126107.fb2
Commander Norton hatte bisher noch keinen Mann seiner Besatzung verloren, und er gedachte dies auch diesmal nicht zu tun. Schon vor Jimmys Aufbruch zum Südpol hatte Norton über Rettungsmöglichkeiten für den Fall eines Unglücks nachgedacht; das Problem war allerdings dermaßen schwierig, daß er keine Lösung gefunden hatte. Es war ihm nur gelungen, alle offensichtlichen Lösungen auszuklammern.
Wie erklettert man eine fünfhundert Meter hohe senkrechte Steilwand — selbst bei verringerter Schwerkraft? Mit der richtigen Ausrüstung — und mit entsprechendem Training — würde das leicht genug fallen. Aber auf der Endeavour gab es keine Bolzengewehre, und keiner fand eine andere praktische Methode, wie man die Hunderte von nötigen Haken in die harte spiegelglatte Fläche hätte treiben sollen.
Norton hatte sich kurz mit ausgefalleneren Lösungen beschäftigt, von denen manche ausgesprochen verrückt waren. So zum Beispiel: Wenn ein Simp mit Saugnäpfen den Aufstieg machen würde… Doch selbst wenn dieser Plan durchführbar wäre, wie lange würde es dauern, eine derartige Ausrüstung herzustellen und zu erproben — und einem Simp beizubringen, wie man sie benutzt? Und er zweifelte daran, daß ein Mensch die erforderliche Kraft für eine solche Heldentat aufbrächte.
Dann wendete er sich der fortschrittlicheren Technik zu. Die Triebsätze der EVA wirkten verführerisch, doch ihr Schub war zu gering, sie waren für Operationen unter Null-Schwerkraft gebaut. Sie konnten keinesfalls das Gewicht eines Mannes heben, selbst unter der bescheidenen Schwerkraft von Rama.
Oder konnte man einen EVA-Treibsatz mit automatischer Steuerung und einer Rettungsleine hochschicken? Norton hatte diese Idee an Sergeant Myron ausprobiert, der sie prompt und hitzig abgeschossen hatte. Es ergäben sich, erklärte der Ingenieur, schwerwiegende Stabilitätsprobleme; sie könnten gelöst werden, doch das würde lange dauern — viel länger, als sie sich leisten könnten.
Und Ballons? Hier schien sich eine vage Möglichkeit abzuzeichnen, falls es ihnen gelang, eine Hülle zu konstruieren und eine ausreichend kompakte Hitzequelle. Diese Methode hatte Norton als einzige nicht abgelehnt, als das Problem plötzlich nicht mehr bloße Theorie war, sondern sich zu einer Frage von Leben oder Tod, diskutiert in allen Nachrichtenmedien der bewohnten Welten, entwickelte.
Während Jimmy sich auf seinem Treck längs der Küste befand, versuchte die Hälfte aller Sonderlinge und Wirrköpfe des Sonnensystems, ihn zu retten. Im Flottenhauptquartier wurden alle Vorschläge erwogen, und etwa jeder Tausendste wurde an die Endeavour weitergeleitet.
Der Vorschlag Dr. Carlisle Pereras kam gleich zweimal an: einmal über das Funknetz von SURVEY und einmal durch PLANETCOM; PRIORITÄT RAMA. Der Plan hatte den Wissenschaftler ungefähr fünf Minuten Nachdenken und eine Millisekunde Computerzeit gekostet.
Zunächst hatte Commander Norton es für einen äußerst geschmacklosen Scherz gehalten.
Dann sah er den Namen des Absenders und die beigefügten Berechnungen und änderte schlagartig seine Meinung.
Er reichte Karl Mercer die Nachricht.
„Was halten Sie davon?“ fragte er, so beiläufig er konnte.
Karl las rasch, dann sagte er: „Also, verdammt noch mal! Er hat natürlich recht.“
„Sind Sie sicher?“
„Er hat mit dem Orkan auch recht gehabt, oder? Wir hätten selbst auf das hier kommen müssen. Ich komme mir wie ein Trottel vor.“
„Da sind Sie nicht der einzige. Aber das nächste Problem ist — wie sagen wir’s unserm Jimmy?“
„Ich glaube, wir sollten es ihm gar nicht sagen… erst im allerletzten Moment. Ich würde es jedenfalls vorziehen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Sagen Sie ihm einfach, wir ziehen los.“
Er konnte zwar die ganze Weite der Zylindrischen See überblicken, und er wußte auch ungefähr, aus welcher Richtung das Rettungsfloß Resolution auftauchen würde, aber er entdeckte das winzige Fahrzeug doch erst, als es bereits New York hinter sich gelassen hatte. Jimmy konnte es fast nicht glauben, daß das Floß sechs Mann tragen sollte — und dazu noch, was immer sie an Ausrüstung zu seiner Rettung mitgeführt hatten.
Als das Floß nur noch einen Kilometer weit weg war, erkannte er Commander Norton und begann zu winken. Kurz darauf hatte ihn auch der Käptn entdeckt und winkte zurück.
„Freut mich, daß Sie in guter Verfassung sind, Jimmy“, funkte er. „Ich hatte doch versprochen, daß wir Sie nicht allein hier hängenlassen.
Glauben Sie’s mir jetzt?“
Nicht so recht, dachte Jimmy. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich noch gefragt, ob das Ganze nicht bloß ein freundschaftliches Komplott sei, um seine Moral ein wenig zu stützen.
Doch der Kommandant hätte sicher nicht das Meer überquert, bloß um ihm adieu zu sagen; er mußte irgendwas ausgetüftelt haben.
„Ich glaube Ihnen, Skipper“, sagte er, „wenn ich da unten bei euch an Deck bin. Wollen Sie mir jetzt sagen, wie ich es schaffen soll?“
Die Resolution verlangsamte jetzt einige hundert Meter vom Fuß des Kliffs entfernt die Fahrt; soweit Jimmy sehen konnte, hatte sie keine außergewöhnlichen Geräte an Bord — allerdings wußte er nicht genau, womit er gerechnet hatte.
„Tut uns leid, Jimmy, aber wir wollten nicht, daß Sie sich über zu viele Kleinigkeiten Gedanken machen.“
Also, das klang wirklich verdächtig; was zum Kuckuck sollte das heißen?
Die Resolution lag nun fünfzig Meter von Land und fünfhundert Meter unter ihm still; Jimmy konnte den Kapitän beinahe aus der Vogelperspektive betrachten, während dieser in sein Mikrofon redete.
„Die Sache ist so, Jimmy. Alles ist völlig sicher, aber es gehören Nerven dazu. Und wir wissen, daß Sie davon nicht zu knapp haben.
Sie werden springen.“
„Was? Fünfhundert Meter?!“
„Ja, aber bei nur einem halben G.“
„Na und? Sind Sie schon mal zweihundertfünfzig Meter tief auf der Erde abgestürzt?“
„Klappe! Oder ich streiche Ihren nächsten Urlaub. Sie hätten da ganz von selbst draufkommen müssen… Es ist einfach eine Frage der Endgeschwindigkeit. In dieser Atmosphäre können Sie gar nicht schneller fallen als neunzig Kilometer pro Stunde — gleich, ob Sie zweihundert oder zweitausend Meter fallen. Neunzig ist ein bißchen zu hoch, um angenehm zu sein, aber wir können da noch was wegnehmen.
Hier ist, was Sie zu tun haben. Hören Sie also genau zu…“
„Werde ich“, sagte Jimmy. „Und hoffentlich ist es was Vernünftiges.“
Danach unterbrach er den Commander nicht mehr und lieferte auch keinen Kommentar, als Norton zu Ende gesprochen hatte. Ja, das war vernünftig, und es war so wahnsinnig einfach, daß es nur einem Genie einfallen konnte. Und vielleicht jemandem, der nicht damit rechnen mußte, es selbst durchzuführen… Jimmy hatte nie Turmspringen oder verzögerte Fallschirmabsprünge ausprobiert, was ihn psychologisch ein wenig auf eine solche Bravourtat vorbereitet haben würde. Man konnte einem Menschen sagen, es sei vollkommen sicher, auf einer Planke über einen Abgrund zu gehen — aber selbst wenn die Strukturberechnungen unanfechtbar waren, war es diesem Menschen vielleicht immer noch unmöglich, es zu tun. Jimmy begriff jetzt, warum der Commander so zurückhaltend mit den Einzelheiten der Rettungsaktion gewesen war. Man hatte ihm keine Zeit lassen wollen, zu brüten oder sich Einwände auszudenken.
„Ich will Sie nicht drängeln“, klang die Stimme Nortons überredend einen halben Kilometer unter ihm. „Aber je früher, desto besser.“
Jimmy blickte auf sein kostbares Andenken: die einzige Blume in Rama. Er wickelte sie vorsichtig in sein verschmiertes Taschentuch ein, knotete die Enden zusammen und warf es über den Klippenrand hinab.
Es flatterte mit beruhigender Langsamkeit hinunter, doch es brauchte auch sehr lange, wurde kleiner und kleiner und kleiner, bis er es nicht mehr sehen konnte. Doch dann schoß die Resolution vorwärts, und er wußte, sie hatten es gesichtet.
„Wunderschön!“ rief der Commander begeistert aus. „Ich bin sicher, man wird es nach Ihnen benennen. — Okay… wir warten…“
Jimmy zog sich das Hemd über den Kopf — die einzige Kleidung, die sie alle in diesem nun tropisch gewordenen Klima auf dem Oberkörper trugen — und dehnte es nachdenklich aus.
Während seines Trips hätte er es mehrmals beinahe weggeworfen; jetzt half es vielleicht, ihm das Leben zu retten.
Zum letztenmal blickte er auf diese Hohlwelt zurück, die er als einziger Mensch erforscht hatte, auf die bedrohlichen Gipfel des Großen Horns und der Kleinen Hörner. Dann packte er mit der rechten Hand fest das Hemd und sprang nach kurzem Anlauf so weit über das Kliff weg, wie er konnte.
Nun brauchte er sich nicht besonders zu beeilen: er hatte ganze zwanzig Sekunden Zeit, das Erlebnis zu genießen. Aber er verschwendete keine Zeit, als der Fallwind um ihn herum stärker wurde und die Resolution in seinem Gesichtsfeld langsam größer wurde. Er hielt sein Hemd mit beiden Händen fest und streckte die Arme über den Kopf, bis die rauschende Luft es füllte und zu einem bauchigen Fallschirm aufblies.
Nun, als Fallschirm war sein Hemd nicht gerade ein Erfolg; die paar Stundenkilometer, die sein Fall dadurch abgebremst wurde, kamen zwar gelegen, waren aber nicht lebenswichtig.
Das Hemd erfüllte eine viel wichtigere Aufgabe — es hielt seinen Körper in der Senkrechten, so daß er gerade in die See schießen würde.
Immer noch hatte er den Eindruck, sich selbst überhaupt nicht zu bewegen, daß dagegen das Wasser unter ihm zu ihm heraufstürze.
Jetzt, da er sich auf die Sache eingelassen hatte, empfand er keine Furcht mehr; tatsächlich war er sogar ein wenig auf den Skipper wütend, weil der ihn so lange im dunkeln gelassen hatte. Hatte der denn wirklich gedacht, daß er, Jimmy, zu feige sein würde zu springen, wenn er länger darüber nachgrübelte?
Im allerletzten Moment ließ er das Hemd los, holte tief Luft und preßte die Hände über Nase und Mund. Wie man ihm befohlen hatte, versteifte er seinen Körper zu einem starken Block und preßte die Füße gegeneinander. Er würde so sauber wie ein stürzender Speer ins Wasser tauchen… „Es wird ganz genauso sein“, hatte der Commander ihm versprochen, „wie wenn Sie von einem Sprungbrett auf der Erde springen. Gar nix dabei — wenn man richtig eintaucht.“
„Und wenn ich das nicht tue?“ hatte Jimmy gefragt.
„Dann müssen Sie wieder rauf und es noch mal versuchen.“
Etwas traf ihn auf die Fußsohlen — hart, aber nicht brutal. Eine Million schleimiger Hände rissen an seinem Körper; in seinen Ohren dröhnte es, ein wachsender Druck — und obwohl er die Augen fest geschlossen hielt, wußte er, daß die Dunkelheit um ihn herum wuchs, während er wie ein Pfeil in die Tiefen der Zylindrischen See hinabschoß.
Mit aller Kraft begann er nach oben, dem schwindenden Licht entgegenzuschwimmen.
Er vermochte die Augen nur zu einem ganz kurzen Blick zu öffnen; das Giftwasser brannte wie Säure. Ihm schien, als kämpfe er seit Stunden, und mehr als einmal überfiel ihn eine alptraumhafte Furcht, daß er die Richtung verloren habe und in Wirklichkeit nach unten schwimme. Dann riskierte er immer wieder einen kurzen raschen Blick, und jedesmal war das Licht kräftiger geworden.
Er hatte die Augen noch immer fest zusammengekniffen, als er zur Oberfläche durchbrach.
Er schluckte eine Lunge voll köstlicher Luft, rollte auf den Rücken und blickte sich um.
Die Resolution eilte mit Höchstgeschwindigkeit auf ihn zu; Sekunden später packten ihn eifrige Hände und zogen ihn an Bord.
„Haben Sie Wasser geschluckt?“ fragte der Kapitän besorgt.
„Ich glaube nicht.“
„Spülen Sie trotzdem hiermit aus. So ist’s gut. Wie fühlen Sie sich?“
„Ich weiß noch nicht so recht. Ich sag es Ihnen gleich. Ach… übrigens, danke euch allen.“ Aber einen Augenblick später wußte Jimmy nur allzu genau, wie er sich fühlte.
„Mir wird schlecht“, gestand er kläglich. Seine Retter schauten ihn ungläubig an.
„Bei völliger Flaute — auf einer vollkommen flachen See?“ protestierte Sergeant Barnes, die Jimmys üblen Zustand als direkten Vorwurf gegen ihre nautischen Fähigkeiten aufzufassen schien.
„Also flach würde ich es ja nicht gerade nennen “, sagte der Commander und schwang den Arm das Band entlang, das zum Kreis in den Himmel hinaufstieg. „Aber machen Sie sich nichts draus, Jimmy, vielleicht haben Sie doch was von dem Zeug geschluckt. Bringen Sie’s raus, so rasch es geht.“
Jimmy quälte sich noch immer unheldisch und erfolglos ab, als am Himmel hinter ihnen plötzlich ein Licht aufflackerte. Alle wandten den Blick zum Südpol, und Jimmy vergaß seine Übelkeit sofort. Die Hörner hatten wieder mit ihrem Feuerwerk begonnen.
Da waren sie erneut, diese kilometerlangen Feuerbänder, die von der Mittelnadel zu ihren kleineren Gefährten hinuntertanzten. Erneut begannen sie feierlich zu kreisen, als wänden unsichtbare Tänzer ihre Bänder um einen elektrischen Maibaum. Doch nun drehten sie sich rascher und immer rascher, bis sie zu einem zuckenden Lichtkegel verschmolzen.
Dieses Schauspiel war gewaltiger als alles, was sie hier bisher gesehen hatten, und es war begleitet von einem fernen knatternden Dröhnen, das den Eindruck gigantischer Kraft noch verstärkte. Es dauerte etwa fünf Minuten, dann brach es so abrupt ab, als habe jemand einen Schalter bedient.
„Ich möchte gern wissen, was das Rama-Komitee dazu zu sagen hat“, murmelte Norton an keine bestimmte Adresse gerichtet. „Hat hier jemand irgend’ne Theorie?“
Eine Weile antwortete keiner, denn in diesem Moment meldete sich aufgeregt die Nabenkontrolle.
„Resolution! Seid ihr okay? Habt ihr das gespürt?“
„Was gespürt?“
„Wir glauben, es war ein Erdbeben — muß im gleichen Moment passiert sein, als dieses Feuerwerk aufhörte.“
„Irgendwelche Beschädigungen?“
„Ich glaube nicht. Es war nicht sehr heftig — aber es hat uns ein bißchen geschüttelt.“
„Wir haben überhaupt nichts gemerkt. Aber das ist ja klar, hier draußen auf See.“
„Natürlich. Wie blöd von mir. Jedenfalls, jetzt scheint alles wieder ruhig zu sein… bis zum nächstenmal.“
„Ja, bis zum nächstenmal“, kam Nortons Echo. Das Geheimnis Ramas wurde immer gewaltiger; je mehr sie darüber herausfanden, desto weniger verstanden sie.
Plötzlich drang vom Ruder ein Ruf herüber.
„Skipper… sehen Sie… dort oben am Himmel!“
Norton blickte auf und ließ rasch die Augen über den Umkreis der See schweifen. Er sah nichts, bis sein Blick beinahe den Zenit erreicht hatte und er das andere Ende der Welt anstarrte.
„O mein Gott“, flüsterte er langsam, als ihm bewußt wurde, daß das ›nächstemal‹ bereits beinahe da war.
Die ewige Krümmung der Zylindrischen See herab kam eine Flutwelle auf sie zugerast.