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„Wenn wir es versuchen“, sagte Karl Mercer, „glauben Sie, die Bioten werden uns daran hindern wollen?“
„Vielleicht. Das gehört zu den Dingen, die ich herausfinden möchte. Warum sehen Sie mich so komisch an?“
Mercer setzte sein träges verstecktes Grinsen auf, das gewöhnlich sekundenschnell von irgendeinem privaten Witz ausgelöst werden konnte, den er mit seinen Schiffskameraden teilte oder auch nicht.
„Es ist mir nur so durch den Kopf gegangen, Skipper, ob Sie vielleicht glauben, daß Rama Ihnen gehört. Bisher haben Sie jeden Versuch, in die Gebäude einzudringen, strikt verboten.
Wieso dieser Gesinnungswandel? Haben die Hermianer Ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt?“
Norton lachte, brach aber gleich wieder ab.
Es war eine gescheite Frage, und er war nicht sicher, ob die naheliegenden Antworten auch die richtigen waren.
„Vielleicht war ich bloß zu vorsichtig — ich wollte Ärger vermeiden. Aber jetzt haben wir die letzte Chance. Wenn wir zum Rückzug gezwungen werden sollten, haben wir nicht allzu viel verpaßt.“
„Vorausgesetzt, wir ziehen uns geordnet zurück.“
„Selbstverständlich. Aber die Bioten haben sich bisher nie feindselig gezeigt; und außer den Spinnen gibt es da meiner Ansicht nach nichts, was uns einholen oder fangen könnte — falls wir abhauen müssen.“
„Sie können ja rasch abhauen, Skipper, ich jedenfalls beabsichtige, mich mit Würde zu verabschieden. Übrigens, ich glaube, ich weiß, warum die Bioten uns so höflich behandeln.“
„Neue Theorien kommen ein bißchen spät, nicht wahr?“
„Trotzdem, hier haben Sie sie: sie glauben, wir seien Ramaner. Sie können keinen Unterschied machen zwischen einem Sauerstoffatmer und einem anderen.“
„Ich glaube nicht, daß sie so dumm sind.“
„Es hat nichts mit Dummheit zu tun. Sie sind für ihre speziellen Aufgaben programmiert worden, und wir tauchen in ihrem Bezugssystem eben überhaupt nicht auf.“
„Vielleicht haben Sie recht. Und vielleicht werden wir das ja feststellen können — sobald wir mit der Arbeit in London beginnen.“
Joe Calvert hatte die alten Filme mit Bankeinbrüchen immer gern gesehen, doch er hatte nie damit gerechnet, selbst einmal an einem Einbruch beteiligt zu sein. Doch im Prinzip tat er jetzt genau das.
Die verlassenen Straßen ›Londons‹ schienen voller Gefahr, auch wenn er wußte, daß nur sein schulderfülltes Gewissen ihm diesen Eindruck aufzwang. Er glaubte nicht wirklich, daß die versiegelten, fensterlosen Gebäude rings um ihn voller wachsamer Bewohner steckten, die nur darauf lauerten, in Horden hervorzubrechen, sobald die Eindringlinge sich an ihrem Besitz vergreifen würden. Tatsächlich war er eigentlich ziemlich sicher, daß dieser ganze Gebäudekomplex — wie die übrigen Städte auch — einfach nur eine Art Vorratslager war.
Eine zweite Befürchtung, die sich gleichermaßen auf zahllose antike Krimifilme stützte, war dagegen besser begründet. Es mochte ja keine schrillen Alarmglocken und keine kreischenden Sirenen geben, aber es war nur logisch anzunehmen, daß Rama über irgendein Warnsystem verfügte. Wie konnten sonst die Bioten wissen, wann und an welcher Stelle ihre Dienste erforderlich waren?
„Wer keine Schutzbrille aufhat, umdrehen“, befahl Sergeant Myron. Er roch plötzlich nach Stickstoffoxyd, als die Luft im Strahl der Laser zu verbrennen begann. Ein gleichmäßiges Zischen ertönte, als das glühende Messer sich zu Geheimnissen hindurchschnitt, die seit der Geburt des Menschen im verborgenen geruht hatten.
Keine Materie konnte dieser konzentrierten Gewalt widerstehen, und so schnitten sie sich ohne Schwierigkeiten mehrere Meter pro Minute weiter vorwärts. In bemerkenswert kurzer Zeit hatten sie einen Block herausgeschnitten, groß genug, einen Menschen durchzulassen.
Als der herausgeschnittene Block nicht von selbst Platz machte, klopfte Myron sacht dagegen — dann fester —, dann hämmerte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften dagegen.
Schließlich fiel der Block mit einem hohlklingenden widerhallenden Krach nach innen.
Wieder mußte Norton an jenen Archäologen denken, der dieses alte ägyptische Grabmal aufgebrochen hatte. Es war wie beim allererstenmal, als er Rama betreten hatte. Er rechnete nicht damit, schimmerndes Gold zu finden; tatsächlich hatte er überhaupt keine vorgefaßte Meinung, als er durch die Öffnung kletterte.
Seine Stablampe hielt er in der ausgestreckten Hand vor sich.
Ein griechischer Tempel aus Glas — das war sein erster Eindruck.
Das Gebäude war angefüllt von zahlreichen Reihen vertikaler kristallener Säulen. Sie waren etwa einen Meter dick und reichten vom Boden bis zur Decke. Hunderte davon standen da, verloren sich in der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels seiner Lampe.
Norton ging auf die erste Säule zu und richtete seine Lampe auf ihr Inneres. Wie durch eine zylindrische Linse gebrochen fächerte das Licht auf der anderen Seite aus, wurde erneut gesammelt, gebrochen, fächerte aus und wurde in der Reihe von Säulen dahinter schwächer und schwächer. Er hatte das Gefühl, sich mitten in einer komplizierten optischen Demonstration zu befinden.
„Sehr hübsch“, bemerkte der Mercer, „aber was für einen Zweck hat es? Wer braucht einen Wald von gläsernen Säulen?“
Norton klopfte sacht gegen eine Säule. Es klang fest, wenn auch mehr metallisch als gläsern.
Er war völlig verwirrt und befolgte deshalb einen sehr nützlichen Rat, den er vor langer Zeit gehört hatte: „Im Zweifelsfall halt den Mund und mach weiter.“
„Ich hätte schwören mögen, daß diese Säule leer ist — und jetzt ist plötzlich jemand drin.“
Norton warf einen raschen Blick zurück.
„Wo?“ fragte er. „Ich kann nichts sehen.“ Er folgte Mercers deutendem Finger. Er wies auf nichts. Die Säule war noch immer völlig transparent.
„Können Sie’s nicht sehen?“ fragte Mercer ungläubig. „Kommen Sie hier rüber. Verflixt — jetzt ist es weg!“
„Was ist denn hier los?“ fragte Calvert. Es dauerte mehrere Minuten, bis er auch nur andeutungsweise eine Antwort erhielt.
Die Säulen waren nicht aus jedem Blickwinkel und auch nicht unter jedem Lichteinfall transparent. Wenn man um sie herumging, wurden plötzlich Objekte sichtbar, die offenbar in ihrem Inneren eingebettet lagen wie Fliegen in Bernstein und die dann ebenso plötzlich wieder verschwanden. Es gab Dutzende davon, und alle waren verschieden. Sie sahen vollkommen wirklich und fest aus, und doch schienen manche auf gleichem Raum zu sein.
„Hologramme“, sagte Calvert. „Wie in einem Museum auf der Erde.“
Ja, das war offensichtlich die Erklärung. Und aus eben diesem Grund kam sie Norton verdächtig vor. Seine Zweifel wuchsen, als er die anderen Säulen untersuchte und die Bildnisse heraufbeschwor, die sie enthielten.
Werkzeuge (allerdings für riesige und seltsam geformte Hände bestimmt), Behältnisse, kleine Maschinen mit Schalttafeln, die für mehr als fünf Finger gemacht zu sein schienen, wissenschaftliche Instrumente, verblüffend konventionelle Haushaltsgeräte, darunter Messer und Teller, die, abgesehen von ihrer Größe, auf der Erde keinen zweiten Blick auf sich gezogen hätten — alles war da, und dazu noch Hunderte weniger leicht zu identifizierender Gegenstände, die oftmals alle zusammen in ein und derselben Säule zusammengedrängt waren.
Ein Museum muß doch sicherlich irgendwie logisch angeordnet sein, mußte irgendeine Trennung nach Sachgebieten und zueinander gehörigen Themen aufweisen. Doch dies hier schien eine völlig zufällige Ansammlung von Eisenkurzwaren zu sein.
Sie hatten die schwer fixierbaren Bilder in einer großen Zahl von Säulen fotografiert, als Norton plötzlich einfach aufgrund der Vielfältigkeit der Gegenstände eine Idee hatte, worum es sich handeln könnte. Vielleicht war dies ja gar keine Sammlung, sondern ein Katalog, der nach einem willkürlichen, aber vollkommen logischen System zusammengestellt war.
Er dachte an die verrückten Zusammenstellungen, die jedes Wörterbuch oder jede alphabetische Liste darstellt, und er probierte diese Vorstellung an seinen Gefährten aus.
„Ja, ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Mercer.
„Andersrum würden die Ramaner wahrscheinlich ebenso erstaunt sein, wenn sie feststellen müßten, daß wir — äh, Kamera neben Kameradschaftsehe oder Teller neben Teakholz stellen.“
„Oder Buch neben Bucharateppich“, ergänzte Calvert, nachdem er mehrere Sekunden lang tief nachgedacht hatte. Dieses Spielchen könnte man stundenlang fortsetzen, entschied er, und mit wachsender Irrtumsmarge.
„Genau das ist es“, antwortete Norton. „Vielleicht ist das ja ein alphabetischer Katalog von 3-D-Bildern — Schablonen — körperliche Blaupausen, falls man es so nennen will.“
„Zu welchem Zweck?“
„Nun, Sie wissen über die Biotentheorie Bescheid… die Vorstellung, daß diese Bioten nicht existieren, bis sie benötigt werden, und daß sie erst dann erschaffen werden — daß sie synthetisiert werden — nach Mustern, die irgendwo aufbewahrt sind?“
„Ich verstehe“, sagte Mercer langsam und nachdenklich. „Wenn also ein Ramaner einen linkshändigen Knüppel braucht, dann drückt er die entsprechende Kodenummer, und von den Schablonen hier drin wird eine Kopie angefertigt.“
„Ja, etwa in der Art. Aber fragt mich bitte nicht nach den praktischen Einzelheiten.“
Die Säulenreihen, durch die sie vorgedrungen waren, hatten an Größe ständig zugenommen.
Jetzt waren sie fast zwei Meter dick. Und auch die eingeschlossenen Bildwerke waren gewachsen. Es war klar, daß die Ramaner aus zweifellos exzellenten Gründen sich auf Lebensgröße in der Reproduktion festgelegt hatten.
Norton fragte sich, wie sie etwas wirklich Großes aufbewahrten, wenn das überhaupt der Fall sein sollte.
Um ein möglichst großes Terrain zu erfassen, hatten sich die vier Kundschafter nun getrennt und wanderten einzeln durch den kristallenen Säulenwald, wo sie versuchten, so viele Fotos von den flüchtigen Erscheinungen zu machen, wie es bei der Einstellungsgeschwindigkeit ihrer Kameras nur möglich war. Es war wirklich ein erstaunlich glücklicher Zufall, dachte Norton. Allerdings hatte er auch das Gefühl, es verdient zu haben, daß er jetzt Glück hatte.
Zweifellos hätten sie bei ihrer letzten Exkursion gar nichts Besseres auswählen können als diesen „illustrierten Katalog Ramanischer Artefakte “. Und doch, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, konnte es auch wieder nichts Enttäuschenderes geben. Denn hier war ja wirklich nichts außer ungreifbaren Mustern von Licht und Nichtlicht; alle diese scheinbar festen Gegenstände hatten keine Wirklichkeit.
Selbst in der Erkenntnis dieser Tatsache fühlte sich Norton mehr als einmal versucht, eine der Säulen mit seinem Laser zu öffnen, um etwas Stoffliches, Materielles, Handfestes mit zur Erde zurückzubringen. Es war genau der gleiche Trieb, sagte er sich mit einem schiefen Grinsen, der einen Affen dazu veranlassen würde, nach dem Spiegelbild einer Banane in einem Spiegel zu grapschen.
Er fotografierte gerade irgend etwas, das wie ein optischer Apparat aussah, als Calverts Schrei ihn erreichte. Er rannte sofort durch die Säulenreihen auf ihn zu.
„Skipper — Karl — Will — schaut euch das an!“
Joe Calvert neigte bekanntlich zu plötzlichen Begeisterungsausbrüchen, doch was er jetzt entdeckt hatte, rechtfertigte zweifellos jede Form der Aufgeregtheit.
Im Inneren einer der zwei Meter dicken Säulen befand sich ein Harnisch oder eine Uniform, ganz offensichtlich für ein aufrecht gehendes Geschöpf von übermenschlicher Größe gedacht. Ein sehr enges Metallband oder ein Metallgürtel umgab anscheinend die Taille oder den Thorax in der Mitte — oder wie immer man eine der irdischen Zoologie unbekannte Körperaufteilung sonst bezeichnen mochte. Davon gingen drei schlanke sich nach außen verjüngende Schläuche aus, die in einem vollkommen kreisförmigen Gürtel zusammenstießen, es waren, beachtlicherweise, zirka hundert Zentimeter Durchmesser in diesem Kreis. Die Öffnungen, die sich in gleichem Abstand auf diesem Gürtel fanden, konnten eigentlich nur für Gliedmaßen des Oberkörpers gedacht sein.
Vielleicht für Arme. Jedenfalls waren es drei Öffnungen… Es gab zahllose Beutel, Schnallen, Bänder, von denen Werkzeuge (oder Waffen!) hervorragten, Röhren und Elektroleiter, sogar kleine Schachteln, schwarze Kästchen, die in einem Elektroniklabor auf der Erde völlig am Platze gewesen wären. Die ganze Anordnung wirkte fast so kompliziert wie die eines Raumanzugs, obwohl sie dem Geschöpf, das sie trug, offensichtlich nur begrenzten Schutz bieten konnte.
Und war dieses Geschöpf wirklich ein oder der Ramaner? Norton hatte da echte Zweifel.
Wahrscheinlich werden wir das niemals genau wissen, sagte er sich. Aber ›es‹ muß über Intelligenz verfügt haben, denn kein Tier hätte mit einer dermaßen hochentwickelten Maschinerie umzugehen verstanden.
„Etwa zweieinhalb Meter hoch“, bemerkte Mercer nachdenklich, „den Kopf nicht mitgerechnet.
Weiß der und jener, wie der ausgesehen hat!“
„Ja, und mit drei Armen, und wahrscheinlich drei Beinen. Der gleiche Konstruktionsplan wie bei den Spinnen — nur auf einer viel massiveren Stufe. Glauben Sie wirklich, es handelt sich um einen Zufall?“
„Nein. Wahrscheinlich ist es kein Zufall. Wir bauen unsere Roboter ja auch nach unserem Bild. Man kann also annehmen, daß die Ramaner genau das gleiche tun.“
Joe Calvert blickte mit einer für ihn völlig außergewöhnlichen Scheu auf das vor ihm liegende Schauspiel.
„Glauben Sie, die wissen, daß wir hier sind?“
fragte er halb flüsternd.
„Das bezweifle ich“, antwortete Mercer. „Wir sind noch nicht einmal bis zu ihrer Bewußtseinsschwelle vorgedrungen, wenn auch die Hermianer sich recht große Mühe gegeben haben.“
Sie standen noch immer so da und waren nicht in der Lage, sich von dem Anblick zu lösen, als Pieter von der Nabenkontrolle sich meldete. Seine Stimme klang dringlich und sehr besorgt.
„Skipper — Sie kommen jetzt besser raus!“
„Was ist los? Kommen Bioten hierher?“
„Nein — es ist viel ernster. Die Lichter werden schwächer.“