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Wie Lioren wußte, wurde von ihm keine Antwort auf diese Frage erwartet, denn sein Gesprächspartner stand im Begriff, sie selbst zu geben.
„Thornnastor, Conway und Seldal sind doch nicht blöd“, fuhr O'Mara fort. „Meinen letzten Unterlagen zufolge haben die drei in ihren Köpfen insgesamt siebzehn Schulungsbänder gespeichert, und die Leute, von denen diese Gehirnaufzeichnungen stammen, sind auch nicht gerade blöd gewesen. Und meinen eigenen Intelligenzgrad würde ich — unter angemessener Berücksichtigung des subjektiven Charakters dieser Selbsteinschätzung — ebenfalls über dem Durchschnitt ansiedeln.“
Lioren wollte ihm gerade zustimmen, doch O'Mara bat sich mit einer Handbewegung Ruhe aus.
„Nach Seldals Beschreibung des Krankheitsbilds sowie den Kenntnissen, die Sie bereits über die groalterrische Gesellschaft insgesamt erlangt haben, und aufgrund Ihrer neuen Auskunft, der zufolge es sich beim Patienten nach den Maßstäben seiner Spezies um einen Schwachsinnigen handelt, ist es höchst wahrscheinlich, daß Hellishomars Verletzungen Folge eines mißglückten Selbstmordversuchs sind“, fuhr der Chefpsychologe fort. „Das wissen sowohl Thornnastor, Conway und Seldal als auch ich, doch wir würden den Patienten ganz bestimmt nicht in Verlegenheit bringen oder es riskieren, seine emotionalen Qualen zu verstärken, indem wir ihm das sagen oder dieses Wissen öffentlich bekanntmachen. Wenn die Umstände wirklich so sind, wie Sie sie beschreiben, hätte der Patient allen Grund, sich umzubringen.
Doch jetzt“, sagte O'Mara, wobei er die Stimme ein wenig erhob, als wolle er diesen Punkt besonders hervorheben, „müssen wir ihm einen noch überzeugenderen Grund zu leben liefern, ob die Gehirnoperation nun erfolgreich verläuft oder nicht. Sie und — wenn die Umstände normal wären und es sich bei Ihnen nicht um einen derart dickköpfigen und selbstgerechten Auszubildenden handeln würde — auch ich als Ihr Vorgesetzter sollten versuchen, solch einen Grund ausfindig zu machen. Sie sind die einzige Kommunikationsverbindung zum Patienten, und es ist besser, wenn niemand anders, auch ich selbst nicht, versucht, diese Position an sich zu reißen. Doch ich muß Sie daran erinnern, daß ich der Chefpsychologe dieser eher als seltsam zu bezeichnenden und fürwahr außergewöhnlichen Einrichtung bin und über große Erfahrung darin verfüge, meine Nase in die Köpfe des noch seltsameren Personals zu stecken. Außerdem ist es mein Recht und Ihre Pflicht, mich immer voll auf dem laufenden zu halten, damit Sie bei Ihren Gesprächen mit dem Groalterri reichlichen Gebrauch von meiner Erfahrung machen können. Sollten Sie vorgeben, der Patient habe sich nicht umzubringen versucht, wäre ich von Ihnen sehr enttäuscht und würde mich entsprechend über Sie ärgern.
Und wie genau sieht nun dieses neue und noch ernstere Problem mit Hellishomar aus?“ fragte er schließlich.
Für einen Moment saß Lioren in der stillen Verzweiflung eines Hoffenden da und hatte Angst, die Frage zu beantworten, falls es keine Hoffnung gab — oder schlimmer noch, daß er die Lösung selbst finden müßte. Als er schließlich sprach, war das Gesicht des Chefpsychologen aus Ärger über Liorens Zögern schon ziemlich rot angelaufen.
„Das Problem bezieht sich auf mich“, gab Lioren zu. „Ich habe nämlich eine schwierige Entscheidung zu treffen.“
Mit nicht mehr ganz so stark gerötetem Gesicht lehnte sich O'Mara im Stuhl zurück. „Fahren Sie fort. Ist die Entscheidung für Sie schwierig, weil sie mit einem Vertrauensbruch gegenüber dem Patienten verbunden sein könnte?“
„Nein!“ widersprach Lioren in scharfem Ton. „Wie gesagt, das ist mein Problem. Vielleicht hätte ich Sie nicht um Rat fragen und das Risiko eingehen sollen, daß Sie es zu Ihrem machen.“
Der Chefpsychologe ließ keinerlei Anzeichen von Verärgerung über Liorens aufsässigen Ton erkennen. „Sobald wir Hellishomars Einwilligung in die Operation haben, sollte ich Ihnen vielleicht jeden weiteren Kontakt mit ihm verbieten. Zwei Lebewesen zusammenzubringen, die derart von Schuldgefühlen geplagt werden, daß sie beide nichts lieber täten, als sich selbst das Leben zu nehmen, stellt meiner Ansicht nach ein größeres Risiko dar, weil die Chancen, daß diese Begegnung vorteilhafte oder verheerende Folgen hat, vollkommen ausgeglichen sind. Bis jetzt ist es Ihnen gelungen, eine Katastrophe zu vermeiden. Bitte fangen Sie damit an, mir zu erklären, weshalb Sie glauben, es handle sich nicht um mein Problem, und gestatten Sie mir, die Risiken selbst einzuschätzen.“
„Aber dafür wäre eine lange Erläuterung des Problems selbst nötig“, wehrte sich Lioren. „Außerdem müßte ich noch Hintergrundinformationen geben, von denen der größte Teil spekulativ und wahrscheinlich falsch wäre.“
O'Mara hob eine Hand vom Tisch hoch und ließ sie wieder sinken. „Dann lassen Sie sich Zeit“, beruhigte er ihn.
Lioren begann damit, nochmals die seltsame, nach dem Alter aufgespaltene Zivilisation der Groalterri zu beschreiben, ließ sich jedoch keineswegs viel Zeit, weil er anfangs nur Fakten wiederholte, die bereits bekannt waren, und es sich bei O'Mara nicht gerade um einen Terrestrier handelte, der für seine Geduld berühmt war. Er berichtete, daß die Eltern aufgrund der ungeheuren Körpergröße und ungeahnter Fähigkeiten ihre Bevölkerungszahl kontrollierten, ohne deshalb jemanden umzubringen, und ihren Planeten samt der nichtintelligenten Tier- und Pflanzenwelt und den Bodenschätzen in optimalem Zustand hielten, da es sich bei ihnen um eine äußerst langlebige Spezies handelte und Groalter der einzige Planet war, den sie jemals besitzen würden. Auf Groalter war jedes Leben wertvoll, und intelligentes Leben sogar wirklich kostbar. Die Kontrollmechanismen, die Gesetze, die für jeden einzelnen Tag im unglaublich langen Leben eines Groalterris maßgebend sein sollten, wurden von den Eltern den noch nicht erwachsenen Groalterri beigebracht, die sie wiederum an die jüngeren Kleinen bis zu dem Alter weitergaben, in dem sie gerade zu denken und zu sprechen begannen. Diese Gesetze, die das ganze zukünftige Verhalten auf Groalter bestimmten, wurden nicht mit körperlicher Gewalt durchgesetzt, da alles darauf hindeutete, daß es sich bei den Groalterri um eine philosophisch fortschrittliche und gewaltlose Spezies handelte. Die Kleinen wurden, wenn sie noch sehr jung waren, durch gesprochene Sprache und später, wenn sie sich dem Erwachsenenalter näherten, durch Telepathie unterrichtet, und zwar dermaßen gründlich, daß der Vorgang eher einer starken Indoktrination glich. Die Schuldgefühle, die ein Gesetzesbrecher hatte, und die Strafe, die er sich selbst auferlegte, waren so schwer, wie sie nur für denjenigen möglich waren, dem eine Religion in der strengsten und umfassendsten Form eingebleut worden war.
„Diese Theorie wird durch die Tatsache erhärtet, daß Hellishomar mehrmals darauf hingewiesen hat, nicht ein ernsthaftes Verbrechen oder einen Verstoß begangen zu haben, sondern eine schwere Sünde“, fuhr Lioren fort. „Für die Groalterri ist die allerschwerste Sünde die absichtliche und vorzeitige Vernichtung von Leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Unterlassungssünden oder begangene Sünden handelt oder ob das betreffende Leben ganz am Anfang oder kurz vorm Ende gestanden hat. Und wenn die Kleinen und ihre Eltern zutiefst religiös sind, wirft das in meinen Augen zwei weitere Fragen auf.
An was für einen Gott könnte eine Lebensform glauben, die selbst so gut wie unsterblich ist? Und was erhoffen und erwarten sie sich von einem Leben nach dem Tode?“
„Was ich mir erhoffe“, sagte O'Mara, wobei sich die buschigen Striche über den Augen senkten, „ist, daß Sie endlich zur Sache kommen. Wenn ich mir die Zeit dafür zugestehen würde, könnte aus diesem Gespräch eine interessante religiöse Debatte werden, doch bisher kann ich, was Sie betrifft, kein Problem erkennen.“
„Aber es gibt ein Problem“, stellte Lioren klar, „und das hängt sehr eng mit den religiösen Überzeugungen der Groalterri zusammen. Und, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, auch mit mir.“
„Dann erklären Sie das und versuchen Sie, sich dafür weniger Zeit zu lassen“, ermahnte ihn O'Mara.
„Bei sämtlichen Religionen, mit denen ich mich vor kurzem befaßt habe, habe ich festgestellt, daß die jeweiligen Anhänger viele Überzeugungen teilen. Abgesehen von einigen wenigen, die geringfügig kürzer oder länger leben als wir, erfreuen sich alle eines Lebens, das wir als durchschnittlich lang betrachten.“
In den Zeiten vor der Zivilisation, als viele Religionen entstanden und das Denken ihrer Anhänger dahingehend prägten, den Nächsten und sein Eigentum zu achten — eine Einstellung, die die Grundlage jeden zivilisierten Verhaltens bildet — , hatten diese Lebewesen noch einfache Bedürfnisse und Erwartungen. Bis auf einige wenige, die die Macht an sich gerissen hatten, verbrachten sie ein unglückliches Leben, das aus unablässiger Plackerei bestand. Sie wurden von Hunger und Krankheiten geplagt und ständig von einem gewaltsamen und vorzeitigen Tod bedroht, und ihre Lebenserwartung lag weit unter dem heutigen Durchschnitt.
Da war es nur natürlich, daß sie Hoffnungen und Träume hatten und schließlich an Lehren glaubten, die ihnen ein weiteres Leben verhießen und einen Himmel, in dem sie sich nicht zu plagen brauchten, keinen Hunger und keine Schmerzen zu erwarten hatten und keine Trennung von ihren Freunden erdulden mußten, und in dem sie für alle Ewigkeit leben würden.
„Da die erwachsenen Groalterri im Gegensatz dazu praktisch schon unsterblich sind, ist ihr Leben bereits lang genug, so daß eine weitere physikalische Ausdehnung auf ihrer Prioritätenliste nicht besonders weit oben steht“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Wegen ihrer gewaltigen Körpergröße und des Mangels an Beweglichkeit lassen sie ihre Beutetiere durch telepathische Befehle oder dergleichen zu sich kommen, sie müssen sich also nicht damit abmühen, zu arbeiten oder zu jagen. Um sich zu verletzen, sind sie zu groß, und Krankheit und Schmerzen sind ihnen unbekannt, bis sie sich dem Lebensende nähern. Dann bitten sie die jungen Messerheiler, ihnen zu helfen, vor dem Tod, den Hellishomar als ̃̄„Flucht“ oder ̃̄„Zeit zu sterben“ bezeichnet, das Leben noch einmal zu verlängern.
Zuerst hatte ich das für den Fall eines langlebigen Wesens gehalten, das trotz der zunehmenden Schmerzen in den letzten Jahrzehnten vor dem Tod noch länger leben möchte, doch das wäre genau das Verhalten, das man von engstirnigen, selbstsüchtigen Lebewesen erwarten würde, und das sind diese Eltern nicht. Dann bin ich darauf gekommen, daß die letzten Jahre vor dem Tod, die die Kleinen ihrem Schwur gemäß möglichst lange hinziehen müssen, von den Eltern benötigt werden, damit sie so viel Zeit wie möglich haben, sich geistig vorzubereiten und sich dem, was sie in dem Leben nach dem Tode vorzufinden glauben, würdig zu erweisen.
Für den ungeheuren Verstand und die gewaltigen Körper der Groalterri stellt der Himmel vielleicht den Ort und Zustand dar, wo sie nach den Geheimnissen der gesamten Schöpfung suchen und sie schließlich auch entdecken können, und das, was sie sich dabei am meisten ersehnen, ist Beweglichkeit“, fuhr Lioren fort. „Die brauchen sie, um aus den riesigen, organischen Gefängnissen zu entkommen, die ihre Körper sind, und auch von ihrem Planeten, indem sie sterben. Möglicherweise sehnen sie sich danach, frei durch ein Universum zu fliegen, das unendlich groß ist und für ihren gewaltigen Verstand eine intellektuelle Herausforderung darstellt, die ebenfalls grenzenlos ist.“
O'Mara hob erneut eine Hand vom Tisch hoch, doch die Unterbrechung schien eher aus Höflichkeit als aus Ungeduld von ihm gewünscht zu sein. „Eine geistreiche Theorie, Lioren, die der Wahrheit vermutlich sehr nahe kommt“, lobte er ihn. „Allerdings verstehe ich immer noch nicht, wo Ihr Problem liegt.“
„Das Problem liegt in der Absicht, die die Eltern verfolgen, indem sie uns Hellishomar geschickt haben, und darin, wie ich mich später Hellishomar gegenüber verhalten soll“, antwortete Lioren. „Haben sie auf uns eingewirkt, ihn ans Orbit Hospital zu bringen, weil sie gehofft haben, wir könnten bei ihrem jungen Messerheiler vielleicht eine vollständige Heilung erzielen, wie es alle Eltern tun würden, die zutiefst um das Wohlergehen eines ihrer Nachkommen besorgt sind? Oder glauben sie vielmehr, wir seien womöglich nicht in der Lage, die infizierten Wunden zu behandeln, die damals lebensbedrohlich gewesen sind, und erst recht nicht, den Patienten als geistig Zurückgebliebenen zu erkennen? Hoffen sie, daß Hellishomar, der unfähig ist, sich geistig und seelisch weiterzuentwickeln, durch die Behandlung, die ihm hier zuteil wird, und die Wesen, denen er dabei begegnet, eine Erfahrung macht, die er eigenartig und anregend und erfreulich finden wird, bevor er in den unteren Himmel oder in die Vorhölle oder was auch immer kommt, das den wenigen geistig zurückgebliebenen Groalterri vorbehalten ist?
Hellishomar ist in telepathischer Hinsicht taubstumm, deshalb können ihm die Eltern nicht mitteilen, was sie beabsichtigen oder daß sie ihm die Sünde, die er zu begehen versucht hat, verziehen haben“, fuhr Lioren fort. „Auch können sie ihm nicht sagen, daß sie wegen seines Kummers Mitleid mit ihm haben und einfach ihr Bestes tun, die Qualen eines geistig Behinderten zu lindern, indem sie ihm Erinnerungen an das verschaffen, was für einen lebenden Groalterri eine einzigartige Erfahrung ist, nämlich den Heimatplaneten zu verlassen. Doch nach meiner Überzeugung ist der Patient um einiges intelligenter und hat eine viel strengere religiöse Selbstdisziplin, als den Eltern klar ist.
Hellishomar versucht, das Geschenk der Eltern zurückzuweisen.
Als er eingeliefert wurde, hat er keinen Widerstand geleistet, und bei der ersten Untersuchung und Behandlung hat er bloß die einfachen Bitten von Seldal und den Schwestern erfüllt“, setzte Lioren seine Ausführungen schnell fort. „Fragen zu seiner Person wollte er weder zulassen noch beantworten, und immer wieder hielt er für lange Zeit die Augen geschlossen. Erst als ich dem Patienten von mir erzählt habe und er feststellte, daß auch ich eine schwere Sünde begangen hatte und darüber immer noch verzweifelt gewesen bin und unter Schuldgefühlen gelitten habe, hat Hellishomar vorbehaltlos von sich gesprochen. Doch selbst dann mußte ich ihm noch versprechen, bestimmte persönliche Auskünfte nicht an andere weiterzugeben, und als ich versucht habe, über die Mitgliedspezies und die Planeten der Föderation zu sprechen, hat er große Unruhe an den Tag gelegt. Auf mein Angebot hin, ihm zur Veranschaulichung Bildmaterial zu zeigen, ist er sehr aufgeregt und besorgt geworden.
Ich verlange, oder, besser gesagt, schlage mit allem Nachdruck vor, seine Kontakte mit anderen Spezies weiterhin auf ein Minimum zu beschränken und ihm alle Nachrichten, die nichts mit der bevorstehenden Operation zu tun haben, vorzuenthalten, falls notwendig, indem man seinen Translator abschaltet und ihm die Augen bedeckt, wenn bislang unbekannte Lebensformen auf der.“
„Wieso?“ erkundigte sich O'Mara in scharfem Ton.
„Weil Hellishomar ein Sünder ist und sich selbst dieses ganz kurzen Einblicks in den Himmel für unwürdig hält“, antwortete Lioren. „Für den hochintelligenten und suchenden Verstand, der in dem großen und schweren Körper der Groalterri eingeschlossen ist, bedeutet der Tod den Himmel und insbesondere die Flucht aus der Gefangenschaft des Heimatplaneten. Das Orbit Hospital und all die verschiedenen Lebensformen, die sich in ihm aufhalten, sind ein Teil dieses wohlverdienten Lebens nach dem Tode.“
O'Mara entblößte die Zähne. „Dieses Hospital ist ja schon als so manches bezeichnet worden, aber bestimmt noch nie als Himmel. Wie ich es sehe, steht Hellishomar vor einem theologischen Problem, bei dessen Lösung wir ihm behilflich sein müssen. Daß Sie ein Problem haben, sehe ich allerdings immer noch nicht. Was genau macht Ihnen zu schaffen?“
„Unsicherheit und Angst“, antwortete Lioren. „Ich weiß nicht, was die Eltern beabsichtigt haben, als sie mit dem Verstand des Captains vom Schiff in der Umlaufbahn in Kontakt getreten sind. Diese telepathische Verbindung muß ihnen eine Menge über die Föderation verraten haben, doch die religiösen Begleiterscheinungen haben sie anscheinend nicht beachtet, denn sie haben Hellishomar ja hierherbringen lassen. Vielleicht ist die Theologie der erwachsenen Groalterri subtiler und liberaler als die Form, die sie den weniger fähigen Köpfen der Kleinen beibringen müssen, oder ihnen ist einfach nicht klar gewesen, was sie tun. Womöglich haben sie, wie schon gesagt, geglaubt, Hellishomar liege aufgrund der selbst beigebrachten Wunden im Sterben, und wollten ihn dieses kleine Stückchen Himmel erleben lassen, weil sie sich unsicher waren, welches Los einen geistig Behinderten im Leben nach dem Tod erwartete, und weil sie eine Spezies mit viel Mitgefühl sind. Oder vielleicht erwarten sie von uns, den Patienten von allen Gebrechen zu kurieren und ihn wieder zurückzuschicken, damit er seinen Platz unter den Eltern einnehmen kann. Doch was geschieht, wenn wir nur seine körperlichen Verletzungen heilen?
Es ist die Antwort auf diese Frage, die nur angst macht“, schloß Lioren, „und das ist das Problem, das mich derart in Schrecken versetzt, daß ich mich fürchte, es ohne fremde Hilfe zu lösen.“
„Es versetzt Sie in Schrecken? Wie denn?“ fragte O'Mara in der ruhigen, geistesabwesenden Art von jemandem, der die Antwort bereits selbst herausgefunden hatte.
„Auf vielen Planeten gibt es Beispiele für Propheten und Lehrmeister, die aus der Wildnis kommen, um einen Glauben zu verbreiten, der an der alten Ordnung rüttelt“, antwortete Lioren. „Auf Groalter gibt es keine Gewalt und keine Möglichkeit, einen religiösen Ketzer zum Schweigen zu bringen, der gegen die Worte der Älteren taub ist. Der geistig behinderte Hellishomar ist vielleicht von seinen neuen Kenntnissen so erfüllt, daß er sich nicht, wie von ihm erwartet wird, der freiwilligen Isolation unterwerfen kann. Statt dessen könnte er den unreifen Köpfen der jüngeren Kleinen das Wissen vermitteln, daß es im Himmel riesige Maschinen für Interstellarflüge und andere technologische Wunderwerke gibt, und daß das Universum von vielen verschiedenen kurzlebigen Spezies bewohnt wird, die häufig eine geringere Intelligenz und zweifellos ein von weniger moralischen Zwängen geprägtes Verhalten als die Groalterri aufweisen. Folglich könnten die Kleinen versuchen, durch die Nutzung ihrer begrenzten Technologie und der Ressourcen ihres Heimatplaneten Maschinen zu bauen, damit ein paar von ihnen die Möglichkeit bekommen, den Planeten zu verlassen, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen, und dazu nicht erst auf ihr Lebensende zu warten brauchen. Die vielen, die nicht wegfliegen könnten, würden dagegen unter den Kleinen Unzufriedenheit stiften und die Ordnung ins Wanken bringen. Schlimmer noch, sie würden Hellishomars Lehren möglicherweise mit hinüber ins Erwachsenenalter nehmen, und das empfindliche physikalische und philosophische Gleichgewicht, das den Planeten und die Zivilisation der Groalterri viele tausend Jahre lang erhalten hat, wäre damit zerstört.
Die Cromsaggi habe ich bereits vernichtet“, schloß Lioren in kläglichem Ton, „und ich fürchte, in den Köpfen der fortschrittlichsten Zivilisation, die seit der Gründung der Föderation entdeckt worden ist, verursache ich eine noch größere Zerstörung.“
O'Mara setzte die Hände gegeneinander und blickte einen Augenblick lang auf sie hinunter, bevor er sprach. „Wir haben tatsächlich ein Problem, Lioren“, räumte er ein, wobei er das erste Wort sehr stark betonte. „Die einfache Lösung wäre, den Patienten zu verlieren, Hellishomar hier im Hospital sterben zu lassen, natürlich zum größeren Nutzen seiner Spezies. Doch das ist eine Lösung, die uns moralisch zweifelhaft erscheint, ein Relikt aus der Zeit vor der Entwicklung von Intelligenz. Wenn wir uns dieser vermeintlichen Lösung widersetzen, können wir uns der Zustimmung des gesamten Hospitalpersonals, des Monitorkorps, der Föderation und der groalterrischen Eltern sicher sein. Deshalb müssen wir für den Patienten alles tun, was in unseren Kräften steht, und hoffen, daß die Eltern ebenfalls gewußt haben, was sie taten, als sie Hellishomar zu uns geschickt haben. Einverstanden?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der Chefpsychologe fort: „Der Vorschlag, daß Sie der einzige Verbindungsmann zum Patienten bleiben sollten, ist begründet. Während der Operation wird Hellishomar von allen anderen optischen und sprachlichen Verbindungen abgeschnitten werden, und ich selbst werde mich ganz bestimmt nicht an ihn wenden. Zumindest nicht direkt.
Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Lioren“, lobte ihn O'Mara in ungewohnter Manier. „Doch Ihnen fehlt meine Berufserfahrung oder — wie es Cha Thrat bestimmt ausdrücken würde — meine Kenntnisse über die hintergründigeren Beschwörungen. Sie wissen längst nicht alles, Lioren, auch wenn Sie sich manchmal so verhalten. Beispielsweise gibt es mehrere bewährte Methoden, die Verständigung und die freundschaftlichen Beziehungen zum Patienten einer fremden Spezies wiederherzustellen, der aus emotionalen Gründen den Kontakt abgebrochen hat.“
O'Mara verstummte und streckte, den Blick nach wie vor direkt auf Lioren gerichtet, eine Hand nach dem Kommunikator auf dem Schreibtisch aus. „Braithwaite, verlegen Sie die heutigen Verabredungen auf heute abend oder morgen früh. Gehen Sie aber diplomatisch vor; schließlich handelt es sich bei Edanelt, Cresk-Sar und Nestrommli um Chefärzte. Für die nächsten drei Stunden bin ich nicht hier.
Und jetzt, Lioren, rede ich, und Sie hören zu.“