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„Kommen Sie rein“, sagte Commander Norton wie geistesabwesend, als er das sachte Klopfen an seiner Tür vernahm.
„Hier sind ein paar Neuigkeiten, Bill. Ich wollte Sie direkt bringen, ehe die Besatzung sich was ausdenkt. Und außerdem fallen sie sowieso in meinen Verantwortungsbereich.“
Norton schien immer noch weit weg zu sein.
Er lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, die Augen halb geschlossen, die Beleuchtung in der Kabine war nur schummrig… Er döste nicht richtig vor sich hin, doch er hatte sich in den Luxus einer Fantasie, eines höchst privaten Traums verloren.
Er blinzelte ein-, zweimal, dann war er sofort wieder da. „Tut mir leid, Laura. Ich begreife das gar nicht. Worum geht es denn?“
„Sagen Sie bloß, Sie hätten es vergessen!“
„Hören Sie auf, mich an der Nase oder sonstwo rumzuführen, Sie ekelhaftes Weib! In letzter Zeit habe ich mich ja wirklich mit ein paar kleinen Problemchen rumschlagen müssen.“
Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst schob einen Ankerstuhl die Rillen entlang und setzte sich neben Norton nieder.
„Die interplanetarischen Krisen kommen und gehen, aber die Mühlen der Bürokratie auf dem Mars mahlen unablässig vor sich hin. Ich vermute, Rama hat da Hilfestellung geleistet. Und Gott sei Dank brauchten Sie nicht auch noch das Einverständnis der Hermianer dazu!“
In Nortons Gehirn dämmerte etwas.
„Oh — also hat Port Lowell die Erlaubnis gegeben!“
„Nein, noch besser — es klappt bereits…“
Laura Ernst warf einen Blick auf den Papierstreifen in ihrer Hand. „Sofort“, las sie. „Möglicherweise wird gerade jetzt Ihr neuer Sohn empfangen. Meine Glückwünsche.“
„Danke. Ich hoffe nur, es hat ihm nichts ausgemacht zu warten.“
Wie alle Astronauten war Norton bei seiner Dienstverpflichtung sterilisiert worden. Denn wenn ein Mann Jahre seines Lebens im Weltraum verbringen mußte, dann waren strahlungsbedingte Mutationen des Samens nicht ein bloßes Risiko, sondern eine ziemliche Gewißheit.
Also hatte das Spermatozoon, das auf dem Mars soeben seine Genfracht abgeladen hatte (zwei Millionen Kilometer von seinem Spender entfernt), dreißig Jahre lang tiefgefroren warten müssen, bis sich sein Schicksal erfüllte.
Norton fragte sich, ob er wohl rechtzeitig zur Geburt seines Kindes nach Hause kommen würde. Er hatte sich Erholung verdient — ein normales Familienleben, soweit dies einem Astronauten überhaupt möglich war. Jetzt, da seine Mission nahezu beendet war, begann er sich zu entspannen. Er dachte wieder an seine Zukunft und an die Zukunft seiner beiden Familien.
Ach, es würde gut sein, eine Zeitlang wieder zu Hause zu sein und die verlorene Zeit wieder gutzumachen. In jeder Hinsicht… „Mein Besuch“, protestierte Laura ziemlich wenig überzeugend, „hatte eigentlich einen rein beruflichen Charakter…“
„Nach all den Jahren“, antwortete Norton, „dürften wir uns doch wohl ein bißchen besser kennen. Im übrigen sind Sie ja ab sofort außer Dienst.“
Sehr viel später fragte Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst: „Und was denkst du jetzt?“ — „Ich hoffe doch, daß Sie nicht sentimental werden, Skipper!“
„Nein, nicht wegen uns beiden. Es ist Rama.
Ich vermisse ihn.“
„Innigsten Dank für dieses Kompliment.“
Norton schloß sie fester in die Arme. Eine der nettesten Nebenerscheinungen der Schwerelosigkeit, pflegte er oft zu denken, war es, daß man einen Partner wirklich die ganze Nacht lang im Arm halten konnte, ohne daß einem dabei die Arme einschliefen. Und es gab sogar Leute, die behaupteten, daß Liebe bei einem G so schwerfällig sei, daß sie sie nicht mehr zu genießen vermöchten.
„Laura, es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß Männer im Gegensatz zu Frauen einen zweigleisigen Verstand haben. Aber jetzt mal im Ernst — also, jedenfalls ein bißchen ernster: ich habe wirklich das Gefühl, daß ich etwas verloren habe.“
„Ja, das kann ich begreifen.“
„Sei doch nicht so medi-zynisch. Das ist nur einer der Gründe. Ach, lassen wir’s doch.“
Norton gab es auf. Es war so schwer zu erklären.
Es gelang ihm nicht einmal, es sich selbst klarzumachen.
Er hatte über alle vernünftigen Erwartungen hinaus Erfolg gehabt. Die Entdeckungen, die seine Leute in Rama gemacht hatten, würden die Wissenschaftler Jahrzehnte beschäftigen.
Und was noch mehr zählte, er, Norton, hatte das fertiggebracht, ohne einen einzigen Mann zu verlieren.
Aber er hatte auch versagt. Man konnte endlose Vermutungen darüber anstellen, doch das Wesen und die Absichten der Ramaner waren noch immer völlig unbekannt. Sie hatten das Sonnensystem als Auftankstation benutzt, als neue Startbasis — man konnte es nennen, wie man wollte —, und hatten dieses Sternensystem danach vollkommen ignoriert, während sie sich zu wichtigeren Aufgaben aufmachten.
Vielleicht würden sie nie auch nur wissen, daß es so etwas wie eine menschliche Rasse gab.
Und eine derartig unerhörte Gleichgültigkeit war schlimmer, als es irgendeine absichtliche Beleidigung hätte sein können.
Als Norton zum letztenmal einen Blick auf Rama warf, auf diesen winzigen Stern, der in einen Bereich jenseits der Venus hinausschoß, wußte er mit absoluter Sicherheit, daß wieder ein Teil seines Lebens vergangen war. Er war erst fünfundfünfzig Jahre alt, aber er hatte das Gefühl, als habe er seine ganze Jugendlichkeit dort unten auf dieser gekrümmten Ebene gelassen, mitten zwischen den Geheimnissen und Wundern, die sich jetzt auf Nimmerwiedersehen dem Zugriff der Menschheit entzogen. Was immer die Zukunft ihm an Ehrungen und Beförderungen bringen mochte, er, Norton, würde für den Rest seiner Tage unter einem Gefühl leiden, daß ein Höhepunkt vorüber war, und zwar endgültig, und daß er unwiderruflich die wichtigsten Gelegenheiten seines Lebens verpaßt hatte.
Das war es, worüber er insgeheim nachdachte.
Aber eigentlich hätte er es besser wissen sollen.
In seinem Schlummer auf der weit entfernten Erde, aus dem er plötzlich durch eine Botschaft aus seinem Unbewußten aufgeschreckt wurde, und es war ein ruheloser Schlummer gewesen, hatte Dr. Perera eine Botschaft erhalten, die noch immer sein ganzes Gehirn erfüllte und die er bisher noch keinem anderen Menschen mitgeteilt hatte:
Die Ramaner tun alles dreifach…