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Jimmy Pak hatte gerade noch Zeit durchzugeben: „Flügel knicken — ich stürze gleich ab — ich stürze ab!“, als sich die Libelle auch schon graziös um ihn zusammenfaltete. Die linke Tragfläche brach sauber in der Mitte auseinander, der äußere Teil trieb davon wie ein sanft schwebendes Blatt. Die rechte Tragfläche machte das Ganze ein wenig umständlicher. Sie drehte sich an der Verankerung herum, und zwar so schräg, daß ihre Spitze sich in das Heck verwickelte.
Jimmy hatte das Gefühl, auf einem zerbrochenen Drachen zu sitzen, der langsam vom Himmel fiel.
Aber noch war er nicht völlig hilflos; die Luftschraube funktionierte noch, und solange er einen Antrieb besaß, verfügte er noch immer über eine begrenzte Kontrolle und Steuerung.
Bestand die geringste Hoffnung, daß er die See erreichen konnte? Nein — sie war viel zu weit entfernt. Dann fiel ihm ein, daß er immer noch in Erdbegriffen dachte; obwohl er ein guter Schwimmer war, würde es doch Stunden dauern, ehe man ihn retten könnte, und inzwischen hätte ihn das giftige Wasser längst umgebracht. Seine einzige Hoffnung war eine Landung auf festem Boden. An das Problem des Steilkliffs der Südküste würde er später denken — falls es überhaupt ein ›Später‹ gab.
Er sank sehr langsam in diese Zone von einem Zehntel G, aber bald würde sein Sturz schneller werden, je weiter er sich von der Achse entfernte. Der Luftsog würde allerdings die Sache komplizieren und verhindern, daß er eine zu hohe Fallgeschwindigkeit erreichte.
Die Libelle würde auch als hilfloses Fahrzeug wie ein primitiver Fallschirm wirken. Die paar Kilopond an Kraft, die er noch aufzubringen fähig war, konnten über Leben oder Tod entscheiden.
Darin lag seine einzige Hoffnung.
Der Sender an der Nabe hatte aufgehört zu sprechen; seine Freunde konnten ganz genau verfolgen, was mit ihm passierte, und wußten, daß Reden ihm in keiner Weise helfen konnte.
Jimmy führte in diesen Sekunden die schwierigsten und geschicktesten Flugmanöver seines Lebens durch. Es ist doch ein verfluchter Mist, sagte er sich mit einem verkniffenen Grinsen, daß es so wenige Zuschauer sind und daß sie überhaupt nicht in der Lage sind, die raffinierteren Einzelheiten meiner Leistung zu schätzen.
Er stieg in einer weitgespannten Spirale ab; solange ihr Neigungswinkel ziemlich flach blieb, waren seine Oberlebenschancen relativ gut. Sein Pedaltreten trug dazu bei, die Libelle in der Luft zu halten, allerdings scheute er sich davor, mit Höchstkraft zu strampeln, damit die zerbrochenen Tragflächen nicht völlig abfielen. Und jedesmal wenn er südwärts wendete, hatte er Gelegenheit, das fantastische Schauspiel zu bewundern, das Rama freundlicherweise für ihn arrangiert hatte.
Die Lichtströme liefen immer noch wie spielerisch von der Spitze des Großen Horns zu den kleineren Gipfeln unter ihm, doch jetzt rotierte das ganze Muster. Die sechszackige Feuerkrone bewegte sich in entgegengesetzter Richtung zu der Rotation Ramas. Sie brauchte jeweils ein paar Sekunden für einen Umlauf.
Jimmy hatte den Eindruck, der Arbeit eines gigantischen Elektromotors zuzusehen.
Und wahrscheinlich war das noch nicht einmal so falsch.
Er hatte die Hälfte des Weges bis zur Ebene hinab erreicht und kreiste immer noch in flachen Spiralen weiter, als das Feuerwerk plötzlich abbrach. Er konnte fühlen, wie die Spannung im Himmel abnahm, und wußte, ohne hinsehen zu müssen, daß die Härchen auf seinen Armen nicht länger senkrecht emporstanden. Nun gab es nichts mehr, das ihn behindern oder ablenken konnte, während er die letzten paar Minuten um sein Leben kämpfte.
Jetzt, da er sicher war, wo in etwa er landen mußte, begann er das Gebiet sehr intensiv zu studieren. Zum Großteil setzte sich diese Region aus schachbrettartigen Flächen von völlig widersprüchlichen Mustern zusammen, als habe man einem wahnsinnigen Landschaftsarchitekten plein pouvoir gegeben und ihm aufgetragen, seiner Fantasie völlig freien Lauf zu lassen. Die Quadrate des Schachbretts hatten eine Seitenlänge von fast einem Kilometer, und obgleich die meisten flach wirkten, konnte Jimmy nicht sicher sagen, ob es sich um festen Boden handelte, da ihre Farben und Oberflächen sich so stark voneinander unterschieden.
Er beschloß, bis zum letztmöglichen Augenblick abzuwarten. Falls ihm dann überhaupt noch eine Wahl blieb.
Als er nur noch ein paar hundert Meter unter sich hatte, rief er zum letztenmal die Nabe an.
„Ich kann immer noch ein bißchen steuern.
In einer halben Minute bin ich unten. Rufe dann wieder.“
Das war reiner Optimismus, sie wußten es alle. Aber er weigerte sich, adieu zu sagen; er wollte, daß seine Kameraden wüßten, daß er kämpfend — und ohne Furcht — gefallen war.
Tatsächlich verspürte er sehr wenig Furcht, und eigentlich überraschte ihn das selbst, denn er hatte sich nie für einen außergewöhnlich tapferen Mann gehalten. Fast kam es ihm so vor, als schaue er den verzweifelten Bemühungen eines ihm völlig Fremden zu und als sei er persönlich von der Sache überhaupt nicht betroffen.
Es war eher so, als untersuche er ein interessantes aerodynamisches Problem und verändere diverse mathematische Größen, um festzustellen, was passieren würde. Fast das einzige Gefühl in ihm war ein vages Bedauern über verpaßte Gelegenheiten — deren weitaus wichtigste die nächste Lunar-Olympiade war.
Immerhin, eine Zukunftshoffnung war endgültig zunichte: die Libelle würde niemals ihre Volten auf dem Mond präsentieren.
Einige hundert Meter noch. Die Landungsgeschwindigkeit schien erträglich, aber wie schnell fiel er eigentlich? Und hier hatte er wirklich ein bißchen Glück: das Terrain war vollkommen flach. Er würde seine ganze Kraft für eine letzte gewaltige Anstrengung zusammenraffen, und zwar — JETZT: Der rechte Flügel riß am Rumpf ab, jetzt, da er seinen Zweck erfüllt hatte. Die Libelle begann zu trudeln, Jimmy versuchte auszugleichen, indem er seinen Körper in die entgegengesetzte Richtung zur Drehung warf. Er blickte direkt auf ein sechzehn Kilometer entferntes Rundpanorama von Landschaft, als er aufprallte.
Irgendwie erschien es ihm äußerst unfair und auch ganz unsinnig, daß der Himmel so hart sein sollte.