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1. Kapitel

In einer vorübergehend nicht genutzten Abteilung auf der siebenundachtzigsten Ebene des Orbit Hospitals fand eine Versammlung statt. Der Saal hatte zu verschiedenen Zeiten als Beobachtungsstation für die vogelähnlichen Nallajimer der physiologischen Klassifikation MSVK gedient, als Operationssaal für die melfanischen ELNTs und erst vor kurzem als Ausweichstation für die chloratmenden illensanischen PVSJs, von deren schädlicher Atmosphäre immer noch ein Hauch vorhanden war. Jetzt fungierte der Raum zum ersten und einzigen Mal als Verhandlungsort eines Militärgerichts und würde, wie Lioren im stillen hoffte, eher zur Beendigung als zur Verlängerung von Leben genutzt werden.

Drei ranghohe Offiziere des Monitorkorps hatten vor einer aus vielen verschiedenen Spezies bestehenden Zuhörerschaft Platz genommen, die ihnen gegenüber wohlwollend oder ablehnend eingestellt sein konnte, vielleicht aber auch bloß neugierig war. Der ranghöchste Offizier, ein terrestrischer DBDG, eröffnete die Verhandlung.

„Ich bin Flottenkommandant Dermod, der Vorsitzende dieses aus besonderem Anlaß zusammengetretenen Militärgerichts“, sprach er in Richtung des Protokollführers. Indem er den Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite neigte, fuhr er fort: „Als Beirat unterstützen mich der Terrestrier Colonel Skempton vom Orbit Hospital und der Nidianer Lieutenant-Colonel Dragh-Nin von der Rechtsabteilung für fremde Spezies des Monitorkorps. Wir sind hier auf Wunsch von Oberstabsarzt Lioren, einem tarlanischen DRLH, zusammengekommen, der mit dem Urteil einer früheren Verhandlung seines Falls vor einem Zivilgericht der Föderation unzufrieden ist.

Der Oberstabsarzt besteht als Offizier in militärischen Diensten auf seinem Recht, vor ein Militärtribunal des Monitorkorps gestellt zu werden.

Die Anklage lautet auf grobe Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, die zum Tod einer großen, wenn auch nicht genauer bestimmten Anzahl von Patienten führte, während sie sich bei Lioren in Behandlung befanden.“

Ohne die Aufmerksamkeit von den Anwesenden abzuwenden, machte der Flottenkommandant eine kurze Pause, wobei er es jedoch offenbar absichtlich vermied, den Angeklagten direkt anzublicken. In den Reihen von Stühlen, Hängegestellen und anderen Sitzmöbeln, die den physiologischen Anforderungen der Zuhörer entsprachen, befanden sich viele Bekannte von Lioren: der Tralthaner Thornnastor, leitender Diagnostiker der Pathologie; der nidianische Oberlehrer Cresk-Sar und der erst kürzlich zum leitenden Diagnostiker der Chirurgie ernannte Terrestrier Conway. Einige von ihnen wären bestimmt bereit, zu seiner Verteidigung zu sprechen, aber wie viele hätten ihn genauso gern anstandslos beschuldigt, verurteilt und bestraft?

„Wie es in solchen Fällen üblich ist, wird der Verteidiger die Verhandlung eröffnen und der Anklagevertreter das letzte Wort haben“, fuhr Flottenkommandant Dermod in ernstem Ton fort. „Daraufhin werden sich die Offiziere dieses Gerichts zur Beratung zurückziehen und das einstimmig gefällte Urteil samt Strafe verkünden. Die Verteidigung vertritt der Terrestrier und Major des Monitorkorps O'Mara, der an diesem Hospital bereits Leiter der psychologischen Abteilung für fremde Spezies ist, seit sie zum erstenmal ihre Arbeit aufgenommen hat. Zur Seite steht ihm die Sommaradvanerin Cha Thrat, eine Angehörige derselben Abteilung. Die Anklage wie auch sich selbst vertritt der Angeklagte, Oberstabsarzt Lioren.

Major O'Mara, Sie können beginnen.“

Während Dermods Einleitung hatte O'Mara, dessen Augen tief in den Höhlen saßen, zum Teil von dünnen Hautlappen verdeckt wurden und im Schatten grauer Haarbüschel lagen, die in Form zweier dicker Mondsicheln über ihnen wuchsen, Lioren unverwandt gemustert. Als er sich erhob, blieb der Teleprompter dunkel. Ganz offensichtlich hatte er vor, frei zu sprechen.

In der aufgebrachten und ungehaltenen Art, wie sie für ein Wesen typisch ist, das die Notwendigkeit, höflich zu sein, nicht gewöhnt ist, sagte er: „Mit Erlaubnis des Gerichts, Oberstabsarzt Lioren wird eines Vergehens angeklagt, oder, richtiger gesagt, klagt sich selbst eines Vergehens an, von dem ihn bereits die Zivilgerichtsbehörden seines Heimatplaneten freigesprochen haben. Bei allem Respekt, Sir, weder der Angeklagte noch wir sollten hier vor Ihnen stehen, und diese Verhandlung dürfte eigentlich überhaupt nicht stattfinden.“

„Durch einen äußerst fähigen Verteidiger ist das Zivilgericht auf meinem Heimatplaneten dazu verleitet worden, mir Mitleid und unangemessene Sentimentalität entgegenzubringen, als mir nichts anderes als Gerechtigkeit hätte widerfahren müssen“, warf Lioren in barschem Ton ein. „In dieser Verhandlung hoffe ich, die…“

„Aha! Ich werde also nicht solch einen kompetenten Verteidiger abgeben, wie?“ unterbrach ihn O'Mara.

„Ich weiß doch, daß Sie ein fähiger Verteidiger sein werden!“ reagierte Lioren unwirsch, wobei er sich durchaus bewußt war, daß bei der Übersetzung durch den Translator ein Großteil der Emotionen, die in seinem Ausruf mitschwangen, verlorenging. „Genau das ist ja meine größte Sorge. Warum verteidigen Sie mich überhaupt? Bei Ihrem Ruf und Ihrer Erfahrung auf dem Gebiet extraterrestrischer Psychologie und den hohen beruflichen Anforderungen, die Sie an Ihre Mitarbeiter stellen, hatte ich erwartet, Sie würden mich verstehen und auf meiner Seite sein, anstatt.“

„Aber ich stehe doch auf Ihrer Seite, verdammt noch mal.!“ begann O'Mara zu protestieren. Von dem unverwechselbar terrestrischen und ekelhaften Laut, den der Flottenkommandant plötzlich von sich gab, als er seinen Hauptatemweg von Schleim befreite, wurde er jedoch zum Schweigen gebracht.

„Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit klarstellen, daß jeder, der vor diesem Gericht etwas vorzubringen hat, das Wort direkt an den Vorsitzenden Offizier richten wird und nicht an einen der anderen Beteiligten“, ergriff Dermod in leisem, aber bestimmtem Ton das Wort. „Oberstabsarzt Lioren, Sie werden Gelegenheit haben, Ihren Fall ohne Unterbrechung zu erörtern, wenn Ihr gegenwärtiger Verteidiger, mag er nun in Ihren Augen dazu befähigt sein oder nicht, seine Ausführungen beendet hat. Fahren Sie fort, Major.“

Ein Auge richtete Lioren auf die Offiziere auf der Richterbank, das zweite heftete er auf die schweigende Menge hinter sich, und mit dem dritten fixierte er unverdrossen den Terrestrier O'Mara, der — immer noch ohne die Hilfe von Notizen — gerade in allen Einzelheiten die Ausbildung, den Werdegang und die bedeutenden fachlichen Leistungen des Angeklagten während dessen Aufenthalts im Hospital im galaktischen Sektor zwölf schilderte. In der Vergangenheit hatte Major O'Mara solche Worte des Lobs über Lioren zwar nie verloren — und erst recht nicht in dessen Gegenwart — , aber jetzt wäre das, was der Chefpsychologe gerade sagte, eher für eine Lobrede geeignet gewesen, die über den sterblichen Überresten eines von allen verehrten Toten gehalten wurde. Bedauerlicherweise war Lioren weder tot, noch wurde er von allen verehrt.

Als Chefpsychologe des Hospitals galt O'Maras Hauptinteresse — früher nicht weniger als heute — der reibungslosen und rationellen Arbeitsweise der mehr als zehntausend Angehörigen des medizinischen Stabs und des Wartungspersonals. Aus administrativen Gründen bekleidete der Terrestrier O'Mara den Rang eines Majors innerhalb des Monitorkorps, das polizeiliche Aufgaben wahrnahm, den Gesetzen der galaktischen Föderation Geltung verschaffte und außerdem für die Versorgung und Wartung des Orbit Hospitals verantwortlich war. Doch die harmonische Zusammenarbeit so vieler verschiedener und potentiell feindseliger Lebensformen aufrechtzuerhalten war eine Aufgabe, die sich — genau wie O'Maras Machtbefugnisse — nur schwer eingrenzen ließ.

Selbst bei einem Höchstmaß an Toleranz und gegenseitigem Respekt zwischen Mitarbeitern in allen Positionen und trotz der eingehenden psychologischen Durchleuchtung, der sich jeder Bewerber vor der Zulassung zur Ausbildung am namhaftesten Hospital der galaktischen Föderation mit vielfältigen Umweltbedingungen unterziehen mußte, gab es immer noch Momente, in denen durch Unwissenheit und Mißverständnisse des kulturell bedingten Sittencodexes, des Sozialverhaltens oder der evolutionsgeschichtlichen Notwendigkeiten anderer Spezies Reibereien innerhalb des Personals aufzutreten drohten. Oder, was noch gefährlicher war, womöglich entwickelte ein Mitarbeiter eine xenophobe Neurose, die,

wenn sie nicht behandelt wurde, seine geistige Stabilität oder fachliche Leistungsfähigkeit oder beides zusammen beeinträchtigte.

Ein tralthanischer Arzt zum Beispiel, der sich unterbewußt vor den abstoßenden kleinen Raubtieren fürchtete, die seinen Heimatplaneten so lange unsicher gemacht hatten, sähe sich vielleicht nicht in der Lage, einem der physiologisch ähnlichen, aber hochzivilisierten Kreglinni das richtige Maß an nüchterner Gleichgültigkeit entgegenzubringen, das zu dessen Behandlung notwendig wäre. Genau so ein ungutes Gefühl hätte der Tralthaner, wenn er mit einem Kreglinni zusammenarbeiten oder — im Fall einer Unfallverletzung oder Erkrankung — von einem Arztkollegen dieser Spezies behandelt werden würde. Die Verantwortung des Chefpsychologen O'Mara bestand nun darin, derartige Probleme zu entdecken und auszuräumen, bevor von ihnen Gefahr für Leben und geistige Gesundheit ausgehen konnte, beziehungsweise, wenn alle Stricke rissen, die möglichen Störenfriede aus dem Hospital zu entfernen.

Wie sich Lioren erinnerte, hatte es Zeiten gegeben, in denen der Chefpsychologe durch dieses ständige Ausschauhalten nach Anzeichen von falscher, schädlicher oder intoleranter Denkweise, dem er sich mit einer derartigen Hingabe gewidmet hatte, zum gefürchtetsten, am meisten beargwöhnten und unbeliebtesten Lebewesen im ganzen galaktischen Sektor zwölf geworden war.

Aber jetzt schien O'Mara genau jenes untypische Verhalten an den Tag zu legen, das er bei anderen Wesen stets als Alarmsignal gewertet hatte. Indem er Liorens ungeheure und furchtbare Fahrlässigkeit gegenüber einer gesamten Planetenbevölkerung verteidigte — ein Fall von Fehleinschätzung, wie er in der Geschichte der Föderation ohne Beispiel war — , ignorierte er die Bräuche und Gepflogenheiten seines Berufs, die er sein ganzes Leben lang beachtet hatte, und stellte sie praktisch auf den Kopf.

Einen Augenblick lang starrte Lioren auf den Kopfpelz des Terrestriers, der mittlerweile einen viel helleren Grauton aufwies, als er sich erinnern konnte, und er fragte sich, ob es auf eine mit fortschreitendem Alter zunehmende Verwirrung zurückzuführen war, daß sich der Major nur selbst eine dieser psychologischen Krankheiten zugezogen hatte, vor denen er alle anderen Wesen so angestrengt zu bewahren versucht hatte. Dennoch klang das, was der Chefpsychologe von sich gab, wohldurchdacht und schlüssig.

„.zu keinem Zeitpunkt gab es einen Anhaltspunkt dafür, daß Lioren über das Maß seiner Fähigkeiten hinaus befördert worden war“, sagte O'Mara gerade. „Er ist Träger des blauen Umhangs, der höchsten beruflichen Auszeichnung, die auf Tarla verliehen werden kann. Sollte es das Gericht wünschen, kann ich bezüglich Liorens vollkommener Hingabe und seines großen Könnens als Arzt und Chirurg für fremde Spezies nähere Einzelheiten anführen, die auf Beobachtungen beruhen, die während seiner Zeit am Hospital angestellt worden sind. Dokumentarische Belege und persönliche eidesstattliche Erklärungen, die ranghöhere und rangniedrigere Offiziere des Monitorkorps über Liorens verdientermaßen steilen Aufstieg nach seinem Weggang von uns abgegeben haben, sind ebenfalls vorhanden. Aber das Material würde sich ständig wiederholen und lediglich meine frühere Feststellung bekräftigen, daß Liorens Verhalten als Arzt vor und, wie ich behaupte, während des Vergehens, dessen er angeklagt ist, beispielhaft war.

Ich glaube, die einzige Schuld, die das Gericht dem Angeklagten vorwerfen kann, besteht darin, daß die fachlichen Anforderungen, die er an sich selbst gestellt und bis zum Vorfall auf Cromsag auch erfüllt hat, übertrieben hoch und die anschließenden Schuldgefühle unverhältnismäßig groß gewesen sind“, fuhr O'Mara fort. „Liorens einziges Verbrechen ist, daß er sich selbst mehr abverlangt hat, als er letztendlich.“

„Aber es ist doch gar kein Verbrechen passiert!“ fiel ihm seine Assistentin Cha Thrat energisch ins Wort und richtete sich dabei zu voller Größe auf. „Da die Regeln, die auf Sommaradva die ärztlichen Befugnisse eines Chirurgen für Krieger bestimmen, sehr streng sind, und zwar um ein erhebliches Maß strenger als diejenigen, die auf anderen Planeten gelten, kann ich die Gefühle des Angeklagten voll und ganz verstehen und auch nachempfinden. Aber anzudeuten, strenge Selbstdisziplin und hohe Maßstäbe für die Berufsausübung seien in irgendeiner Hinsicht schlecht oder ein Verbrechen oder auch nur ein entschuldbares Vergehen, ist doch vollkommener Unsinn!“

„In der Geschichte der meisten Planeten der Föderation stößt man auf viele Fälle von geradezu fanatisch rechtschaffenen politischen Führern oder religiösen Eiferern, die das Gegenteil vermuten lassen“, widersprach O'Mara mit noch lauterer Stimme, wobei die dunkler gewordene Gesichtsfarbe seinen Zorn über diese Unterbrechung durch eine Untergebene verriet. „Psychologisch gesehen ist es gesünder, nichts zu übertreiben und ein wenig Raum für.“

„Aber das gilt doch zweifellos nicht für diejenigen Wesen, die wirklich gut sind“, unterbrach ihn Cha Thrat erneut. „Offenbar wollen Sie behaupten, das Gute sei. sei schlecht!“

Cha Thrat war das erste Lebewesen der sommaradvanischen Klassifikation DCNF, das Lioren gesehen hatte. Stehend war sie noch einmal halb so groß wie O'Mara, und die Verteilung der vier Glieder zur Fortbewegung, der vier Greiforgane in Hüfthöhe und der weiteren vier Gliedmaßen für die Nahrungsaufnahme und feine Arbeiten, die rings um den Hals entsprangen, verliehen ihrer Gestalt eine angenehme Symmetrie und Standfestigkeit — anders als bei den Terrestriern, die scheinbar immer kurz davor waren, aufs Gesicht zu fallen. Lioren fragte sich, ob nicht gerade diese DCNF von allen im Raum Anwesenden seine Gefühle am besten verstand. Dann konzentrierte er sich auf die Bilder, die er mit dem Auge wahrnahm, das er auf die Offiziere auf der Richterbank geheftet hatte.

Colonel Skempton entblößte die Zähne, was bei Terrestriern ein Zeichen für Belustigung oder freundschaftliche Gefühle war, für Lioren jedoch immer wie ein lautloses Zähnefletschen wirkte, aus den Zügen des nidianischen Offiziers ließ sich unter der dichten Gesichtsbehaarung nichts herauslesen und die Miene des Flottenkommandanten blieb völlig ausdruckslos, als er das Wort ergriff.

„Diskutieren die Verteidiger untereinander über Schuld oder Unschuld des Angeklagten, oder fallen Sie sich lediglich in Ihrer Ungeduld, die Sache zu beschleunigen, gegenseitig ins Wort?“ fragte er leise. „In beiden Fällen bitte ich Sie, das zu unterlassen und einzeln und nacheinander zum Gericht zu sprechen.“

„Meine verehrte Kollegin hat zwar den Angeklagten verteidigt, war aber ein bißchen übereifrig“, sagte O'Mara in einem Ton, der trotz des Übersetzungsvorgangs, der die Emotionen herausfilterte, alles andere als respektvoll klang. „Wir werden unsere Debatte zu einem anderen Zeitpunkt in privatem Kreis zu Ende führen.“

„Dann fahren Sie jetzt bitte fort“, forderte ihn der Flottenkommandant auf.

Cha Thrat nahm wieder ihren Platz ein, und der Chefpsychologe, dessen Gesicht immer noch einen dunkleren Rosaton aufwies, setzte seine Ausführungen fort. „Was ich sagen will, ist, daß der Angeklagte unabhängig von dem, was er glaubt, für den Vorfall auf Cromsag nicht voll verantwortlich ist. Um das zu beweisen, werde ich Tatsachen enthüllen müssen, die normalerweise nur meiner Abteilung bekannt sind. Diese Informationen.“

Flottenkommandant Dermod hatte eins seiner beiden vorderen Gliedmaßen mit nach außen gedrehter Handfläche erhoben und O'Mara auf diese Weise zum Schweigen gebracht. „Wenn es sich dabei um Informationen handelt, die die Privatsphäre betreffen, Major, dürfen Sie von ihnen nicht ohne die Erlaubnis des Betroffenen Gebrauch machen. Falls der Angeklagte ihre Verwendung verbietet.“

„Ich verbiete ihre Verwendung!“ warf Lioren mit fester Stimme ein.

„.hat das Gericht keine andere Wahl, als sich dem Wunsch des Angeklagten zu fügen“, fuhr Dermod fort, als ob der Oberstabsarzt nichts gesagt hätte. „Das ist Ihnen doch sicherlich klar.“

„Ebenfalls ist mir klar — und, wie ich glaube, auch Ihnen, Sir — , daß mir der Angeklagte verbieten würde, überhaupt irgendwas zu seiner Verteidigung zu sagen oder zu tun, falls er die Gelegenheit dazu erhalten sollte“, stellte O'Mara lapidar fest.

Der Flottenkommandant senkte die Hand. „Trotzdem, was die Privatsphäre betreffende Informationen anbelangt, hat der Angeklagte dieses Recht.“

„Ich bestreite sein Recht, gerichtlich gebilligten Selbstmord zu begehen“, widersprach O'Mara. „Sonst hätte ich mich bestimmt nicht angeboten, jemanden zu verteidigen, der eine dermaßen hohe Intelligenz besitzt, über derart große Fachkompetenz verfügt und gleichzeitig so abgrundtief dumm ist. Die fraglichen Informationen sind zwar vertraulich und nur für den Dienstgebrauch bestimmt, aber in keiner Weise verletzen sie die Privatsphäre des Angeklagten, da sie damals wie heute für jeden Berechtigten zugänglich sind, der vollständige psychologische Daten über einen Bewerber haben möchte, bevor er ihm anbietet, ihn in einer wichtigen Position zu beschäftigen oder in eine Stellung mit größerer Verantwortung zu befördern. Ohne falsche Bescheidenheit möchte ich behaupten, daß es das psychologische Persönlichkeitsdiagramm meiner Abteilung war, das Oberstabsarzt Lioren die ursprüngliche Ernennung zum Offizier des Monitorkorps und wahrscheinlich die letzten drei Beförderungen eingebracht hat. Selbst wenn wir in der Lage gewesen wären, das psychologische Persönlichkeitsdiagramm des Angeklagten nach seiner Abreise aus dem Hospital genau zu überwachen, gäbe es keine Gewißheit, daß die Tragödie auf Cromsag hätte vermieden werden können. Die Persönlichkeit und die Beweggründe desjenigen, der sie verursacht hat, waren zu dem Zeitpunkt bereits voll entwickelt, gefestigt und in sich wohlausgewogen. Zu meinem späteren Bedauern habe ich damals keinen Anlaß gesehen, sie in irgendeiner Weise zu ändern.“

Der Chefpsychologe machte eine kurze Pause, um einen Blick auf die Zuhörer zu werfen, die sich im Raum drängten, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Offizieren auf der Richterbank zuwandte. Der Bildschirm auf seinem Tisch flackerte auf, aber O'Mara blickte kaum auf die von unten nach oben laufenden Symbole, als er seine Ausführungen fortsetzte.

„Das ist die Aufzeichnung des psychologischen Persönlichkeitsdiagramms eines Lebewesens mit einer vollkommenen und ganz außergewöhnlichen Hingabe an seinen Beruf“, erläuterte der Major. „Trotz der gleichzeitigen Anwesenheit von Tarlanerinnen ist kein gesellschaftlicher oder sexueller Umgang des Betreffenden mit ihnen verzeichnet, noch gibt es irgendwelche Hinweise, daß er das eine oder andere Abenteuer überhaupt gewollt hätte. Ehelosigkeit erlegen sich die Angehörigen einiger intelligenter Spezies aus unterschiedlichen persönlichen, philosophischen oder religiösen Gründen auf. Zwar ist ein solches Verhalten selten und sogar ungewöhnlich, aber keineswegs anormal.

In Liorens Persönlichkeitsdiagramm finden sich keine Vorkommnisse, Verhaltensweisen oder Gedanken, an denen ich ein fehlerhaftes Vergehen festmachen könnte“, fuhr O'Mara fort. „Er hat gegessen, geschlafen und gearbeitet. Während seine Kollegen dienstfrei hatten und sich entspannt oder amüsiert haben, hat Lioren seine Freizeit damit verbracht, zu studieren oder auf Gebieten, die er für besonders interessant gehalten hat, zusätzliche Erfahrungen zu sammeln. Nach seiner Beförderung haben zwar die ihm unterstellten Mitarbeiter des medizinischen und des Wartungspersonals für Umweltbedingungssysteme eine tiefe Abneigung gegen ihn entwickelt, weil er von ihnen genauso gute Arbeit verlangt hat wie von sich selbst, aber dafür haben die Patienten, die unter seine Obhut kamen, wirkliches Glück gehabt. Dennoch haben schon damals seine starke Hingabe und geringe Flexibilität darauf hingedeutet, daß er für die letzte Beförderung zum Diagnostiker nicht geeignet sein könnte.

Doch das war nicht der Grund, weshalb er das Orbit Hospital verlassen hat“, fügte O'Mara schnell hinzu. „Nach Liorens Auffassung verhielt sich der Großteil des Hospitalpersonals bezüglich des persönlichen Auftretens viel zu lässig, in der Freizeit furchtbar verantwortungslos und — nach seinen Maßstäben — unerträglich albern, und er wollte seine Arbeit in einer Umgebung mit strengerer Selbstdisziplin fortsetzen. Seine Beförderungen innerhalb des Monitorkorps, zu denen auch das Kommando über das Rettungsunternehmen auf Cromsag gehörte und das mit einem Desaster endete, hat er voll und ganz verdient.“

Der Chefpsychologe schaute nach unten auf seinen Schreibtisch, blickte aber nicht in den Teleprompter, sondern schloß aus irgendeinem Grund die Augen. Plötzlich sah er wieder auf.

„Dies ist das psychologische Persönlichkeitsdiagramm von jemandem, der keine andere Wahl hatte, als so zu handeln, wie er es getan hat“, fuhr O'Mara fort, „darum sind seine Maßnahmen unter den gegebenen Umständen angemessen gewesen. Lioren hat sich weder nachlässig noch fahrlässig verhalten und ist deshalb, wie ich behaupte, nicht schuldig. Denn erst nachdem die wenigen Überlebenden hier im Hospital zwei Monate lang unter Beobachtung gestanden hatten, konnten wir die sekundären Auswirkungen der Krankheit, die Lioren behandelt hatte, auf die innere Sekretion herausfinden. Wenn sich Lioren überhaupt eines Verbrechens schuldig gemacht hat, dann höchstens des leichten Vergehens zu großer Ungeduld, die wiederum auf seiner festen Überzeugung beruhte, daß die medizinische Ausstattung des Schiffs für die geforderte Aufgabe ausreichen müßte.

Eigentlich habe ich nicht mehr viel vorzubringen, außer den Hinweis an das Gericht, daß die Strafe im Verhältnis zum Verbrechen und nicht, wie der Angeklagte meint und die Anklage argumentieren wird, im Verhältnis zu den Folgen dieses Verbrechens stehen sollte“, setzte der Major seine Ausführungen fort. „So katastrophal und entsetzlich die Auswirkungen der Maßnahmen des Oberstabsarztes gewesen sein mögen, das Verbrechen selbst war nur geringfügig und sollte als solches behandelt werden.“

Während O'Maras Rede war Liorens Wut bis zu einem Grad gestiegen, an dem er sie möglicherweise nicht mehr kontrollieren konnte. Überall auf seiner blassen, gelbgrünen Haut tauchten braune Flecken auf, und seine beiden äußeren Lungenpaare hatte er prall aufgebläht, um einen Einspruch herauszuschreien, der für eine korrekte Artikulation zu laut gewesen wäre und wahrscheinlich die Schallsensoren von vielen der Anwesenden zerstört hätte.

„Offenbar gerät der Angeklagte emotional in Bedrängnis“, sagte O'Mara schnell, „deshalb werde ich mich lieber kurz fassen. Ich bitte dringend, die Klage gegen Oberstabsarzt Lioren abzuweisen oder, falls dies nicht der Fall

ist, wenigstens keine Haftstrafe auszusprechen. Im Idealfall sollte die Bewegungsfreiheit des Angeklagten auf das Hospital beschränkt werden, wo ihm im Bedarfsfall psychiatrische Hilfe geleistet werden kann und gleichzeitig unseren Patienten seine beachtlichen fachlichen Talente zugute kommen, während er.“

„Nein!“ schnitt ihm Lioren das Wort in einer solchen Lautstärke ab, daß die Wesen in seiner näheren Umgebung unwillkürlich zusammenzuckten und die Translatoren aufgrund der Schallüberlastung pfiffen. „Ich habe feierlich und bei den Heilern Sedith und Wrethin geschworen, für den Rest meines nichtswürdigen Lebens auf die Ausübung meiner ärztlichen Kunst zu verzichten.“

„Also, das wäre nun wirklich ein Verbrechen“, entgegnete O'Mara nicht ganz so laut wie Lioren. „Damit würden Sie sich unbestreitbar einer geradezu schamlosen und unverzeihlichen Vergeudung von Fähigkeiten schuldig machen.“

„Und wenn ich hundert Leben hätte, so könnte ich doch nicht einmal einen Bruchteil all der vielen Wesen retten, die durch meine Schuld gestorben sind“, widersprach Lioren barsch.

„Aber Sie könnten es wenigstens versuchen…“, begann O'Mara, verstummte aber, als der Flottenkommandant erneut mit erhobener Hand um Ruhe bat.

„Wenden Sie sich mit Ihren Argumenten gefälligst an das Gericht und nicht aneinander“, ermahnte Dermod die beiden, wobei er O'Mara und Lioren der Reihe nach anblickte. „Ich werde Sie nicht noch einmal warnen. Major O'Mara, vor einiger Zeit haben Sie erklärt, Sie hätten nicht mehr viel vorzubringen. Darf das Gericht davon ausgehen, daß Sie damit jetzt alles gesagt haben?“

Einen Augenblick lang blieb der Chefpsychologe reglos stehen; dann antwortete er: „Ja, Sir“ und setzte sich.

„Sehr schön“, stellte der Flottenkommandant zufrieden fest. „Dann wird das Gericht jetzt die Anklage hören. Oberstabsarzt Lioren, sind Sie bereit fortzufahren?“

Liorens Haut wies eine zunehmende und ungleichmäßige Verfärbung auf, die durch die starken Schuldgefühle hervorgerufen wurden, die er bereits bei den flüchtigsten Erinnerungen bekam. Allerdings waren die außen am Körper befindlichen Luftsäcke nicht mehr so stark aufgebläht wie zuvor, so daß der DRLH in der Lage war, leise zu sprechen.

„Ich bin bereit.“