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Den Geschichtsbüchern zufolge hatte es eine Zeit gegeben, in der die alten Vereinten Nationen Mitglieder hatten. Allerdings konnte sich das kaum einer mehr vorstellen. Die Vereinten Planeten (UP) hatten nur sieben, und selbst das war manchmal schon schlimm genug.
Entsprechend ihrer Nähe zur Sonne waren dies: Merkur, Erde, Mond, Mars, Ganymed, Titan und Triton.
Diese Liste enthielt zahlreiche Auslassungen und Zweideutigkeiten, die vermutlich irgendwann in der Zukunft bereinigt werden würden. Die Kritiker des Systems wurden niemals müde, darauf hinzuweisen, daß die meisten Mitglieder der Vereinten Planeten ja überhaupt keine Planeten seien, sondern Satelliten.
Und es sei lächerlich, daß die vier Giganten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun nicht vertreten seien… Aber auf diesen Gasgiganten lebte kein Mensch, und mit ziemlicher Sicherheit würde dort auch nie jemand leben. Das gleiche mochte für jenen anderen großen, nicht repräsentierten Planeten gelten: für die Venus. Selbst die begeistertsten Planeteningenieure gaben zu, daß es Jahrhunderte dauern würde, die Venus zu zähmen. Aber inzwischen ließen die Hermianer sie nicht aus den Augen und brüteten zweifellos über langfristigen Plänen in dieser Hinsicht nach.
Auch die getrennte Repräsentanz von Erde und Luna war ein beständiger Zankapfel gewesen; die übrigen Mitglieder argumentierten, daß damit ein Teilbereich des Sonnensystems zu große Macht erhalte. Aber auf dem Mond lebten mehr Menschen als auf allen anderen Welten, ausgenommen die Erde — und der Mond war nun einmal der einzig mögliche Treffpunkt für Sitzungen der UP. Überdies stimmten Erde und Mond kaum jemals in einem Punkt überein, darum war es unwahrscheinlich, daß sie jemals einen gefährlichen Block bilden würden.
Der Mars hatte die Treuhandschaft über die Asteroide — mit Ausnahme der Ikarischen Gruppe (die von Merkur verwaltet wurde) — und einer Handvoll anderer, deren Perihelion jenseits des Saturn lag und die deshalb von Titan beansprucht wurden. Eines Tages würden die größeren Asteroiden wie Pallas, Vesta, Juno und Ceres selbst bedeutend genug sein, ihre eigenen Botschafter zu haben, und die Mitgliederzahl der UP würde dann zweistellig sein.
Ganymed vertrat nicht nur den Jupiter — und damit eine größere Masse als das gesamte Sonnensystem zusammengenommen —, sondern auch die restlichen schätzungsweise fünfzig Jupitersatelliten, falls man die vorübergehenden Prisen aus dem Asteroidengürtel mit einbezog (die Juristen stritten sich noch immer um diesen Punkt). In gleicher Weise kümmerte sich Titan um den Saturn, seine Ringe und die übrigen etwa dreißig Satelliten.
Die Lage Tritons war sogar noch komplizierter.
Der große Neptunmond war der fernste Weltkörper des Sonnensystems, der beständig bewohnt war. Das hatte zur Folge, daß sein Botschafter eine beträchtliche Anzahl von Flaggen vertrat. Er war Repräsentant des Uranus und seiner acht Monde (von denen bislang noch keiner erobert worden war), des Neptun und seines einzigen Mondes und der einsamen mondlosen Persephone. Und wenn es jenseits von Persephone Planeten geben sollte, dann würden sie gleichfalls in den Verantwortungsbereich Tritons fallen. Und als reichte das nicht aus, hatte man den Botschafter der Äußeren Finsternis, wie er gelegentlich bezeichnet wurde, zuweilen klagen hören: „Und was ist mit den Kometen?“ Allgemein bestand der Eindruck, daß man die Lösung dieses Problems der Zukunft überlassen solle.
Und doch war diese Zukunft bereits sehr konkret eingetreten. Manchen Definitionen zufolge war Rama ein Komet, denn Kometen waren die einzigen sonstigen Besucher aus den Tiefen des Alls, und viele von ihnen waren auf hyperbolischen Bahnen der Sonne sogar näher gekommen, als Ramas Bahn es erwarten ließ.
Jeder Weltraumrecht-Jurist würde daraus einen sehr guten Fall konstruieren können — und der Merkurbotschafter war einer der besten Juristen auf diesem Gebiet.
„Wir erteilen das Wort Seiner Exzellenz dem Botschafter des Merkur.“
Da die Delegierten entsprechend der Entfernung ihres Planeten im umgekehrten Uhrzeigersinn plaziert waren, saß der Hermianer zur äußersten Rechten des Vorsitzenden. Bis zur letzten Minute hatte er die Verbindung mit seinem Computer gehalten; nun setzte er die Synchro-Brille ab, die verhinderte, daß irgend jemand sonst die Nachrichten auf seinem Bildschirm entziffern konnte. Er nahm den Stapel Notizen von seinem Tisch und erhob sich rasch.
„Herr Vorsitzender, geehrte Mitabgeordnete, ich darf mit einer kurzen Zusammenfassung der Situation, der wir uns jetzt konfrontiert sehen, beginnen.“
Hätte ein anderer Delegierter den Ausdruck ›kurze Zusammenfassung‹ gebraucht, dann hätten wohl alle Zuhörer heimlich gestöhnt, aber jedermann wußte, daß die Hermianer ganz genau meinten, was sie sagten.
„Das gigantische Raumschiff oder der künstliche Asteroid, der Rama getauft wurde, wurde vor einem Jahr in der Region außerhalb Jupiters geortet. Zunächst hielt man es für einen natürlichen Himmelskörper, der auf einer Hyperbelbahn lief, um die Sonne herum und wieder zurück zu den Sternen.
Als seine wahre Natur erkannt wurde, hat man den Beobachter Endeavour zur Kontaktaufnahme abbeordert. Ich zweifle nicht daran, daß wir alle Commander Norton und seiner Besatzung zu der Effizienz gratulieren, mit der sie diesen ihren einzigartigen Auftrag durchführen konnten.
Anfangs glaubten wir, Rama sei tot — seit so vielen hunderttausend Jahren erstarrt, daß eine Wiederbelebung unmöglich erschien. In einem strikt biologischen Sinn mag das auch jetzt noch zutreffen. Es scheint unter den Wissenschaftlern, die sich mit der Materie befaßt haben, allgemeine Übereinstimmung zu herrschen, daß kein lebender Organismus von einer gewissen komplexen Struktur in der Lage ist, einen künstlichen Scheintod mehr als nur ein paar Jahrhunderte zu überleben. Selbst bei absoluter Schwerelosigkeit dürften demnach die Restquantenwirkungen zu viele Zellinformationen auslöschen, als daß die Wiedererweckung möglich wäre. Demzufolge hatte es den Anschein, daß trotz der enormen Bedeutung Ramas für die Archäologie nicht mit größeren astropolitischen Problemen zu rechnen sein würde.
Heute ist es klar, daß dies eine äußerst naive Einschätzung der Lage war. Allerdings haben manche Kritiker von Anfang an darauf hingewiesen, daß Ramas Flugbahn zu exakt auf die Sonne ziele, als daß dies reiner Zufall sein könnte.
Aber selbst dann, so hätte man argumentieren können — und man argumentierte tatsächlich so —, konnte es sich um ein fehlgeschlagenes Experiment handeln. Rama hatte zwar das geplante Ziel erreicht, doch die kontrollierende Intelligenz hatte nicht überleben können.
Auch dieser Standpunkt erscheint jetzt sehr naiv, denn er unterschätzt die Wesen, mit denen wir es zu tun haben.
Was wir vergessen haben in Erwägung zu ziehen, war die Möglichkeit eines nichtbiologischen Überlebens. Wenn wir die äußerst plausible Theorie Dr. Pereras akzeptieren, und sie wird sicherlich allen Fakten gerecht, dann existieren die innerhalb Ramas beobachteten Geschöpfe erst seit sehr kurzer Zeit. Ihre Produktionsmuster oder Schablonen waren in irgendeiner zentralen Datenbank gespeichert, und als die Zeit reif war, wurden sie aus den vorhandenen Rohstoffen hergestellt. Möglicherweise waren diese in der metallo-organischen Suppe der Zylindrischen See enthalten.
Derartige Unternehmungen liegen heute noch ein wenig außerhalb der menschlichen Möglichkeiten, doch sie stellen theoretisch kein Problem mehr dar. Wir wissen, daß feste Schaltungen im Gegensatz zu lebendiger Materie Informationen ohne Verluste über unbegrenzte Zeiträume aufzubewahren vermögen.
Also ist Rama vollkommen operationsbereit und in der Lage, die Absichten seiner Erbauer zu erfüllen — welche immer die sein mögen.
Von unserem Standpunkt aus spielt es keine Rolle, ob die Ramaner selbst alle seit einer Million Jahren tot sind oder ob auch sie neu geschaffen werden und sich zu ihren Dienern gesellen, was jeden Augenblick möglich sein könnte. So oder so wird ihr Wille vollzogen und wird auch in Zukunft vollzogen werden.
Rama hat uns inzwischen den Beweis geliefert, daß sein Antriebssystem noch funktioniert.
In wenigen Tagen wird er am Perihelion sein, wo er logischerweise eventuell wichtige Flugbahnänderungen vornehmen müßte. Wir müssen also damit rechnen, daß wir bald einen neuen Planeten haben — und er würde sich durch die Bezirke des Sonnensystems bewegen, die der Jurisdiktion meiner Regierung unterstehen.
Es ist natürlich auch möglich, daß Rama weitere Richtungsänderungen vornimmt und sich auf eine definitive Umlaufbahn irgendwo um die Sonne begibt. Er könnte sogar zu einem Satelliten eines größeren Planeten werden. Zum Beispiel der Erde… Meine Herren Mitabgeordneten, wir sehen uns also einer ganzen Reihe von Möglichkeiten konfrontiert, von denen einige allerdings wirklich ernster Natur sind. Es wäre töricht zu behaupten, daß jene Geschöpfe uns freundlich gesonnen sein müssen, daß sie sich in keiner Weise in unsere Angelegenheiten einmischen werden. Wenn sie in unser Sonnensystem kommen, dann deshalb, weil sie hier etwas holen wollen. Selbst wenn es nur wissenschaftliche Kenntnisse sein sollten — überlegen Sie sich bitte, wie dieses Wissen Verwendung finden könnte… Wir sehen uns jetzt einer Technologie gegenüber, die Hunderte, ja vielleicht Tausende von Jahren weiter fortgeschritten ist als die unsere — und einer Kultur, zu der es möglicherweise überhaupt keine Berührungspunkte gibt. Wir haben das Verhalten der biologischen Roboter studiert — der sogenannten Bioten —, soweit dies aus den Filmen, die Commander Norton vom Inneren Ramas übermittelte, möglich war, und wir sind zu bestimmten Schlußfolgerungen gelangt, die wir Ihnen hier unterbreiten wollen.
Wir auf dem Merkur haben wahrscheinlich Pech, daß wir keine lokalen Lebensformen zur Beobachtung haben. Doch verfügen wir natürlich über vollkommen umfassende Aufzeichnungen über die irdische Zoologie, und dort entdeckten wir eine frappierende Parallele zu Rama.
Und zwar handelt es sich um die Termitenkolonie.
Wie bei Rama existiert auch dort eine künstliche Welt mit einer kontrollierten Umwelt.
Wie bei Rama hängt die Funktionsfähigkeit von einer ganzen Reihe hochspezialisierter biologischer Maschinen ab — Arbeitern, Baumeistern, Bauern und — Kriegern. Und wenn wir auch nicht wissen, ob Rama eine Königin hat, so möchte ich doch die Vermutung äußern, daß die Insel, die als New York bekannt ist, eine ähnliche Funktion erfüllen dürfte.
Es wäre selbstverständlich absurd, den Vergleich zu weit voranzutreiben; er ist in vielen Punkten nicht stichhaltig. Aber ich erlaube mir, ihn Ihnen aus folgenden Gründen zu unterbreiten: Bis zu welchem Grad würde jemals zwischen menschlichen Wesen und Termiten eine Zusammenarbeit oder eine Verständigung möglich sein? Wenn es keinerlei Interessenkonflikte gibt, tolerieren sich die beiden Spezies.
Doch wenn eine von beiden entweder das Territorium oder die Hilfsmittel der anderen Gattung benötigt, wird kein Pardon gegeben.
Dank unserer Technologie und unserer Intelligenz sind wir stets in der Lage zu siegen, wenn wir dazu nur stark genug entschlossen sind. Doch manchmal fällt dies nicht leicht, und manch einer ist überzeugt, daß auf lange Sicht der Sieg doch noch den Termiten zufallen wird… Bedenken Sie dies, und erwägen Sie nun die furchtbare Bedrohung, die Rama für die menschliche Zivilisation bedeuten könnte. Ich sage ›könnte‹ — nicht muß. Und welche Schritte haben wir unternommen, um dem Schlimmsten zu begegnen, falls es eintreffen sollte? Überhaupt keine. Wir haben nur geredet und spekuliert und gescheite Abhandlungen verfaßt.
Nun, meine Herren Mitabgeordneten, der Merkur hat mehr als dies getan. Gemäß den Bestimmungen der Klausel 34 des Weltraumabkommens von 2057, denen zufolge wir berechtigt sind, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um die Unversehrtheit unseres Solarraums zu erhalten, haben wir ein hochpotenziertes Nukleargeschoß in die Nähe Ramas gebracht. Ich muß sagen, daß wir äußerst glücklich wären, wenn wir es nicht einsetzen müßten. Doch jetzt sind wir wenigstens nicht mehr hilflos, wie dies zuvor der Fall war.
Man könnte anführen, daß wir einseitig gehandelt hätten, ohne vorherige Konsultationen.
Wir geben dies zu. Doch kann einer sich hier vorstellen — ich bitte um Vergebung, Herr Vorsitzender —, daß wir eine derartige Übereinkunft in der uns zur Verfügung stehenden Zeit hätten erreichen können? Wir halten dafür, daß wir nicht nur in unserem eigenen Interesse handelten, sondern in dem der ganzen menschlichen Rasse. Alle kommenden Generationen werden uns vielleicht eines Tages für unsere Vorsicht danken.
Wir waren uns natürlich darüber im klaren, daß es eine Tragödie — ja sogar ein Verbrechen — sein würde, ein so wunderbares Artefakt wie Rama zu zerstören. Und wenn es irgendeinen Weg gibt, dies ohne Risiken für die Menschheit zu vermeiden, würden wir uns glücklich schätzen, diesen Weg kennenzulernen. Wir jedenfalls haben keinen gefunden, und die Zeit wird knapp.
Innerhalb der nächsten paar Tage — ehe Rama das Perihelion erreicht — müssen wir die Entscheidung fällen. Wir werden der Endeavour rechtzeitig und ausführlich Nachricht geben — doch wir würden Commander Norton anraten, sich ständig bereitzuhalten, innerhalb einer Sekunde abzudocken. Es ist durchaus denkbar, daß Rama jeden Moment weitere dramatischen Veränderungen durchmachen kann.
Das ist alles, Herr Vorsitzender, meine Herren Kollegen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich rechne auf Ihre bereitwillige Unterstützung.“