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Von jetzt an, so hatte Norton angeordnet, würden immer mindestens drei Mann in Camp Alpha stationiert sein, und einer davon würde immer Wache halten. Außerdem würden sämtliche Explorationstrupps die gleiche Routine einhalten. Potentiell gefährliche Wesen waren innerhalb Ramas unterwegs, und obgleich bisher keines Feindseligkeit gezeigt hatte, durfte ein vorsichtiger Kapitän doch kein Risiko eingehen.
Als zusätzliche Sicherheit stand oben an der Nabe beständig ein Beobachter an einem starken Teleskop Wache. Von diesem günstigen Punkt aus konnte das ganze Innere Ramas überwacht werden, und selbst der Südpol wirkte, als läge er nur ein paar hundert Meter weit entfernt. Das Gebiet rings um jeden Explorationstrupp mußte unter dauernder Beobachtung stehen; auf diese Weise hoffte man jede Möglichkeit einer Überraschung auszuschalten. Es war ein guter Plan — aber er schlug völlig fehl.
Nach der letzten Mahlzeit des Tages und direkt vor der für 22.00 Uhr angesetzten Schlafperiode sahen Norton, Rodrigo, Calvert und Laura Ernst die normalen Abendnachrichten, die eigens für sie von dem Zwischensender in Inferno auf dem Merkur herübergestrahlt wurden. Sie waren ganz besonders an Jimmys Filmaufnahmen vom Südkontinent und seiner Rückfahrt über die Zylindrische See interessiert — eine Episode, die alle Zuschauer stark erregt hatte. Wissenschaftler, Nachrichtenkommentatoren und Mitglieder des Rama-Komitees hatten dazu ihre meist widersprüchlichen Meinungen abgegeben. Sie konnten keine Übereinstimmung darüber erzielen, ob das krebsähnliche Geschöpf, dem Jimmy begegnet war, ein Tier, eine Maschine oder ein echter Ramaner gewesen sei — oder etwas, das sich in keine dieser Kategorien einfügen ließ.
Gerade hatten sie zugesehen, wie der riesige Seestern von seinen räuberischen Angreifern zerstückelt wurde, und es war ihnen verdammt unbehaglich dabei zumute gewesen, als sie plötzlich entdeckten, daß sie nicht länger allein waren. Ein Eindringling war im Lager.
Laura Ernst bemerkte ihn als erste. Sie erstarrte in plötzlichem Schrecken, dann stieß sie hervor: „Keine Bewegung, Bill. Jetzt schauen Sie langsam nach rechts.“
Norton drehte den Kopf. Zehn Meter entfernt befand sich ein schlankbeiniger Dreifuß, auf dem ein Kugelkörper von der Größe etwa eines Fußballs hockte. Auf dem Körper saßen drei große ausdruckslose Augen, anscheinend um eine Sichtweite von dreihundertsechzig Grad zu ermöglichen, und darunter hingen drei peitschenartige Tentakel herab. Das Geschöpf war nicht ganz mannsgroß und wirkte zu zerbrechlich, als daß man es für gefährlich gehalten hätte. Doch dies entschuldigte nicht ihre Nachlässigkeit, die das Ding sich unbemerkt hatte heranschleichen lassen. Es erinnerte Norton an nichts stärker als an eine dreibeinige Spinne oder an einen ›Weberknecht‹, und er fragte sich, wie es das Problem der dreifüßigen Fortbewegung — an das sich auch auf der Erde nie ein Geschöpf herangewagt hatte — gelöst haben mochte.
„Was halten Sie davon, Doc?“ flüsterte er und schaltete gleichzeitig den Ton des Fernsehers aus.
„Die gewohnte ramanische Dreifachsymmetrie.
Ich wüßte nicht, wie es uns gefährlich werden könnte. Allerdings könnten die Peitschen unangenehm werden — und sie sind vielleicht giftig wie die eines Zölenteraten. Bleibt still sitzen und wartet, was es anfängt.“
Nachdem die Kreatur sie minutenlang teilnahmslos betrachtet hatte, bewegte sie sich plötzlich — und nun verstanden sie, warum sie ihre Ankunft nicht bemerkt hatten. Sie war rasend schnell und schoß mit einer so außergewöhnlichen Drehbewegung über den Boden, daß es dem menschlichen Auge und dem menschlichen Gehirn wirklich schwerfiel, ihr zu folgen. Soweit Norton es beurteilen konnte — und nur eine Zeitrafferkamera konnte das entscheiden —, wirkten die Beine nacheinander als Drehpunkt, um den herum das Geschöpf seinen Körper wirbelte. Und er war nicht sicher, aber er hatte außerdem den Eindruck, daß es jeweils nach ein paar ›Schritten‹ die Drehrichtung wechselte, während die drei Peitschen über den Boden zuckten wie bewegliche Blitze. Die Höchstgeschwindigkeit betrug mindestens dreißig Stundenkilometer — allerdings war auch dies sehr schwer abzuschätzen.
Das Ding glitt rasch durch das Lager, untersuchte jeden einzelnen Ausrüstungsgegenstand, berührte vorsichtig die improvisierten Betten, Stühle und Tische, die Kommunikationsgeräte, Nahrungsbehälter, Elektrosan-Toiletten, Kameras, Wasserbehälter, Werkzeuge… Es schien nichts zu übersehen — außer seinen vier Zuschauern. Es war eindeutig intelligent genug, einen Unterschied zwischen menschlichen Wesen und ihrem leblosen Besitz zu machen; sein Verhalten erweckte den unmißverständlichen Eindruck einer äußerst methodischen Neugier oder Wißbegierde.
„Ich wollte, ich könnte es untersuchen!“ rief Laura enttäuscht aus, während das Ding weiter seine raschen Pirouetten drehte.
„Sollen wir es zu fangen versuchen?“
„Wie denn?“ fragte Calvert mit Recht.
„Na, ihr wißt doch, wie die primitiven Jäger schnelle Tiere mit ein paar Gewichten am Ende eines Seiles zu Fall bringen. Und es tut ihnen nicht mal weh.“
„Das bezweifle ich“, sagte Norton. „Aber selbst wenn es funktionierte, wir können es nicht riskieren.
Wir wissen nicht, wie intelligent dieses Wesen ist — und solch ein Versuch könnte ihm leicht die Beine zerschmettern. Dann säßen wir wirklich in Schwierigkeiten — von Rama, von der Erde und von allen andern auch.“
„Aber ich muß unbedingt ein Exemplar haben!“
„Sie werden sich wohl mit Jimmys Blume zufriedengeben müssen, es sei denn, eines dieser Geschöpfe ist zur Zusammenarbeit mit Ihnen bereit. Gewalt scheidet aus. Wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn irgendwas auf der Erde landete und den Entschluß faßte, daß Sie ein hübsches Exemplar für eine Sektion abgäben?“
„Ich will es ja gar nicht sezieren“, sagte Laura keineswegs völlig überzeugend. „Ich will es ja nur untersuchen.“
„Nun, fremde Besucher könnten Ihnen gegenüber die gleiche Einstellung haben, aber es wäre möglich, daß Sie einige ganz schöne Unbequemlichkeiten durchmachen, bis Sie ihnen glauben würden. Wir dürfen nichts unternehmen, was irgendwie als Bedrohung aufgefaßt werden könnte.“
Er zitierte aus der Schiffsordnung, Laura kannte die natürlich. Die Ansprüche der Wissenschaft genossen weniger Vorrang als die der Raumdiplomatie.
Tatsächlich war es gar nicht nötig, solche hochgestochenen Erwägungen ins Spiel zu bringen, denn das Ganze war einfach eine Frage der guten Manieren. Sie alle waren hier zu Besuch, und sie hatten noch nicht einmal um die Erlaubnis gebeten, eintreten zu dürfen… Das Geschöpf schien seine Inspektion beendet zu haben. Es raste noch einmal mit Höchstgeschwindigkeit um das Lager und schoß dann tangential davon — auf die Treppe zu.
„Ich frage mich, wie es mit den Stufen zurechtkommen wird?“ murmelte Laura. Ihre Frage war rasch beantwortet: die Spinne beachtete die Treppe überhaupt nicht und glitt die sanft ansteigende Kurve hinan, ohne die Geschwindigkeit zu verringern.
„Nabenkontrolle“, meldete sich Norton. „Ihr bekommt möglicherweise in Kürze Besuch.
Werft mal einen Blick auf Treppe Alpha, Bereich Sechs. Und übrigens, herzlichen Dank dafür, daß ihr so gut auf uns aufgepaßt habt.“
Es dauerte eine Minute, bis Nortons Sarkasmus ankam; dann begann der Beobachter an der Nabe entschuldigende Geräusche von sich zu geben.
„Chem — Skipper, jetzt, wo Sie mir sagen, daß da was ist, kann ich irgendwas sehen. Aber was isses?“
„Ihre Vermutung ist so gut wie meine“, antwortete Norton und drückte auf den Knopf Allgemeiner Alarm. „Camp Alpha an alle Stationen.
Wir hatten gerade den Besuch einer Kreatur, die wie eine dreibeinige Spinne aussieht.
Hat sehr dünne Beine, ist etwa zwei Meter groß, kleiner kugeliger Leib, bewegt sich sehr rasch mit Kreiselbewegungen. Erscheint harmlos, aber wißbegierig. Schleicht sich möglicherweise an euch ran, ohne daß ihr’s bemerkt.
Bitte bestätigen.“
„Hier nichts Ungewöhnliches, Skipper.“
Von Westen in gleicher Entfernung meldete sich Rom mit verdächtig schläfriger Stimme.
„Hier das gleiche, Skipper. Oh, einen Augenblick…“
„Was ist los?“
„Ich habe vor einer Sekunde meinen Schreiber weggelegt — jetzt isser fort! Was zum — oh!“
„Reden Sie vernünftig, Mann!“
„Sie werden das nicht glauben, Skipper. Ich habe mir Notizen gemacht — Sie wissen doch, ich schreibe gern, und ich störe niemanden dabei —, und ich habe meinen Lieblingskugelschreiber benutzt, er ist fast zweihundert Jahre alt — also und jetzt liegt er auf dem Boden, etwa fünf Meter von mir entfernt! Ich hab’ ihn wieder. Gott sei Dank ist er nicht beschädigt.“
„Und wie ist er dorthin gekommen? Was glauben Sie?“
„Chm — ich bin vielleicht eine Minute eingenickt.
Es war ein harter Tag heute.“
Norton seufzte, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie waren viel zu wenige, und sie hatten so wenig Zeit, eine ganze Welt zu erforschen. Nicht immer konnte die Begeisterung die Erschöpfung überwinden, und Norton fragte sich, ob sie vielleicht unnötige Risiken auf sich nähmen. Vielleicht sollte er seine Leute nicht in so kleine Gruppen aufteilen, vielleicht sollte er nicht versuchen, ein so großes Terrain zu erforschen. Doch er vergaß nie, wie rasch die Tage vorübereilten, und er dachte stets an die ungelösten Rätsel um sie herum. Die Gewißheit in ihm nahm immer mehr zu, daß bald etwas geschehen würde und daß sie dann Rama aufgeben müßten, noch bevor er das Perihelion erreicht hatte — jenen Augenblick der Wahrheit, in dem ohne Zweifel jeder Flugbahnwechsel würde stattfinden müssen.
„Hört zu, Nabe, Rom, London — alle“, sagte er. „Ich will die ganze Nacht durch jede halbe Stunde Bericht haben. Wir müssen damit rechnen, daß wir von jetzt an jeden Augenblick Besuch bekommen können. Manche dieser Besucher sind vielleicht gefährlich, aber wir müssen mit allen Mitteln Zwischenfälle vermeiden.
Sie alle kennen die Anweisungen in dieser Hinsicht.“
Das stimmte nur allzusehr; es gehörte zu ihrer Ausbildung — aber keiner der Männer und Frauen hatte jemals wirklich daran geglaubt, daß der so übermäßig theoretisch behandelte ›Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen‹ zu ihren Lebzeiten stattfinden werde — ganz zu schweigen, daß sie diese Erfahrung selbst machen würden.
Ausbildung war eine Sache, die Wirklichkeit war eine andere; und niemand konnte garantieren, daß die uralten menschlichen Instinkte der Selbsterhaltung im Notfall nicht die Oberhand gewinnen würden. Dennoch, es war wesentlich, daß sie jedem Wesen, dem sie in Rama begegneten, im Zweifelsfall bis zur letzten Minute — und sogar noch darüber hinaus — einräumten, es hege gute Absichten.
Commander Norton wollte nicht als der Mann in die Geschichte eingehen, der den ersten interplanetaren Krieg ausgelöst hatte.
Ein paar Stunden später waren Hunderte dieser Spinnen aufgetaucht und wieselten über die ganze Ebene. Per Teleskop konnte man erkennen, daß auch der Südkontinent von dieser Epidemie ergriffen war — anscheinend jedoch nicht die Insel New York.
Die Spinnen kümmerten sich nicht weiter um die Forscher, und nach einer Weile beachteten diese die Spinnen auch kaum mehr — obwohl Norton von Zeit zu Zeit in den Augen seiner Stabsärztin ein raubtierhaftes Flackern zu entdecken glaubte. Er war sicher, nichts würde ihr größere Freude bereiten, als wenn einer dieser Spinnen ein bedauerlicher Unfall zustieße, und er hielt sie für durchaus imstande, einen solchen sogar herbeizuführen, um dem Interesse der Wissenschaft zu dienen.
Mit ziemlicher Sicherheit verfügten die Spinnen nicht über Intelligenz; ihre Körper waren viel zu klein, als daß sie viel Gehirn enthalten konnten, ja es war sogar schwer vorstellbar, wo sie die Energie für ihre raschen Bewegungen speicherten. Und doch war ihr Verhalten merkwürdig zielstrebig und methodisch; sie schienen überall zu sein, doch sie untersuchten niemals den gleichen Ort zweimal. Wiederholt hatte Norton den Eindruck, daß sie nach etwas suchten. Was das auch immer sein mochte, sie hatten es anscheinend noch nicht gefunden.
Verächtlich die drei großen Treppenkonstruktionen links liegenlassend, kletterten die Spinnen bis ganz zur Zentralnabe hinauf. Wie es ihnen gelang, die senkrechten Strecken zu erklimmen, selbst angesichts der Null-Schwerkraft, das wurde nicht klar; Laura stellte die Theorie auf, daß sie mit Saugnäpfen ausgestattet sein müßten.
Und dann bekam sie, zu ihrem offenkundigen Entzücken, ihr heißersehntes Exemplar.
Die Nabenkontrolle meldete, daß eine Spinne die senkrechte Wand hinuntergestürzt sei und nun tot oder bewegungsunfähig auf der ersten Plattform liege. Die Zeit, die Laura bis dorthin benötigte, stellte einen Rekord dar, der wohl nie gebrochen werden würde.
Als sie auf der Plattform eintraf, stellte sie fest, daß das Wesen trotz der geringen Aufprallgeschwindigkeit alle drei Beine gebrochen hatte. Die Augen waren noch geöffnet, doch wies das Wesen keinerlei Reaktion auf die verschiedenen äußerlichen Tests auf. Selbst eine frische menschliche Leiche, entschied Laura, würde lebendiger sein; und sobald sie ihre Beute zur Endeavour zurückgeschafft hatte, begann sie mit ihrem Sektionsbesteck zu arbeiten.
Die Spinne war so zerbrechlich, daß sie beinahe ohne Lauras Zutun in Stücke zerbrach.
Sie löste die Beine vom Leib und zergliederte sie, dann begann sie mit dem empfindlichen Panzer um den Leib. Er spaltete sich in drei großen Kreisen und öffnete sich dann wie eine geschälte Orange.
Nach ein paar Sekunden tiefster Ungläubigkeit — denn sie konnte nichts finden, was ihr bekannt vorgekommen wäre oder was sie hätte identifizieren können — fertigte Laura eine Reihe sorgfältiger Fotos an. Dann griff sie zum Skalpell.
Wo sollte sie mit der Sektion beginnen? Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und blindlings zugeschnitten, doch das wäre nicht sehr wissenschaftlich gewesen.
Die Klinge drang fast ohne Widerstand ein.
Eine Sekunde später hallte der äußerst undamenhafte Schrei der Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst durch die ganze Endeavour.
Der verärgerte Sergeant McAndrews brauchte gute zwanzig Minuten, um seine verschreckten Simps wieder zu beruhigen.