126107.fb2
Wenn einer seiner Leute Norton mit ›Commander‹ anredete oder, noch schlimmer, mit ›Mister Norton‹, dann wurde es immer ernst. Und da er sich nicht erinnern konnte, daß Boris Rodrigo ihn je zuvor so angesprochen hatte, mußte es sich diesmal um etwas besonders Ernstes handeln. Kapitänleutnant Rodrigo war auch unter normalen Umständen ein äußerst seriöser und nüchterner Mensch.
„Was gibt’s, Boris?“ fragte Norton, als die Kabinentür hinter ihnen zufiel.
„Commander, ich möchte gern um Ihre Erlaubnis bitten, die Schiffsprioritätsverbindung für eine Direktnachricht zur Erde benutzen zu dürfen.“
Das war wirklich außergewöhnlich, wenn auch kein Präzedenzfall. Routinesignale gingen zu der nächsten Planetenrelaisstation — zum gegenwärtigen Zeitpunkt war dies für sie Merkur —, und trotz der nur Minuten dauernden Übertragungszeit vergingen oft fünf bis sechs Stunden, ehe eine Nachricht auf dem Schreibtisch des Adressaten landete. In neunundneunzig Prozent der Fälle reichte dies auch vollkommen aus; doch im Notfall konnte der Kapitän entscheiden, daß direktere und sehr viel kostspieligere Verbindungswege benutzt würden.
„Sie sind sich doch darüber im klaren, daß Sie mir triftige Gründe dafür angeben müssen.
Die ganze Bandbreite, die wir zur Verfügung haben, wird für Datenübertragung benutzt und ist bereits überlastet. Handelt es sich um einen persönlichen Notfall?“
„Nein, Commander. Es ist etwas viel Wichtigeres.
Ich möchte der Mutterkirche eine Botschaft senden.“
Aha, dachte Norton bei sich. Was fange ich jetzt damit an?
„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Sache ein wenig erläutern würden.“
Hinter Nortons Forderung steckte nicht nur Neugierde, wenn sie zweifellos auch eine Rolle spielte. Wenn er nämlich Boris die erbetene Priorität einräumte, würde er seine Entscheidung später rechtfertigen müssen.
Die sonst so ruhigen blauen Augen starrten ihn an. Norton hatte noch nie erlebt, daß Boris die Kontrolle über sich verloren hätte oder anders als völlig selbstbeherrscht gewesen wäre.
Alle Kosmo-Christen waren so; dies gehörte unbedingt zu den Vorzügen, die ihr Glaube mit sich brachte, und es machte sie zu so guten Astronauten. Manchmal allerdings war ihre blinde Überzeugtheit doch ein wenig ärgerlich für jene Unglückseligen, denen die ›Offenbarung‹ nicht zuteil geworden war.
„Es handelt sich um den Zweck von Rama, Commander. Ich glaube nämlich, ich habe ihn herausgefunden.“
„Fahren Sie fort.“
„Betrachten Sie die Situation. Hier haben wir eine vollkommen leere Welt ohne Leben — und doch ist sie für menschliche Wesen bewohnbar.
Sie hat Wasser und eine Atmosphäre, in der wir atmen können. Sie kommt aus den fernsten Weiten des Weltalls und zielt direkt auf das Sonnensystem — und es scheint völlig unglaublich, daß es sich dabei um puren Zufall handeln soll. Außerdem scheint diese Welt nicht nur neu zu sein: sie sieht aus, als wenn sie nie benutzt worden wäre.“
Das haben wir doch alles schon ein gutes dutzendmal durchgekaut, sagte Norton bei sich. Was könnte Boris da Neues beibringen?
„Unser Glaube sagt uns, daß wir mit einem derartigen Besuch rechnen sollen, auch wenn wir nicht genau wissen, in welcher Form dies vor sich gehen wird. Die Bibel gibt uns da nur Andeutungen. Wenn dies nicht das Zweite Erscheinen ist, dann vielleicht das Zweite Gericht; die Geschichte Noahs beschreibt das erste. Ich glaube, daß Rama eine kosmische Arche ist, die zu uns hergeschickt wurde, um die zu retten — die der Rettung und des Heils würdig sind.“
Eine ganze Weile lang herrschte in der Kapitänskajüte völlige Stille. Nicht daß Norton etwa die Worte gefehlt hätten; im Gegenteil, es drängten sich ihm zu viele Fragen auf, und er war sich nicht sicher, welche er taktvollerweise stellen könnte.
Schließlich sagte er so sanft und unverbindlich, wie er nur konnte: „Das ist ein sehr interessantes Konzept, und obwohl ich nicht Ihrem Glauben angehöre, scheint mir persönlich doch diese Vorstellung verführerisch und logisch.“ Er war keineswegs ein Heuchler oder ein Schmeichler, wenn er das sagte; denn wenn man die religiöse Einkleidung fallenließ, dann war Rodrigos Theorie zumindest ebenso überzeugend wie ein halbes Dutzend anderer, die er sich schon hatte anhören müssen. Angenommen, der menschlichen Rasse drohte irgendeine Katastrophe, und eine freundliche und wohlwollende höhere Intelligenz wußte dies? Das würde doch alles recht säuberlich erklären.
Dennoch, es gab da noch einige Probleme zu lösen… “Ein paar Fragen, Boris. Rama wird in drei Wochen das Perihelion erreichen; dann wird er die Sonne umkreisen und das Sonnensystem ebenso rasch wieder verlassen, wie er in es eingetreten ist. Es bleibt also nicht viel Zeit für einen Tag des Gerichts oder dafür, die Leute, die — hm — erwählt sind, zu Rama rüberzufliegen, wie immer man das anstellen würde.“
„Sehr richtig. Rama wird also beim Erreichen des Perihelions abbremsen und eine Parkumlaufbahn beziehen müssen — vielleicht eine mit einem Aphelion auf der Erdbahn. Dort könnte Rama dann erneut die Geschwindigkeit ändern und eine Begegnung mit der Erde herbeiführen.“
Dies war beunruhigend plausibel. Wenn Rama im Sonnensystem verbleiben wollte, dann tat er genau das richtige. Die wirksamste Bremsmethode bestand tatsächlich darin, der Sonne so nahe wie möglich zu kommen und dort das Bremsmanöver durchzuführen. Wenn Rodrigos Theorie — oder eine Variante davon — irgendeinen wahren Kern enthielt, würde sich dies bald herausstellen.
„Noch eins, Boris. Wer übt jetzt die Kontrolle in Rama aus?“
„Es gibt kein Dogma darüber, an das wir uns halten könnten. Es könnte einfach ein Roboter sein. Oder es könnte sich um — einen Geist handeln.
Das würde erklären, warum es keine Anzeichen für biologische Lebensformen gibt.“
Der Gespensterasteroid — wieso war dieses Wort aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht?
Dann erinnerte Norton sich an eine alberne Geschichte, die er vor Jahren gelesen hatte; er hielt es jedoch für besser, Boris nicht zu fragen, ob sie ihm je unter die Augen gekommen sei. Er hegte berechtigte Zweifel, daß Boris’ Geschmack in diese literarische Richtung ging.
„Ich werde Ihnen sagen, was wir tun werden, Boris“, sagte Norton mit plötzlicher Entschlossenheit.
Er wünschte diese Unterredung zu beenden, ehe sie zu schwierig wurde, und er dachte, er hätte einen guten Kompromiß gefunden.
„Können Sie Ihre Vorstellungen in weniger als — sagen wir — tausend Bits zusammenfassen?“
„Ja, ich denke schon.“
„Gut, wenn Sie es fertigbringen, daß das wie eine handfeste wissenschaftliche Theorie klingt, dann schicke ich es mit Spitzenpriorität an das Rama-Komitee. Dann kann Ihre Kirche gleichzeitig eine Kopie erhalten, und alle sind glücklich und zufrieden.“
„Danke, Commander, ich weiß das wirklich zu schätzen.“
„Oh, ich tue dies nicht aus Gewissensgründen.
Ich bin nur einfach ziemlich neugierig, was das Komitee damit anfängt. Auch wenn ich Ihren Gedankengängen nicht restlos folgen kann, Sie sind möglicherweise auf etwas Wichtiges gestoßen.“
„Nun, das werden wir beim Perihelion wissen, nicht?“
„Ja. Am Perihelion werden wir’s wissen.“
Nachdem Boris Rodrigo gegangen war, rief Norton die Brücke und erteilte die nötigen Anweisungen.
Er hatte das Gefühl, mit dem Problem ziemlich sauber fertig geworden zu sein.
Im übrigen, was war, wenn Boris recht hatte?
Er, Norton, würde dann eventuell seine Chancen vergrößert haben, unter den Geretteten zu sein.