, Veränderungen des Gesichtsausdrucks festzustellen, selbst wenn die gewaltigen Züge dazu in der Lage gewesen wären, und von der Gebärdensprache hatte Lioren bisher nur wenige Ausdrucksformen verstehen lernen können.
„Ich beantworte auch Fragen, wenn man mir welche stellt“, entgegnete er.
Unter ihm und rings um ihn zuckten straff zusammengerollte Tentakel wie riesige organische Bergketten bei einem leichten Erdbeben und verfielen wieder in Reglosigkeit. Lioren war nicht übermäßig beunruhigt, da ein Wutanfall, wie ihn der FLSU beim ersten Besuch gehabt hatte, bisher nicht wieder vorgekommen war.
„Ich habe keine Fragen“, sagte der Patient. „Meine Neugier wird vom großen Gewicht der Schuld, die auf mir lastet, erdrückt. Und jetzt verschwinden Sie endlich.“
Als Zeichen seiner Bereitschaft zu gehorchen zog sich Lioren zurück, aber nur ein kurzes Stück, um zu verstehen zu geben, daß er sich trotzdem noch unterhalten wollte.
„Indem ich meine eigene Neugier oder auch die der anderen stille, vergesse ich wenigstens eine Zeitlang meine Schuld. Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, daß Sie Ihre Schuld ebenfalls für eine Weile vergessen, indem ich einfach Fragen beantworte, die Sie nicht stellen“, schlug er vor.
Der Patient rührte sich nicht, noch sagte er einen Ton, und Lioren verstand diese Form der negativen Reaktion wie schon bei früheren Gelegenheiten als zögernde Einwilligung und fuhr fort.
Da die Groalterri aufgrund ihrer Physiologie keine Raumflüge unternehmen konnten, erzählte Lioren dem FLSU von einer Spezies, die gleichermaßen gehandikapt war, und von noch anderen Wesen, denen Interstellarreisen eigentlich unmöglich sein müßten, was aber nicht der Fall war. So berichtete er ihm von den großen Schichtkreaturen auf Drambo, deren gewaltige Körper wachsen konnten, um wie lebendige Teppiche die Fläche eines ganzen Subkontinents zu bedecken. Diese Spezies benutzte als Augen Millionen von Pflanzen, die die oben liegende Körperfläche in eine lichtempfindliche Schicht verwandelten, und verfügte trotz ihres pflanzlichen Metabolismus, durch den die Körperbewegungen so langsam vonstatten gingen, über einen finken und scharfen Verstand.
Er erzählte ihm von den bösartigen, unglaublich gewalttätigen Beschützern der Ungeborenen, die vom Augenblick der Geburt in einer ungeheuer grausamen Umwelt bis zum Tod aus Altersschwäche oder wegen des Unvermögens, sich vor dem zuletzt geborenen Nachkommen zu schützen, weder schliefen noch zu kämpfen aufhörten. Doch in solch einer organischen Kampf- und Tötungsmaschine steckte ein Embryo mit einem großartigen, reichen und liebenswürdigen telepathischen Geist, der durch die telepathische Verbindung mit anderen Ungeborenen lernte und dessen Fähigkeit zu denken nach der langen Schwangerschaft durch die Geburt tragischerweise zerstört wurde.
„In dieses Hospital sind Beschützer der Ungeborenen eingeliefert worden“, fuhr Lioren fort, „und wir versuchen, Mittel und Wege zu finden, ihre Nachkommen ohne die sich aus der Geburt ergebende Zerstörung des Verstands zur Welt kommen zu lassen und diesen Neugeborenen beizubringen, nicht alles anzugreifen und umzubringen, was ihnen vor die Augen kommt.“
Während Liorens Ausführungen war der Groalterri reglos geblieben und hatte geschwiegen. Lioren sprach weiter, doch nach und nach verlagerte sich das Thema von Beschreibungen der physiologischen Merkmale der Spezies, aus denen die Föderation bestand, zu den philosophischen Standpunkten, die sie verbanden oder manchmal auch trennten. Da Lioren wissen wollte, was den Patienten bekümmerte, hatte er diesen Themenwechsel absichtlich herbeigeführt.
„Eine Handlung, die von der einen Spezies wegen einer evolutionsgeschichtlichen Notwendigkeit oder — seltener — aufgrund einer zu engstirnigen philosophischen Erziehung als großes Unrecht betrachtet wird, kann von einer anderen als völlig normales und untadeliges Verhalten angesehen werden. Oftmals handelt es sich bei dem höchsten Richter, der nie körperlich gegenwärtig ist, sondern für den andere sprechen, um ein immaterielles Wesen, das für den allwissenden, allmächtigen und allbarmherzigen Schöpfer aller Dinge gehalten wird.“
Unter ihm und rings um ihn bewegten sich die Tentakel unruhig hin und her, und das Auge, das ihn unentwegt betrachtet hatte, schloß sich, aber ansonsten kam vom FLSU keine Reaktion. Lioren wußte zwar, daß er ein Risiko einging, wenn er in diesem Stil fortfuhr, doch er spürte auf einmal das dringende Verlangen, die Gedankenwelt dieses großen und höchst bekümmerten Wesens zu verstehen.
„Auf diesem Gebiet kenne ich mich nur unvollständig aus“, fuhr er fort, „aber bei den meisten intelligenten Spezies soll sich dieses allmächtige und immaterielle Wesen in körperlicher Gestalt offenbart haben. Die physiologischen Klassifikationen dieses Wesens wechseln nach der für die jeweiligen Umweltbedingungen der betreffenden Planeten geeigneten Form, doch in allen Fällen tritt es als Lehrmeister und Gesetzgeber in Erscheinung und stirbt unter den Händen derjenigen, die seine Lehren zunächst nicht akzeptieren können. Aber diese Lehren bilden über kurz oder lang die philosophische Grundlage für den gegenseitigen Respekt, das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der betreffenden Spezies, durch die schließlich die Gründung einer planetarischen und interstellaren Zivilisation ermöglicht wird.
Manche glauben, es sei immer dasselbe Wesen, das auf allen Planeten erschienen ist oder erscheinen wird, wenn seine Schöpfung bedroht ist und seine Lehren am dringendsten gebraucht werden. Doch die gemeinsamen Nenner all dieser unterschiedlichen Glaubensrichtungen sind Mitleid, Verständnis und Vergebung früheren Unrechts jeglicher Form, unabhängig davon, ob es sich um ein verzeihliches oder ein äußerst schweres Vergehen handelt. Diese Vergebung wird durch den Tod der körperlichen Offenbarung des immateriellen Wesens veranschaulicht, der in allen Fällen schmählich und mit körperlichen Qualen verbunden sein soll. Auf der Erde soll dieser Tod eingetreten sein, nachdem der Körper mit Nägeln aus Metall an ein Holzkreuz geschlagen worden war, und die creppelianischen Oktopoden haben etwas benutzt, das sie den ̃̄„Kreis der Schande“ nennen, in dem die voll ausgestreckten Tentakel mit Pflöcken am nackten Boden befestigt wurden, bis der Tod durch Austrocknung eintrat, während sich die Kelgianer.“
„Kleiner Lioren“, unterbrach ihn der Groalterri und öffnete das Auge, „erwarten Sie von diesem allmächtigen Wesen, daß es Ihnen Ihre eigene schwere Sünde vergibt?“
Nach dem langen Schweigen des Patienten überraschte ihn diese Frage. „Ich habe keine. Was ich meine, ist, daß es andere Wesen gibt, nach deren Ansicht diese Lehrmeister und Gesetzgeber von Natur aus in jeder intelligenten Zivilisation in Erscheinung treten, die sich im Übergangsstadium von der Barbarei zu den Anfängen einer wahren Kultur befindet. Auf einigen Planeten haben viele Gesetzgeber gelebt, deren Lehren sich in geringfügigen Einzelheiten voneinander unterscheiden und die nicht von all ihren Anhängern für Verkörperungen eines allmächtigen Wesens gehalten werden. Diese Lehrmeister sind ausnahmslos dafür eingetreten, gegen Übeltäter barmherzig zu sein und ihnen zu vergeben, und normalerweise sind sie durch die Hände ihrer eigenen Gefolgsleute umgekommen. Hat es in der Geschichte von Groalter auch so ein Wesen gegeben? Solch einen großen Lehrmeister der Vergebung?“
Das Auge musterte ihn weiterhin, doch die Sprechmembran des Patienten bewegte sich nicht. Vielleicht war die Frage in irgendeiner Weise anstößig gewesen, denn offenkundig wollte der Groalterri sie nicht beantworten.
„Ich glaube nicht, daß mir vergeben werden kann, denn ich bin nicht einmal imstande, mir selbst zu vergeben“, gestand Lioren ein.
Diesmal erfolgte eine prompte und völlig überraschende Antwort.
„Kleiner Lioren“, sagte der Groalterri, „meine Frage hat Ihnen innerlich große Schmerzen bereitet, und das tut mir leid. Sie haben mich mit Ihren Geschichten von den Planeten und den Spezies Ihrer Föderation sehr gefesselt. Besonders interessant fand ich Ihre Erzählungen über die verschiedenen Philosophien, die sich auf seltsame Weise ähneln, und eine Zeitlang war mein großer Kummer sehr viel erträglicher. Für diese Freundlichkeit haben Sie mehr von mir verdient als nur eine verletzende Antwort, und ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen.
Die Information, die ich Ihnen jetzt geben werde — aber nur diese Information — , dürfen Sie weitergeben und mit anderen erörtern. Sie betrifft den Ursprung und die Geschichte der Groalterri und enthält nichts, was sich auf mich persönlich bezieht. Alle vorhergehenden und folgenden Gespräche zwischen uns müssen jedoch vertraulich bleiben.“
„Selbstverständlich!“ rief Lioren in seiner Aufregung so laut, daß er den Translator überlastete. „Ich bin Ihnen sehr dankbar; wir alle werden Ihnen dankbar sein. Aber. aber unsere Dankbarkeit ist unpersönlicher Art. Können Sie mir denn wenigstens verraten, wie Sie heißen und was Sie normalerweise machen?“
Er verstummte, weil er sich fragte, ob die Erkundigung nach dem Namen und der Tätigkeit des FLSU ein Fehler gewesen war — womöglich sein letzter Fehler.
Plötzlich entrollte sich einer der Tentakel des Groalterris, pfiff mit der knöchernen Spitze an Liorens Kopf vorbei und prallte gegen die Metallwand, gegen die er mehrere Sekunden lang periodisch unter ohrenbetäubendem Lärm schlug, bevor er blitzartig zurückgezogen wurde.
In der Mitte einer der wenigen Teile der Wandverkleidung, die nach dem früheren Wutanfall des FLSU ohne Beulen geblieben waren, prangte jetzt die vollkommen geometrische Figur eines achtzackigen Sterns. Die Linien, aus denen er bestand, waren schnurgerade, wiesen dieselbe Tiefe und Breite auf — die irgendwo zwischen den Ausmaßen einer tiefen, breiten Furche und eines feinen, oberflächlichen Kratzers lagen — und trafen in der Mitte ohne Lücken oder Überschneidungen haargenau zusammen.
„Ich bin der kleine Hellishomar, der Messerheiler“, sagte der FLSU leise. „Sie, Lioren, würden mich als Chirurgen bezeichnen.“