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Al Jimmy Pak das Bewußtsein wiedererlangte, war sein erster Eindruck ein schneidender Kopfschmerz. Fast war er froh darüber, denn das bewies doch wenigstens, daß er noch am Leben war.
Dann versuchte er sich zu bewegen, und sofort machten sich die verschiedensten Schmerzen bemerkbar. Doch soweit er feststellen konnte, schien nichts gebrochen zu sein.
Danach wagte er, die Augen zu öffnen, schloß sie aber sofort wieder, als er merkte, daß er direkt in einen Lichtstrahl längs der Decke der Welt schaute. Als Medizin gegen Kopfschmerzen war dieser Anblick nicht gerade zu empfehlen.
Er lag noch immer so da, versuchte seine Kräfte zu sammeln und überlegte sich, wann er wohl ohne Gefahr die Augen öffnen könnte, als er plötzlich ganz in seiner Nähe ein krachendes Geräusch hörte. Er wendete den Kopf ganz langsam in Richtung dieses Lautes, riskierte einen Blick — und verlor beinahe erneut das Bewußtsein.
Knapp fünf Meter entfernt verspeiste ein offensichtlich krebsähnliches Geschöpf das Wrack seiner armen Libelle. Als Jimmy sich gefaßt hatte, rollte er sich langsam und ruhig von dem Ungeheuer fort. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß ihn diese Scheren packen würden, wenn das Biest entdeckte, daß es da was Besseres zu fressen gab. Das Ding nahm jedoch nicht die geringste Notiz von ihm, und so stemmte sich Jimmy hoch zum Sitzen, nachdem er den Abstand zwischen sich und dem Biest auf zehn Meter erweitert hatte.
Aus dieser etwas größeren Entfernung wirkte das Ding nicht mehr ganz so erschreckend.
Es hatte einen flachen niederen Leib von etwa zwei Metern Länge und einem Meter Breite, der auf sechs Beinen mit dreigliedrigen Gelenken ruhte. Jimmy merkte, daß es ein Irrtum war zu glauben, das Ding fräße seine Libelle auf; er konnte effektiv keine Spur von einer Mundöffnung feststellen. Das Geschöpf war im Augenblick dabei, säuberliche Zerstörungsarbeit zu leisten. Es setzte seine scherenähnlichen Klauen ein und zerschnitt das Luftrad in kleine Stücke. Eine ganze Reihe von Manipulatoren, die auf unheimliche Weise an winzige menschliche Hände erinnerten, sammelten dann die Bruchstücke zu einem beständig größer werdenden Haufen auf dem Rücken des Dings.
Aber war das wirklich ein Tier? Obgleich dies Jimmys erster Eindruck gewesen war, dachte er nun anders darüber. Das Ding legte ein Verhalten an den Tag, das auf eine ziemlich hohe Intelligenz schließen ließ; und Jimmy konnte sich nicht erklären, warum ein reines Instinktwesen die Trümmer seines Luftrades sorgfältig zusammenklauben sollte — es sei denn, es sammle Material für ein Nest.
Jimmy behielt das krebsähnliche Gebilde vorsichtig im Auge, während er auf die Füße zu kommen versuchte, doch das Ding schien ihn überhaupt nicht zu beachten. Ein paar schwankende Schritte bewiesen ihm, daß er noch gehen konnte, allerdings war er nicht sicher, ob er es notfalls mit diesen sechs Beinen aufnehmen könnte. Dann knipste er sein Funkgerät an, ohne den geringsten Zweifel, daß es noch funktionieren würde. Ein Aufprall, den er überleben konnte, würde von seiner exzellenten Solid-State-Elektronik wahrscheinlich nicht einmal bemerkt worden sein.
„Nabenkontrolle“, sagte er leise. „Könnt ihr mich hören?“
„Gott sei Dank! Sind Sie okay?“
„Ja, nur ein bißchen angeschlagen. Schaut euch mal das da an.“
Er richtete seine Kamera auf den Krebs, gerade noch rechtzeitig, um die endgültige Zerstörung des Flügels der Libelle aufzuzeichnen.
„Was, zum Teufel, ist das denn — und warum verspeist es Ihr Flugrad?“
„Wüßte ich auch gern. Mit der Libelle ist es jetzt fertig. Ich mach mich jetzt aus dem Staub, falls es die Absicht hat, sich an mich ranzumachen.“
Jimmy zog sich langsam zurück, wobei er den Krebs nicht aus den Augen ließ. Das Ding bewegte sich nun in immer größer werdenden Kreisen, offenbar auf der Suche nach Bruchstücken, die es zuvor vielleicht übersehen hätte, und so gelang Jimmy zum erstenmal, das Geschöpf als Ganzes zu betrachten.
Nun, da er den ersten Schrecken überwunden hatte, fand er, daß es eigentlich ein recht hübsches Tierchen war. Die Bezeichnung Krebs, die er ihm automatisch gegeben hatte, war wohl ein wenig irreführend: wenn es nicht so unglaublich groß gewesen wäre, hätte er es wohl als Käfer bezeichnet. Sein Rückenpanzer hatte einen schönen metallischen Schimmer; tatsächlich hätte er schwören können, daß es Metall war.
Das war ein interessanter Gedanke. Konnte es ein Roboter sein, also kein Tier? Er starrte nachdenklich den Krebs an und versuchte alle Einzelheiten seiner Anatomie zu analysieren.
Wo die Mundöffnung hätte sein müssen, befand sich eine Reihe von Manipulatoren, die Jimmy stark an die Vielzweckmesser, das Entzücken aller richtigen Jungs, erinnerten; da gab es Kneifzangen, Ahlen, Feilen und sogar so eine Art Bohrer. Doch in keinem Fall konnte er daraus ableiten, was dieses Ding war. Auf der Erde hatte die Welt der Insekten alle diese Werkzeuge und viele mehr entwickelt. Die Frage, ob Tier oder Roboter, blieb unentschieden.
Die Augen, anhand derer er das Problem hätte klären können, machten die Sache nur noch komplizierter. Sie lagen so tief hinter Schutzkappen zurückgezogen, daß man unmöglich sagen konnte, ob ihre Linsen aus Kristall oder Gallerte bestanden. Sie waren völlig ausdruckslos und von einem erstaunlich dunklen Blau. Obwohl sich diese Augen mehrere Male auf Jimmy gerichtet hatten, war in ihnen kein einziges Mal auch nur das geringste Interesse aufgeflackert. Nach Jimmys wohl etwas voreingenommener Meinung entschied dies über die Intelligenz des Geschöpfes. Ein Wesen — ob Roboter oder Tier —, das einen Menschen ignorierte, konnte nicht besonders intelligent sein.
Es hatte jetzt seine Kreisbewegungen eingestellt und blieb einige Sekunden lang still stehen, als lausche es auf irgendeine unhörbare Nachricht. Dann machte es sich in einer seltsamen rollenden Gangart in Richtung auf die See davon. Es bewegte sich mit etwa vier bis fünf Stundenkilometern auf einer völlig geraden Strecke dahin und war bereits einige hundert Meter weit entfernt, als es dem immer noch leicht verwirrten Gehirn Jimmys klarwurde, daß da die letzten traurigen Überreste seiner geliebten Libelle von ihm fortgeschleppt wurden. Zornig und empört machte er sich an die Verfolgung.
Sein Verhalten war nicht völlig unlogisch.
Der Krebs bewegte sich in Richtung See — und wenn es für Jimmy überhaupt eine Rettung gab, dann nur in dieser Richtung. Außerdem wollte er herausfinden, was das Geschöpf mit seiner Beute anfangen würde; das müßte wenigstens eine gewisse Aufklärung über seine Motive und seine Intelligenz bringen.
Da er noch immer unter den Prellungen seines Sturzes litt und noch ziemlich steif war, dauerte es ein paar Minuten, bis Jimmy den zielbewußt vorwärtsrollenden Krebs eingeholt hatte. Dann folgte er ihm in respektvollem Abstand, bis er sicher sein konnte, daß das Ding nichts gegen seine Anwesenheit einzuwenden hatte. Erst da bemerkte er, daß seine Wasserflasche und die Notration mitten in den Trümmern der Libelle lagen, und empfand sofort Hunger und Durst.
Dort vor ihm huschte mit gleichmäßigen fünf Stundenkilometern seine einzige Nahrung und das einzige Trinkwasser fort, das es in dieser Hälfte der Welt gab. Wie hoch auch das Risiko sein mochte, er mußte die Notration zurückbekommen.
Er holte den Krebs vorsichtig ein, wobei er sich genau in seinem Rücken hielt. Während sie vorwärtskamen, beobachtete er genau den komplizierten Rhythmus der Beine des Tieres, bis er genau wußte, wo sie im nächsten Moment sein würden. Als er soweit war, murmelte er ein kurzes „Sie entschuldigen doch?“ und packte sein Eigentum. Jimmy hätte es sich niemals träumen lassen, daß er eines Tages seine Fingerfertigkeit als Taschendieb unter Beweis stellen müßte, aber jetzt war er doch recht froh über seinen Erfolg. Er war in Sekundenbruchteilen wieder in Sicherheit, und der Krebs verlangsamte sein ständiges Vorwärtsrollen keinen Augenblick lang.
Jimmy fiel ein paar Meter zurück, befeuchtete sich die Lippen mit dem Wasser aus der Feldflasche und begann an einem Riegel Fleischkonzentrat zu kauen. Sein kleiner Sieg machte ihn gleich viel zuversichtlicher; jetzt konnte er es sogar wagen, sich Gedanken über seine düsteren Zukunftsaussichten zu machen.
Wo Leben ist, ist Hoffnung. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man ihn retten sollte. Selbst wenn seine Kameraden das Meer überqueren würden, wie sollte er zu ihnen gelangen, wenn sie einen halben Kilometer unter ihm waren? „Wir werden einen Weg runter finden, irgendwie!“ hatte ihm die Kontrollstation an der Nabe versprochen. „Dieses Kliff kann nicht um die ganze Welt herumlaufen, ohne daß irgendwo eine Unterbrechung ist.“ Er war versucht gewesen zu antworten: „Wieso eigentlich nicht?“, aber er hatte es dann doch lieber bleiben lassen.
Es war eine der besonderen Merkwürdigkeiten, daß man beim Marschieren auf Rama stets sah, in welche Richtung man ging. Hier versteckte die Krümmung der Welt nicht, was vor einem lag, sie enthüllte es. Seit einiger Zeit war es Jimmy bereits klargeworden, wohin der Krebs wollte. Dort vor ihnen, auf dem Gebiet, das sich vor ihm zu erheben schien, war eine breite Grube von etwa einem halben Kilometer Durchmesser. Es war eine von dreien auf dem Südkontinent, und man hatte von der Nabe aus nicht feststellen können, wie tief sie waren. Man hatte sie nach berühmten Mondkratern benannt. Er näherte sich nun dem Krater Kopernikus. Der Name paßte nicht so recht, denn hier gab es keine Hügel ringsum und keine Bergspitzen in der Mitte. Dieser Kopernikus war nur ein tiefer Schacht oder Brunnen mit vollkommen senkrechten Wänden.
Als Jimmy nahe genug war, um einen Blick in den Schacht zu werfen, sah er mindestens einen halben Kilometer tiefer einen Teich mit übel aussehendem bleigrünem Wasser. Das mußte etwa der gleiche Wasserstand sein wie der in der See, und Jimmy fragte sich, ob beide Gewässer wohl miteinander verbunden waren.
Das Innere hinab zog sich eine spiralförmige Rampe, die völlig in der Wand verschwand, so daß fast der Eindruck von Zügen in einem riesigen Flintenlauf entstand. Die Spiralen schienen bemerkenswert zahlreich zu sein. Und erst als Jimmy ihnen mehrere Umläufe lang gefolgt war, wobei er sich immer häufiger verzählte, bemerkte er, daß da nicht eine Rampe, sondern drei hinabführten, die voneinander völlig unabhängig und im Winkel von 120 Grad zueinander angeordnet waren. In jeder anderen Umgebung als der Ramas wäre diese ganze Anordnung als beeindruckende architektonische tour de force erschienen.
Die drei Rampen führten geradewegs zu dem Tümpel hinunter und verschwanden unter seiner undurchsichtigen Oberfläche. Etwas über der Wasserlinie konnte Jimmy mehrere dunkle Tunneleingänge oder Höhlen entdecken; sie wirkten ziemlich unheimlich, und er fragte sich, ob sie vielleicht bewohnt sein könnten.
Vielleicht waren die Ramaner Amphibien… Als der Krebs den Rand des Brunnens erreichte, glaubte Jimmy bestimmt, er werde eine der Rampen hinunterklettern — vielleicht, um die Wrackteile der Libelle irgendeinem Wesen vorzulegen, das sie bewerten konnte. Statt dessen ging die Kreatur genau bis zum Rand, schob fast die Hälfte ihres Körpers ohne das geringste Zögern über den Abgrund hinaus, obwohl ein paar Zentimeter mehr katastrophal gewesen wären, und schüttelte sich kurz. Die Bruchstücke der Libelle flatterten in die Tiefe hinab; während sie vor seinen Blicken verschwanden, traten Jimmy Tränen in die Augen.
Das ist jetzt die ganze Intelligenz dieses Geschöpfs, dachte er.
Nachdem sie den Müll beseitigt hatte, wendete sich die Krebskrabbe um und begann auf Jimmy aus nur zehn Meter Entfernung zuzulaufen. Steht mir jetzt die gleiche Behandlung bevor? fragte er sich. Er hoffte nur, daß er die Kamera nicht verwackelte, während er der Nabenkontrolle das rasch herankrabbelnde Ungeheuer zeigte. „Was schlagt ihr vor?“ flüsterte er hastig und ohne große Hoffnung, daß er eine brauchbare Antwort erhalten werde. Ein winziger Trost für ihn war allerdings das Bewußtsein, daß er hier und jetzt Geschichte machte, und seine Gedanken durcheilten blitzschnell die für eine solche Begegnung vorgesehenen Verhaltensmuster. Bis zu diesem Augenblick war all das reine Theorie gewesen. Er würde der erste Mensch sein, der sie in der Praxis ausprobierte.
„Laufen Sie nicht davon, bevor Sie nicht sicher sind, daß das Ding wirklich feindselig ist“, flüsterte die Nabenkontrolle zu ihm zurück.
Davonlaufen? Wohin? fragte sich Jimmy.
Er glaubte zwar, daß er das Ding in einem Hundertmetersprint hinter sich lassen konnte, aber er war sich auch verdammt klar darüber, daß es ihn ohne Zweifel auf lange Sicht unterkriegen würde.
Langsam hob Jimmy seine ausgestreckten Hände. Seit zweihundert Jahren hatte sich die Menschheit mit dieser Geste herumgeplagt und — gestritten: würde jedes Geschöpf im ganzen Universum sie als ›Schau — keine Waffen!‹ interpretieren? Aber es war keinem etwas Besseres eingefallen.
Der Krebs zeigte weder eine Reaktion, noch verlangsamte er sein Tempo. Er beachtete Jimmy überhaupt nicht, wanderte direkt neben ihm vorbei und eilte zielstrebig nach Süden.
Er kam sich äußerst idiotisch vor, dieser erste Vertreter der Gattung Homo sapiens, als er zuschaute, wie sein erster Kontakt, völlig ungerührt von seiner Existenz, über die Rama-Ebene entschwand.
Selten in seinem Leben war Jimmy so gedemütigt worden. Dann kam ihm sein Humor zu Hilfe. Alles in allem war es ja wirklich keine große Staatsangelegenheit, wenn ihn ein lebendiges Müllauto nicht beachtete. Schlimmer wäre es gewesen, wenn es ihn als einen langvermißten Bruder begrüßt hätte… Er ging wieder zum Rand des Kopernikus zurück und starrte auf das undurchsichtige Wasser hinunter. Erst jetzt bemerkte er, daß sich unbestimmbare Gestalten — manche davon wirkten ziemlich groß — langsam unter der Oberfläche hin- und herbewegten. Gerade steuerte eine davon die nächste Spiralrampe an, und dann begann etwas, das wie ein vielbeiniger Tank aussah, den langen Aufstieg. Bei der Geschwindigkeit, die es anschlug, berechnete Jimmy, würde es mindestens eine Stunde brauchen, um heraufzukommen; wenn es also eine Bedrohung war, dann eine sehr langsame.
Dann nahm er eine viel raschere undeutliche Bewegung nahe der höhlenartigen Eingänge über der Wasserlinie wahr. Irgend etwas glitt sehr schnell die Rampe entlang, aber er konnte es nicht genau erkennen, auch keine eindeutige Gestalt ausmachen. Es war, als blicke er auf einen kleinen Wirbelwind oder ›Staubteufel‹ etwa von der Größe eines Mannes… Er blinzelte und schüttelte den Kopf, dann hielt er die Augen ein paar Sekunden lang geschlossen.
Als er sie wieder öffnete, war die Erscheinung verschwunden.
Der Aufprall hatte ihn möglicherweise doch stärker durcheinandergeschüttelt, als er geglaubt hatte; dies war das erstemal gewesen, daß er unter visuellen Halluzinationen gelitten hatte. Er würde der Nabenkontrolle nichts davon melden.
Und er würde sich auch nicht die Mühe machen, diese Rampen zu untersuchen, wie er sich das schon fast vorgenommen hatte. Das wäre eine ganz klare Energieverschwendung.
Das wirbelnde Phantom, das zu sehen er sich bloß eingebildet hatte, spielte selbstverständlich bei seiner Entscheidung keine Rolle.
Oberhaupt keine; denn Jimmy glaubte natürlich nicht an Gespenster.