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Es war keine Stadt — es war eine Maschine.
Norton war nach zehn Minuten zu diesem Schluß gelangt, und er sah auch jetzt, nachdem sie die ganze Insel durchquert hatten, keinen Grund, seine Meinung zu ändern. Eine Stadt — gleichgültig von welcher Art ihre Bewohner sein mochten — mußte zweifellos irgendeine Art von Versorgung und Bequemlichkeiten aufweisen: hier war nichts dergleichen zu entdecken, außer es befand sich unter der Erde.
Und wenn dies der Fall war, wo waren dann die Zugänge, die Treppen, die Aufzüge? Er hatte nichts finden können, das auch nur entfernt an eine schlichte Tür erinnert hätte… Am nächsten kam diesem Platz hier noch ein riesiger chemischer Produktionsbetrieb, den er einmal auf der Erde gesehen hatte. Es gab hier jedoch keine Stapel von Rohstoffen, kein Anzeichen für ein Transportsystem, um Material zu befördern. Auch konnte er sich nicht vorstellen, wo das Fertigprodukt herauskommen sollte — und noch weniger, was dieses Produkt vielleicht sein könnte. Das Ganze war ziemlich verwirrend und mehr als frustrierend.
„Hat jemand Lust, eine Vermutung zu äußern?“
sagte er zu jedem, der ihn hören mochte. „Wenn das da eine Fabrik ist, was wird dann produziert?
Und woher bekommt sie ihre Rohstoffe?“
„Ich habe einen Vorschlag, Skipper“, sagte Karl Mercer drüben am anderen Ufer. „Angenommen, der Rohstoff ist die See. Nach Meinung unserer Doktorin enthält die so ziemlich alles, was man sich nur vorstellen kann.“
Die Antwort war plausibel, und auch Norton hatte sie sich bereits überlegt gehabt. Es konnte leicht unterirdische Rohrsysteme zur See geben — eigentlich mußte es sie sogar geben, weil jede nur vorstellbare chemische Fabrik große Wassermengen benötigen würde. Doch plausible Antworten waren ihm verdächtig; sie erwiesen sich zu oft als falsch.
„Ein guter Gedanke, Karl. Aber was macht New York mit seinem Seewasser?“
Lange Zeit erfolgte keine Antwort, weder vom Floß noch von der Nabe, noch von der Nordebene. Dann meldete sich unerwartet eine Stimme.
„Das ist leicht, Skipper. Aber ihr werdet mich alle auslachen.“
„Sicher nicht, Ravi. Legen Sie los.“
Sergeant Ravi McAndrews, Chefsteward und Pfleger der Simps, war die letzte Person im Schiff, die normalerweise an einer Diskussion über technische Fragen teilnahm. Sein Intelligenzquotient war bescheiden, seine wissenschaftlichen Kenntnisse minimal, doch er war kein Dummkopf und verfügte über einen natürlichen Scharfsinn, den jedermann respektierte.
„Also, sicher ist es eine Fabrik, Skipper, und vielleicht liefert ja auch die See die Rohstoffe… immerhin war das ja auch auf der Erde so, wenn auch ein bißchen anders… Ich glaube, New York ist eine Fabrik, in der — Ramaner hergestellt werden.“
Irgendwo kicherte einer, verstummte jedoch bald und gab sich nicht zu erkennen.
„Wissen Sie, Ravi“, sagte der Kommandant schließlich, „diese These ist so verrückt, daß sie richtig sein könnte. Und ich bin nicht sicher, daß ich sie gern überprüfen möchte… Jedenfalls nicht, bevor wir wieder auf dem Festland sind.“
Dieses stellare New York war in etwa so groß wie die Insel Manhattan, aber seine Geographie war eine völlig andere. Es gab nur wenige gerade Traversen; statt dessen ein Labyrinth von kurzen konzentrisch angeordneten Bögen, durch radiale Speichen miteinander verbunden.
Glücklicherweise war es im Innern Ramas unmöglich, die Orientierung zu verlieren: ein Blick zum Himmel genügte, um die Nord-Süd- Achse dieser Welt festzustellen. Sie hielten fast an jeder Kreuzung an und machten Panoramafotos.
Nach systematischer Auswertung dieser Hunderte von Bildern würde es eine zwar mühselige, aber doch recht einfache Arbeit sein, ein genaues Modell dieser Stadt im verkleinerten Maßstab zu konstruieren. Norton vermutete, daß das Puzzlespiel, das sich daraus entwickeln würde, den Wissenschaftlern mehrerer Generationen zu tun geben würde.
Es fiel übrigens hier weit schwerer, sich an die Stille zu gewöhnen als draußen auf der Ebene von Rama. Eine Stadtmaschine mußte eigentlich geräuschvoll sein; und doch hörte man nicht das leiseste elektrische Summen, nicht das geringste Flüstern von mechanischer Bewegung. Mehrmals legte Norton das Ohr auf den Boden oder gegen die Wand eines Gebäudes und lauschte angespannt. Er konnte nur das Dröhnen seines eigenen Blutes vernehmen.
Die Maschinen schliefen: sie klickten noch nicht einmal im Leerlauf. Würden sie jemals wieder erwachen und, wenn ja, zu welchem Zweck? Alles war in hervorragendem Zustand, wie alles bisher. Man konnte sich leicht vorstellen, daß eine geschlossene Schaltung in einem geduldig wartenden versteckten Computer dieses ganze Labyrinth wieder zum Leben erwecken könnte.
Als sie schließlich das andere Ende der City erreicht hatten, kletterten sie zum Kamm der Kaimauer hinauf und blickten über der südlichen Teil der See hinaus. Lange starrte Norton die fünfhundert Meter hohe Klippe an, die ihnen den Zugang zu fast der Hälfte von Rama verwehrte — der Hälfte, die nach ihren Erkundungen per Teleskop die abwechslungsreichere und vielgestaltigere war. Aus diesem Blickwinkel wirkte die Klippe wie eine bedrohliche schwarze Wand, wie eine riesige Gefängnismauer, die einen ganzen Kontinent umschloß.
Auf ihrer gesamten Länge zeigte sich nirgends eine Treppe oder eine andere Aufstiegsmöglichkeit.
Er fragte sich, wie wohl die Ramaner von New York aus ihren Südkontinent erreicht hatten.
Vielleicht gab es unter der See ein Transportsystem, aber Flugzeuge mußten sie auch gehabt haben; hier in der Stadt gab es zahlreiche freie Flächen, die sich als Landeplätze eigneten.
Es würde sie sehr viel weiterbringen, wenn sie ein Fahrzeug der Ramaner entdeckten — besonders wenn sie noch herausfänden, wie es benutzt wurde. (Aber würde irgendeine denkbare Energiequelle nach mehreren hunderttausend Jahren noch funktionieren?) Es gab hier zahlreiche Gebäude, die ihrem funktionellen Aussehen nach Hangars oder Garagen sein konnten, doch waren sie alle glatt und fensterlos, als wären sie versiegelt worden.
Früher oder später, hatte Norton sich finster gesagt, werden wir doch Sprengstoff und Laserstrahlen einsetzen müssen. Aber er war entschlossen, diese Entscheidung bis zum letzten Termin aufzuschieben.
Daß er die Anwendung roher Gewalt nach Möglichkeit zu vermeiden suchte, war zum Teil auf Stolz, zum Teil auf Furcht zurückzuführen.
Er wollte sich nicht wie ein technischer Barbar aufführen, der zertrümmerte, was er nicht begriff.
Immerhin war er ohne Einladung in diese Welt eingedrungen und mußte sich wohl dementsprechend benehmen.
Und was die Furcht betraf — so war das vielleicht ein zu starkes Wort; Befürchtung traf vielleicht eher. Die Ramaner schienen alles vorausgeplant zu haben, und es drängte ihn nicht danach zu entdecken, welche Vorsichtsmaßregeln sie zum Schutz ihres Eigentums getroffen hatten. Wenn er zum Kontinent zurücksegelte, würde er dies mit leeren Händen tun.