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Als er in großer Hast durch das Loch nach außen kroch, das sie mit ihren Laserstrahlen geschnitten hatten, schien es Norton, daß die sechs Sonnen Ramas so brillant leuchteten wie immer. Pieter hatte sicher einen Bewertungsfehler gemacht — ziemlich ungewöhnlich bei ihm… Doch Pieter hatte eben diese Reaktion vorhergesehen.
„Es ist so langsam passiert“, erklärte er entschuldigend, „daß es eine ganze Weile dauerte, bevor ich einen Unterschied merkte. Aber es kann keinen Zweifel daran geben — ich habe es auf dem Fotometer verfolgt. Die Lichtstärke ist um vierzig Prozent gesunken.“
Jetzt, während seine Augen sich nach der Düsternis des Glastempels wieder an das Licht Ramas gewöhnten, konnte Norton dieser Behauptung Glauben schenken. Der lange Rama- Tag neigte sich seinem Ende zu.
Es war noch immer so warm wie zuvor, und dennoch bemerkte Norton, daß er fröstelte. Er hatte die gleiche Erfahrung bereits einmal gemacht.
Es war ein herrlicher Sommertag auf der Erde gewesen. Plötzlich war das Licht unerklärlicherweise schwächer geworden, als fiele Düsternis aus dem Himmel herunter oder als habe die Sonne ihre Kraft verloren. Es stand aber kein Wölkchen am Himmel. Dann fiel es ihm wieder ein: eine partielle Sonnenfinsternis hatte sich damals ausgebreitet.
„Das ist es“, sagte er grimmig. „Wir kehren um. Laßt die ganze Ausrüstung zurück. — Wir werden sie nicht mehr benötigen.“
Jetzt, so hoffte er, würde sich seine Vorausplanung auf diesem Sektor bewähren. Er hatte London für diesen Plünderungsausflug ausgewählt, weil keine andere Stadt dem Treppensystem Beta so nahe lag. Der Fuß der Treppe war nur vier Kilometer weit entfernt.
Sie machten sich mit gleichmäßigen langen Schritten auf den Weg. Diese Fortbewegungsart hatte sich bei einem halben G als die bequemste bewährt. Norton schlug ein Tempo ein, das sie seiner Schätzung nach ohne Erschöpfung an den Rand der Ebene führen würde, und zwar ohne allzu große Zeitverschwendung.
Norton war sich nur zu deutlich der acht Kilometer bewußt, die sie noch hinaufsteigen mußten, sobald sie den Fuß der Beta-Treppe erreicht hatten. Doch würde er sich sehr viel sicherer fühlen, sobald sie wirklich mit dem Aufstieg begonnen hätten.
Eine erste Erschütterung trat ein, als sie beinahe am Fuß der Treppe waren. Es war nur eine leichte Störung. Norton wandte sich instinktiv um und erwartete bei den Berghörnern am Südpol ein weiteres Feuerwerk zu sehen.
Aber Rama wiederholte sich anscheinend nie in genau der gleichen Weise. Wenn von diesen nadeldünnen Gipfeln elektrische Entladungen ausgingen, dann waren sie zu schwach, als daß man sie hätte sehen können.
„Brücke“, rief er, „habt ihr das gesehen?“
„Ja, Skipper. — War ein ganz kleiner Schock.
Vielleicht eine weitere Positionsänderung.
Wir beobachten den Gradgyro. — Bisher noch kein Ergebnis. Moment mal! Positives Ergebnis!
Wir können es gerade noch messen: weniger als ein Mikroradial pro Sekunde, aber beständig.“
Also begann Rama sich umzuorientieren. Allerdings mit nahezu unmerklicher Langsamkeit.
Diese vorhergehenden Erschütterungen konnten sehr wohl falscher Alarm gewesen sein — aber dies hier und jetzt, dies war echt.
„Frequenz erhöht sich — fünf Mikrorad. He, habt ihr diesen Stoß mitgekriegt?“
„Na sicher haben wir. Versetzen Sie alle Systeme an Bord in Operationsbereitschaft. Es kann sein, daß wir abrupt abziehen müssen.“
„Rechnen Sie denn jetzt bereits mit einer Änderung der Flugbahn? Wir sind noch ziemlich weit vom Perihelion entfernt.“
„Ich glaube nicht, daß Rama sich an unsere Schulbücher halten wird. Sind fast bei Beta angekommen. Machen dort fünf Minuten Pause.“
Fünf Minuten waren natürlich bei weitem nicht ausreichend. Trotzdem dehnten sie sich, als wären sie ein Jahrhundert. Es konnte jetzt nämlich wirklich keinen Zweifel mehr geben: das Licht wurde schwächer, und zwar sehr rasch.
Obwohl sie alle ihre Stablampen bei sich hatten, war die Vorstellung von Finsternis in dieser Innenwelt unerträglich. Sie alle hatten sich psychologisch vollkommen an den endlosen Rama-Tag gewöhnt, und es fiel ihnen direkt schwer, sich an die Umstände bei ihren ersten Erkundungen in dieser Welt zu erinnern.
Sie verspürten alle den unwiderstehlichen Drang zu fliehen, zu entkommen — sich in dieses Sonnenlicht zu retten, das da auf der anderen Seite der zylindrischen Wände, einen Kilometer weit von ihnen entfernt, leuchtete.
„Nabenkontrolle!“ rief Norton. „Funktioniert der Suchscheinwerfer? Wir werden ihn vielleicht bald ganz rasch brauchen.“
„Sicher, Skipper, hier kommt er.“
Ein Lichtfunke, der sie mit Sicherheit erfüllte, erschien acht Kilometer über den Köpfen der Männer. Aber das Licht wirkte erstaunlich schwächlich. Doch es hatte ihnen zuvor nützliche Dienste geleistet, und es würde sie auch jetzt leiten, falls dies nötig sein sollte.
Das würde der längste und nervenzerrüttendste Aufstieg werden, den seine Besatzung je unternommen hatte, dachte Norton grimmig.
Was auch geschehen mochte, man durfte nichts übereilen. Wenn sie sich zu sehr erschöpften, dann würden sie einfach irgendwo an diesem steilen Abhang zusammenbrechen und warten müssen, bis ihre Muskeln, die den Dienst versagten, wieder einsatzbereit sein würden. Inzwischen waren sie wohl ohnehin eine der meisttrainierten Mannschaften, die je eine Mission im Weltraum ausgeführt hatten.
Aber schließlich waren den Möglichkeiten von Fleisch und Blut Grenzen gesetzt.
Nach einstündigem unablässigen Vorwärtsstolpern hatten sie die vierte Abteilung des Treppensystems erreicht. Sie waren jetzt etwa drei Kilometer über der Nordebene. Von jetzt an würde es sehr viel leichter gehen: die Schwerkraft war bis auf nahezu ein Drittel der Erdschwerkraft gesunken. Und wenn auch ab und zu kleinere Beben sich bemerkbar gemacht hatten, so waren doch keine weiteren außergewöhnlichen Erscheinungen aufgetreten, und es gab noch immer genügend Licht. Sie begannen sich besser zu fühlen, brachten mehr Optimismus auf, ja sie fragten sich sogar, ob sie nicht vielleicht zu früh fortgegangen seien. Immerhin, eines stand fest: sie würden nicht zurückkehren.
Sie alle hatten zum letztenmal den Fuß auf den Boden Ramas gesetzt.
Es war während ihrer zehnminütigen Pause auf der vierten Plattform, daß Joe Calvert plötzlich ausrief: „Was hat dieser Lärm zu bedeuten, Skipper?“
„Lärm? — Ich kann nichts hören.“
„Ein Hochfrequenzpfeifen — die Frequenz sinkt. Sie müssen es doch hören!“
„Ihre Ohren sind jünger als meine… Ach ja, jetzt höre ich es.“
Das Pfeifen schien aus allen Richtungen zu kommen. Bald war es zu großer Lautstärke angeschwollen, war fast durchdringend, verlor aber bald an Höhe. Dann brach es plötzlich völlig ab.
Ein paar Sekunden später kam es erneut und wiederholte die gleiche Sequenz; das Signal enthielt alles, was man an melancholisch jaulenden Sturmsirenen von einem Leuchtturm auf der Erde gewohnt war, die ihre Warnungen in eine nebelverhangene Nacht hinaussenden.
Es war eine Botschaft, und sie mußte dringend sein. Sie war nicht für ihre menschlichen Ohren bestimmt, aber sie konnten sie verstehen.
Und dann — wie um doppelt sicherzugehen — wurde die Warnung durch die Sonnen im Rama noch einmal visualisiert.
Sie verdunkelten sich, verloschen nahezu völlig. Dann begannen sie zu pulsieren. Hell leuchtende Kugeln rasten wie Kugelblitze die sechs schmalen Täler entlang, die einst die Sonnen dieser Welt gewesen waren. Die Kugelblitze wanderten von beiden Polen weg auf die See zu. Sie pulsierten in einem synchroniserten Rhythmus, der nur eines bedeuten konnte: „Zur See!“ Und die Aufforderung war so stark, daß man sich ihr nur schwer entziehen konnte.
Keiner der Männer entging dem Zwang, sich umzuwenden und Vergessen in den Wassern Ramas zu suchen.
„Nabenkontrolle!“ rief Norton dringlich.
„Können Sie verfolgen, was los ist?“
Pieters Stimme kam zu ihm zurück. Sie klang ehrfürchtig und mehr als nur etwas angstvoll.
„Ja, Skipper. Ich habe gerade den Südkontinent in der Linse. Dort drüben wuseln immer noch zig Bioten herum. Ein paar davon sind ziemlich groß. Kräne, Bulldozer — Mengen von Mülltypen. Und sie alle rasen auf die Zylindrische See zu, mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie bei ihnen bisher noch nicht erlebt habe. Da verschwindet ein Kran — schwupps, über die Böschung! Genau wie Jimmy, bloß ein bißchen schneller, na, ziemlich viel schneller!
… Er ist in Trümmer zersplittert, als er aufprallte… Und jetzt kommen die Haie — sie machen sich über ihn her — brrr, kein schöner Anblick… Jetzt habe ich die Ebene im Visier.
Da liegt ein Bulldozer, der anscheinend eine Panne hat… er dreht sich beständig im Kreis.
Jetzt wird er von ein paar Krebsen attackiert, die ihn in Stücke zerlegen… Skipper, ich glaube, Sie machen sich am besten sofort auf den Heimweg.“
„Glauben Sie mir“, sagte Norton mit Nachdruck, „wir kommen so rasch, wie es nur geht.“
Rama machte die Luken dicht wie ein Schiff, das sich auf einen Sturm vorbereitet. Dieser Eindruck drängte sich Norton zwingend auf: Allerdings hätte er keine logische Erklärung dafür finden können. Er empfand sich nicht mehr als ein rationales Wesen: in seinem Inneren lagen zwei widersprüchliche Kräfte miteinander im Streit. Der Zwang zur Flucht und der Wunsch, jenen Blitzentladungen zu folgen, die noch immer über den Himmel huschten und die ihn aufforderten, sich zu den Bioten zu gesellen und wie sie auf die See zuzumarschieren.
Noch eine Sektion der Treppenkonstruktion — wieder zehn Minuten Pause, damit die Gifte Gelegenheit hatten, aus seinen Muskeln zu verschwinden —, noch zwei Kilometer vor ihnen… Aber laßt uns bloß nicht daran denken… Die wahnsinnige Sequenz fallender Pfeiftöne hörte ganz plötzlich auf. Im gleichen Augenblick stellten die Feuerbälle, die bisher durch die geraden Täler auf die See zu pulsiert waren, ihre Bewegung ein. Wieder waren die sechs linearen Sonnen Ramas durchgehende Lichtbänder.
Aber diese Lichtbänder nahmen rasch an Helligkeit ab, zuckten zuweilen. Von Zeit zu Zeit wurden unterirdische Beben spürbar. Die Brükke berichtete, daß Rama noch immer mit unmerklicher Langsamkeit hin- und herschwinge — wie eine Kompaßnadel, die auf ein schwaches Magnetfeld reagiert. Das klang ja eigentlich recht zuversichtlich. Wenn Rama seine Schwenkung beenden würde, dann würde Norton wirklich beginnen, sich Sorgen zu machen.
Alle Bioten waren jetzt verschwunden, wie Pieter von der Nabe berichtete. In der ganzen Innenwelt Ramas gab es nun nur noch eine Bewegung, die der menschlichen Wesen, die mit schmerzlicher Langsamkeit die gekrümmten Hänge der Nordkuppel emporkletterten.
Norton hatte die Schwindelgefühle längst überwunden, die er beim ersten Anstieg empfunden hatte, nun nistete eine völlig neue Furcht in seinem Inneren. Sie alle waren hier außerordentlich verletzlich — auf dieser riesigen Kletterpartie von der Ebene bis zur Nabe; was würde passieren, wenn Rama, nachdem er seine Positionsänderung vollzogen hatte, plötzlich beschleunigen würde?
Aller Voraussicht nach würde der Schub sich längs der Achse auswirken. Wenn dies in nördlicher Richtung stattfand, wäre das kein Problem. Sie würden einfach nur ein bißchen stärker gegen den Hang gepreßt, den sie gerade hinanstiegen. Doch wenn der Schub südwärts erfolgte, dann würden sie möglicherweise in den Raum hinausgeschleudert werden und eventuell irgendwann auf die unter ihnen liegende Ebene fallen.
Norton versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß jede mögliche Beschleunigung ja nur sehr schwach sein konnte. Die Berechnungen Dr. Pereras hatten höchst überzeugend geklungen: Rama konnte kaum mit mehr als einem Fünfzigstel G beschleunigen, oder die Zylindrische See würde über die Südklippe hinüberschwappen und einen ganzen Kontinent überfluten. Aber Perera hatte in seinem bequemen Studierzimmer drunten auf der Erde gesessen. Ihn bedrohten nicht kilometerhohe Metallklippen, die allem Anschein nach jederzeit herunterstürzen konnten. Und vielleicht war ja eine periodische Überflutung in Rama eingeplant… Nein, das war einfach lächerlich. Absurd, sich einzubilden, daß all diese Trillionen Tonnen von Masse sich plötzlich beschleunigen könnten, und zwar so stark, daß er, Norton, den Halt verlor. Trotzdem ließ Norton für den Rest des Anstiegs das Geländer niemals los.
Endlos viel später endete die Treppe; jetzt waren nur noch ein paar hundert Meter senkrechter Leiter zu überwinden. Es war nicht mehr nötig, diese Leiter hinaufzuklettern, denn ein Mann an der Nabe konnte ganz leicht einen anderen gegen die abnehmende Schwerkraft emporziehen. Selbst am Fuß der Leiter wog ein Mann weniger als fünf Kilo und oben praktisch gar nichts.
Norton entspannte sich in der Sitzschlinge, griff von Zeit zu Zeit nach den Handgriffen, um den schwachen Corioliseffekt auszugleichen, der ihn von der Leiter wegzudrängen suchte. Bei diesem letzten Blick auf Rama vergaß er beinahe seine verkrampften steifen Muskeln.
Das Licht war jetzt etwa so hell wie bei Vollmond auf der Erde; die Szenerie war klar zu übersehen, doch kleinere Einzelheiten konnte er nicht mehr erkennen. Der Südpol war teilweise hinter einem leuchtenden Nebel verborgen — nur das Große Horn drang durch ihn hindurch: ein kleiner schwarzer Punkt genau ihm gegenüber.
Der sorgfältig kartographierte und doch immer noch unbekannte Kontinent jenseits der See war wieder das anscheinend zufällige Flickmuster wie zuvor. Er war zu stark verkürzt und wies zu viele komplizierte Details auf, als daß die visuelle Prüfung ergiebig gewesen wäre, und Norton überflog den Bereich nur mit einem kurzen Blick.
Seine Augen glitten rings um dies kreisförmige Band der See, er bemerkte zum erstenmal ein reguläres Muster von unruhigem Wasser. Es war, als ob die Wellen über Riffe brächen, die in geometrisch genauen Abständen angeordnet waren. Ramas Manöver zeigte seine Auswirkungen, allerdings waren sie nur geringfügig. Er war sicher, daß Sergeant Barnes unter diesen Umständen mit Vergnügen über die Zylindrische See gesegelt wäre, hätte er sie gebeten, mit ihrer verlorenen Resolution loszufahren.
New York, London, Paris, Moskau, Rom… er sagte all den Städten auf dem Nordkontinent Lebewohl und hoffte, die Ramaner würden ihm vergeben, wenn er irgendwo Schaden angerichtet hatte. Vielleicht würden sie ja Verständnis dafür aufbringen, daß alles aus wissenschaftlichem Interesse geschehen war.
Dann war er plötzlich bei der Nabe angekommen; Hände griffen eifrig nach ihm, um ihm zu helfen und ihn rasch durch die Luftschleuse zu befördern. Seine überanstrengten Arme und Beine zitterten so unkontrolliert, daß er beinahe hilflos war, und so ließ er es sich dankbar gefallen, wie ein halbgelähmter Invalide manipuliert zu werden.
Der Himmel Ramas zog sich über ihm zusammen, als er in den Zentralkrater der Nabe hinabstieg. Als die innere Schleusentür ihm den Anblick endgültig abschnitt, dachte er bei sich: Wie seltsam, daß jetzt die Nacht hereinbricht, wo Rama der Sonne am nächsten ist!