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Rama war so still wie ein Grab — und das war er vielleicht auch. Auf keiner Frequenz gab es Radiosignale. Keine Vibrationen, die die Seismographen auffangen konnten, außer Mikroerschütterungen, die zweifellos durch die zunehmende Sonnenhitze verursacht wurden. Keine elektrischen Ströme, keinerlei Radioaktivität.
Das Objekt war beinahe bedrohlich still; sogar ein Asteroid würde vermutlich lauter sein.
Was haben wir erwartet? fragte sich Norton.
Ein Begrüßungskomitee? Er war sich nicht ganz im klaren, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Die Maßnahmen, die ergriffen werden sollten, waren ihm immerhin vorgeschrieben.
Sein Befehl lautete, vierundzwanzig Stunden zu warten und dann zu Erkundungen das Raumschiff zu verlassen. An diesem ersten Tag schlief keiner sehr viel; selbst die Männer der Besatzung, die keinen Dienst hatten, hockten die meiste Zeit vor den Monitoren der Testinstrumente oder starrten durch die Beobachtungsluken auf die nackte geometrische Landschaft hinaus. Lebt diese Welt? fragten sie sich immer und immer wieder. Ist sie tot? Oder schläft sie nur?
Auf die erste EVA nahm Norton nur einen Begleiter mit, Kapitänleutnant Karl Mercer, seinen abgebrühten und erfinderischen Offizier für Lebenserhaltung. Er beabsichtigte nicht, das Raumschiff aus den Augen zu verlieren, und wenn es Probleme geben sollte, so würde ein Trupp von mehreren Leuten kaum mehr Sicherheit garantieren. Er traf jedoch Vorsichtsmaßnahmen und ließ zwei weitere Mann der Besatzung in Raumanzügen an der Luftschleuse aufstellen.
Die paar Gramm, die sie durch die kombinierte Schwerkraft und Zentrifugalkraft Ramas gewannen, waren weder nützlich noch hinderlich; sie mußten sich voll und ganz auf ihre Jets verlassen. Sobald wie möglich, beschloß Norton, würde er Leitseile kreuz und quer zwischen dem Schiff und den Bunkern spannen lassen, damit man sich bewegen konnte, ohne Treibstoff zu vergeuden.
Die nächste bunkerähnliche Erhebung war nur zehn Meter von der Luftschleuse entfernt.
Nortons erste Sorge galt der Überprüfung, ob das Schiff beim Aufsetzen keinen Schaden gelitten hatte.
Der Rumpf der Endeavour preßte sich mit einem Gewicht von mehreren Tonnen gegen die gekrümmte Wand, doch war der Druck gleichmäßig verteilt. Beruhigt begann er um die kreisförmige Struktur herumzugleiten, um ihren Zweck zu erkennen.
Norton war erst ein paar Meter vorangekommen, als er auf eine Unebenheit in der glatten, allem Anschein nach metallischen Wand stieß.
Zunächst dachte er, es handle sich um irgendeine seltsame Verzierung, sie schien keine praktische Funktion zu erfüllen. Sechs Rinnen oder Schlitze waren in radialer Anordnung tief in das Metall eingegraben. In ihnen lagen sechs Quersprossen wie die Speichen eines randlosen Rades mit einer kleinen Nabe im Mittelpunkt.
Doch dieses Rad ließ sich nicht drehen, da es in die Wand eingebettet war.
Dann bemerkte er mit wachsender Erregung, daß an den Speichenenden tiefere Nischen lagen, deren Form es einer zupackenden Hand (einer Klaue, einem Tentakel?) leichtmachten zuzupacken. Wenn man sich so hinstellte, sich gegen die Wand preßte und so an der Speiche zog… Leicht und ohne Widerstand glitt das Rad aus der Wand hervor. Zu seinem größten Erstaunen — denn er war praktisch sicher gewesen, daß sämtliche beweglichen Teile vor ewigen Zeiten bereits vakuumversiegelt worden sein mußten — hielt Norton das Speichenrad fest.
Er hätte der Kapitän eines alten Windjammers am Ruder seines Schiffes sein können. Er war froh darüber, daß die Sonnenblende seines Helms seinen Gesichtsausdruck vor Mercer verbarg.
Norton war überrascht, aber auch wütend über sich selbst; vielleicht hatte er hier bereits den ersten Fehler begangen. Schrillten schon die Alarmsirenen im Inneren Ramas, hatte sein unbedachtes Tun bereits einen unerbittlichen Mechanismus ausgelöst?
Doch die Endeavour meldete keine Veränderungen: ihre Detektoren fingen noch immer nichts außer einem schwachen thermischen Knistern und den eigenen Bewegungen auf.
„Nun, Skipper, werden Sie dran drehen?“
Norton dachte an seine Instruktionen. „Handeln Sie nach Gutdünken, aber seien Sie vorsichtig.“ Wenn er jeden einzelnen Schritt mit der Kontrollstation absprechen müßte, würde er nie etwas erreichen.
„Wie lautet Ihre Diagnose, Karl?“ fragte er Mercer.
„Handelt sich offenbar um die manuelle Kontrolle einer Luftschleuse — vielleicht um ein Nothilfssystem für den Fall von Energieausfall.
Ich kann mir keine Technologie vorstellen, wie fortschrittlich sie auch ist, die nicht derartige Vorsichtsmaßregeln treffen würde.“
Und es müßte gefahrlos funktionieren, dachte Norton. Es könnte nur bedient werden, wenn keinerlei Gefahr für das System bestand… Er packte zwei gegenüberliegende Speichen des Spills, stemmte die Füße gegen den Grund und probierte das Rad aus. Es bewegte sich nicht.
„Helfen Sie mir“, bat er Mercer. Jeder ergriff eine Speiche. Aber auch unter Einsatz aller ihrer Kräfte brachten sie nicht die kleinste Bewegung zustande.
Es gab natürlich nicht den geringsten Grund, warum sich auf Rama die Uhren und Korkenzieher in der gleichen Richtung wie auf der Erde bewegen sollten… „Versuchen wir’s andersrum“, schlug Mercer vor.
Diesmal stießen sie auf keinen Widerstand.
Das Rad drehte sich nahezu mühelos einmal ganz herum. Dann nahm es sehr geschmeidig das Gewicht auf.
Einen halben Meter entfernt begann die gekrümmte Bunkerwand sich zu bewegen wie eine sich langsam öffnende Muschelschale. Ein paar Staubpartikel strömten mit der hervortretenden Luft wie glitzernde Diamanten nach außen in das helle Sonnenlicht.
Der Zugang zu Rama lag offen vor ihnen.