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Baranov raschelte ostentativ und ärgerlich mit seiner Zeitung, bevor er an jenem Abend im ehrwürdigen Union Club verkündete: »In Brooklyn ist schon wieder ein Bandenmord passiert.«
»Gibt's sonst nichts Neues?« fragte ich unbeeindruckt.
»Es ist zum Kotzen!« schnaubte Baranov wütend. »Jetzt setzen sie wieder was weiß ich wieviel Polizeibeamte auf den Fall an, und andere wichtige Polizeiarbeit bleibt einfach liegen. Wenn sich die Gangster nach und nach gegenseitig umbringen wollen, na bitte! Das kann doch uns egal sein.«
»Damit würde man nur schlechte Präzedensfälle setzen«, gab Jennings in belehrendem Ton zu bedenken. »Mord ist nun mal Mord. So was kann man nicht einfach auf sich beruhen lassen. Außerdem muß man erst Ermittlungen anstellen, bevor man sagen kann, ob es ein Bandenmord gewesen ist.«
»Im übrigen werden Fälle dieser Art sowieso nie gelöst«, warf ich ein. »So viel Zeit verschwendet die Polizei also sicher nicht darauf.«
»Selbst die wenige Zeit, die sie darauf verschwendet, ist zuviel!« behauptete Baranov hitzig. »Von den Beteiligten macht keiner den Mund auf, und die Polizei hat keine Handhabe gegen sie. Selbst die nächsten Verwandten des Opfers sagen kein Wort. Diese Idioten! Eigentlich sollte man annehmen, daß sie an der Bestrafung des Mörders interessiert sein müßten.«
In diesem Augenblick schien sich Griswold an seinem gleichmäßigen Schnarchen zu verschlucken. Als er sich wieder erholt hatte, strich er mit seiner freien Hand den weißen Schnurrbart glatt, während er in der anderen ruhig sein Glas Scotch mit Soda hielt.
»Selbstverständlich sind die Angehörigen daran interessiert, daß der Mörder eine gerechte Strafe bekommt, nur wollen sie das lieber der entsprechenden Gangsterbande und nicht der Polizei überlassen«, erklärte Griswold. »Wobei die Rache einer Bande meistens sogar wirksamer ist als der normale Rechtsweg. Jeder Kriminelle hat ein Berufsethos, und Schweigsamkeit ist das oberste Gebot. Mißachtet man dieses ungeschriebene Gesetz, erfährt die Gesellschaft zuviel, was sich wiederum zum Schaden aller auswirkt. Wir hatten mal den Fall von ... «
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Griswold erneut einschlafen, aber Jennings, der ihm am nächsten saß, trat ihm heftig gegen den Knöchel. Mit einem leisen »Aua!« fuhr Griswold schließlich fort. . .
Wir hatten also mal den Fall von »Piano-Jo«, dem Meister der achtundachtzig Tasten. Eigentlich hieß er meines Wissens nach Christopher, aber da er der geborene Pianist und ein Virtuose auf den achtundachtzig Tasten des Klaviers war, nannten ihn alle nur den Piano-Jo.
Er hätte wohl ein berühmter Pianist werden können, denn er konnte alles, gleich welchen Stils, nachspielen und verstand es, herzerweichend zu improvisieren. Außerdem hatte er eine gute Stimme. Trotzdem fehlte ihm der letzte Rest zur Perfektion, der innere Antrieb. Und die Chancen, die ihm geblieben wären, ertränkte er konsequent in Alkohol.
Mit fünfunddreißig verdiente er sich seinen kümmerlichen Lebensunterhalt als Pianist in verschiedenen Bars und drittklassigen Nachtclubs und diente Gangsterbanden als Nachrichtenübermittler. Selbst wenn er betrunken war, und das war fast immer der Fall, blieb er sanftmütig und freundlich. Auch sein Klavierspiel wurde durch den Alkoholgenuß nie beeinträchtigt.
Die Polizei, die ihn gut kannte, ließ ihn im großen und ganzen in Ruhe. Da er nie ausfallend wurde oder andere belästigte, gab es auch nie einen Grund, ihn wegen Trunkenheit festzunehmen und in die Ausnüchterungszelle zu stecken. Davon abgesehen nahm er weder Drogen, noch handelte er mit ihnen, hatte mit den Geschäften der Damen, die die Nachtclubs frequentierten, in denen er spielte, nichts zu tun, und die Botendienste, die er für die Gangsterbanden ausführte, waren im Grunde harmlos.
Gelegentlich versuchte die Polizei, ihn auszufragen, doch Piano-Jo blieb verschwiegen.
Eines Tages erklärte er bei einer solchen Gelegenheit: »Hören Sie, meine Herren, für meinen Ruf ist es gar nicht gut, in Ihrer Gesellschaft gesehen zu werden. Schließlich bin ich nicht allein auf der Welt. Ich habe eine Schwester mit Kind und Mann, die hart arbeitet. Ich bin ihr keine große Hilfe. Allein schon durch die Tatsache meiner Existenz hat sie genug zu leiden. Ich möchte ihr nicht noch mehr Kummer machen und will vermeiden, daß man sie belästigt - und man wird sie belästigen, wenn gewisse Leute den Eindruck gewinnen, daß ich mich zu oft mit Bullen abgebe.«
Die Polizei hatte Verständnis für seine Ängste und ließ ihn von da an in Ruhe, weil sie außerdem erkannte, daß er niemanden verpfeifen würde und im übrigen sowieso nicht viel wußte.
Aus diesem Grund war es besonders traurig, daß es Piano-Jo eines Tages trotzdem erwischte.
Man fand ihn in einer dunklen Gasse mit einem Messer im Rücken. Er lebte noch, als die Polizei eintraf, denn dieses Mal hatte ein anonymer Anrufer wenigstens Meldung gemacht. Normalerweise wird eine Leiche in solchen Gegenden erst Stunden nach der Tat gefunden, und sämtliche Bewohner der Nachbarschaft bekommen angesichts der Fragen der Polizei glasige Augen oder entpuppen sich in ungewöhnlich großer Zahl als Ausländer, die des Englischen kaum mächtig sind.
Die Polizei fand nie heraus, weshalb Piano-Jo erstochen wurde. Alle hatten ihn für völlig harmlos gehalten. Andererseits gab es innerhalb der einzelnen Gangsterbanden ständig Machtkämpfe, so daß die Vermutung nahelag, Piano-Jo könne unbewußt zwischen die Fronten geraten sein.
Die Polizisten, die Piano-Jo fanden, kannten ihn gut und riefen über Funk sofort einen Krankenwagen. Piano-Jo sah den Beamten nur gelassen in die Augen. Ihn schien nichts mehr zu kümmern.
»Keine Angst, Piano-Jo«, sagte ein Polizist. »Wir bringen dich durch. Du bist bald wieder in Ordnung.«
Piano-Jo lächelte. »Wovon reden Sie, Sergeant? Ich sterbe. Wenn ich tot bin, ist alles in Ordnung. Dann bin ich drunten in der Hölle bei meinen Freunden und meinen Hoffnungen, und wenn es dort ein heißes Piano gibt, komme ich schon zurecht.«
»Wer hat dir das angetan, Piano-Jo?«
»Was geht das Sie - oder was geht das überhaupt jemanden an?«
»Willst du denn nicht, daß wir die Ratte schnappen, die das getan hat?«
»Weshalb denn? Das macht mich auch nicht wieder gesund. Ich krepiere so oder so. Vielleicht hat er mir sogar einen Gefallen getan. Wenn ich nur den Mut gehabt hätte, hätte ich schon vor Jahren selbst Schluß gemacht.«
»Wir müssen ihn kriegen, Piano-Jo. Hilf uns! Wenn du sowieso stirbst, kann dir ja nichts mehr passieren. Was will er dir denn noch antun? Er kann höchstens auf deinem Grab rumtrampeln.«
Piano-Jos Lächeln wurde schwächer. »Vermutlich findet er nicht mal mein Grab. Mich kippen sie doch zusammen mit dem anderen Abfall auf den Müll. Und dort tanzt man nicht. Dafür trampeln sie dann auf meiner Schwester rum. Das darf nicht passieren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie rumerzählen würden, daß ich den Mund gehalten habe.«
»Das tun wir. Keine Angst, Piano-Jo. Aber wir lügen gern für dich. Nenn uns einfach einen Namen, oder gib uns einen Hinweis. Du würdest mir den Job leichter machen, und ich sage keinen Ton, daß du uns geholfen hast.«
Piano-Jo lächelte amüsiert. »Sie brauchen Hilfe? Na gut. Wie wär's damit?« Er bewegte die Finger wie auf den unsichtbaren Tasten eines Klaviers und summte dazu einige Takte einer Melodie.
»Was war das?« erkundigte sich der Sergeant.
»Das ist mein Tip für Sie, Sergeant. Mehr kann ich nicht verraten.«
Damit schloß Piano-Jo die Augen. Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
Am nächsten Tag riefen sie mich an. Bei der Polizei schien das langsam zu einer Gewohnheit zu werden, die mir absolut nicht gefiel. Ich hatte genug eigene Arbeit zu erledigen, und meine tatkräftige Hilfe brachte mir nichts weiter als ein »Dankeschön« und einen feuchten Händedruck. Ich kriegte nicht mal ein paar Gutscheine für falsches Parken.
»Ein Bandenmord?« fragte ich. »Wen interessiert das schon? Was nützt es, wenn Sie den Mörder finden?« Es war die übliche Reaktion.
Ich sprach mit Carmody, einem Lieutenant vom Morddezernat.
»Mußten ausgerechnet Sie das sagen?« entgegnete er gereizt. »Tagtäglich deckt mich jeder Trottel mit diesen Sprüchen ein. Von Ihnen hätte ich was anderes erwartet. Aber diesmal hat's zufällig einen ganz armen Hund erwischt, der nie jemandem was zuleide getan hat. Piano-Jo hätte eigentlich was Besseres verdient. Na ja, werden wir nicht sentimental. Die Sache ist die: Wenn es uns gelingt, diesen
Mord jemandem anzuhängen, dann besteht eine wenigstens kleine Chance, daß die Organisation, der er angehört, dadurch einen Knacks bekommt. Und an diesem Punkt könnten wir ansetzen, um endgültig mit der Bande aufzuräumen. Die Aussichten auf Erfolg sind gering, aber wir müssen es versuchen, Griswold. Und Sie sollen uns dabei helfen!«
»Schön und gut, aber wie?« fragte ich.
»Wir haben immerhin einen Hinweis, der uns zum Mörder führen könnte. Kommen Sie, sprechen Sie mit Sergeant Rodney. Er war dabei, als Piano-Jo, so heißt das Opfer, gestorben ist.«
Sergeant Rodney machte keinen sehr glücklichen Eindruck. In einem Mordfall einen Hinweis auf den Täter zu haben, den er weder verstand noch weitergeben konnte, war nicht sehr erfolgversprechend.
Zerknirscht erzählte er uns vom letzten Wortwechsel mit Piano-Jo. Ich kann nicht beurteilen, wie genau er dieses Gespräch wiedergegeben hat, aber schließlich kam es nur auf die Melodie an.
»Was für eine Melodie ist es gewesen?« erkundigte ich mich.
»Keine Ahnung, Sir. Er hat nur ein paar Takte gesummt.«
»Haben Sie die Melodie vielleicht erkannt oder schon mal irgendwo gehört?«
»Nein, Sir. Das Ganze hat auch nicht wie ein bekannter Schlager oder ein bekanntes Lied geklungen. Es waren nur ein paar Töne, mit denen ich überhaupt nichts anfangen konnte.«
»Haben Sie sich die Melodie gemerkt? Könnten Sie sie mir vorsingen?«
Rodney sah mich entsetzt an. »Im Singen war ich nie besonders.«
»Wir sind hier ja auch nicht in der Oper. Versuchen Sie's, so gut es geht.«
Rodney setzte ein paarmal an, brachte auch einige Töne zustande und gab dann deprimiert auf. »Tut mir leid, Sir. Er hat's nur einmal vorgesungen, und die Melodie war mir völlig fremd.«
Daraufhin ließen wir ihn gehen. Rodney schien erleichtert zu sein, endlich Fragen zu entgehen, denen er völlig hilflos gegenüberstand.
Carmody sah mich besorgt an. »Was machen wir jetzt? Meinen Sie, wir kommen weiter, wenn wir ihn hypnotisieren lassen? Vielleicht erinnert er sich dann?«
»Nehmen wir an, er erinnert sich unter Hypnose wirklich daran und wir erkennen die Melodie und stellen eine Verbindung zu seinem Verdächtigen her, würde das dann vor Gericht als Beweismittel zugelassen? Würde Rodney ein Kreuzverhör gut überstehen? Könnte er die Geschworenen überzeugen?«
»Nein«, entschied Carmody. »Aber wenn wir wenigstens wüßten, wer es getan hat, könnten wir versuchen, ein Geständnis von ihm zu bekommen, ein Motiv zu finden.«
»Haben Sie denn überhaupt Verdächtige?«
»In der Gegend gibt es eine Bande, der drei Männer angehören, von denen wir annehmen, daß sie an drei früheren Morden beteiligt waren.«
»Dann knöpfen Sie sich am besten alle drei mal vor.«
»Das hätte keinen Sinn. Wenn wir alle drei schnappen, fühlen sie sich sicher wie in Abrahams Schoß, weil klar ist, daß wir völlig im dunkeln tappen. Immerhin kann's auch ein ganz anderer gewesen sein. Aber wenn sich unser Verdacht auf einen einzelnen konzentrieren würde und wir ihn allein in die Mangel nehmen ... «
»Sagen Sie mir doch mal die Namen der drei Verdächtigen, von denen Sie vorhin gesprochen haben, Lieutenant«, forderte ich ihn auf.
»Moose Matty, Ace Hegad und Gent Diamond«, erwiderte Carmody prompt.
»Tja, wenn das so ist... ist unser Problem praktisch schon gelöst«, erklärte ich. »Holen Sie Sergeant Rodney. Und dann suchen wir gemeinsam ein Klavier.«
Das Klavier fanden wir in einem Aufnahmestudio auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Hören
Sie mir jetzt bitte gut zu, Sergeant«, wandte ich mich an Rodney. »Und sagen Sie mir dann, ob das, was ich spiele, die Melodie ist, die Piano-Jo vor seinem Tod gesummt hat.« Ich schlug ein paar Noten an.
Rodney starrte mich überrascht an. »Donnerwetter, das klingt tatsächlich so, Sir. Könnten Sie's noch mal spielen?«
»Aber nur noch ein einziges Mal«, erwiderte ich. »Sonst glauben Sie bald, es ist in jedem Fall die Melodie, egal was ich spiele. Also, ist sie das?«
»Ja«, antwortete Rodney erregt. »Genau das ist sie.«
»Danke, Sergeant. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich bin sicher, das gibt eine Belobigung. Lieutenant, wir wissen jetzt, wer der Mörder ist - oder besser, wen Piano-Jo dafür gehalten hat.«
Ich habe keine Ahnung, ob es der Polizei gelungen ist, die ganze Bande hochzunehmen, weil ich den Fall nicht weiter verfolgt habe, aber nach meinen Informationen wurde der Mörder gefaßt und hinter Gitter gebracht. Sergeant Rodney bekam ein Lob, Casmody strich den Ruhm ein, und ich machte mich wieder an meine Arbeit. Was im einzelnen passiert war, könnt ihr euch ja wohl denken.
»Nein, das können wir erstaunlicherweise überhaupt nicht!« schnaubte Jennings aufgebracht. »Untersteh dich und schlaf jetzt ein, mein Freund! Diesmal bist du zu weit gegangen, Griswold. Willst du uns auf den Arm nehmen? Also, wie ist es dir gelungen, die Melodie zu rekonstruieren, und weshalb hast du damit den Mörder gefunden?«
Griswold blies verächtlich durch seinen weißen Schnurrbart. »Was gibt's denn da noch zu erklären? Wir haben nur sieben Noten, und mit der achten fängt alles wieder von vorn an: do - re - mi - fa - so -la - si, und dann beginnt es erneut mit do. Für diese Noten stehen auch die Buchstaben C - D - E - F -G - A - H und so weiter.
Es ist nun durchaus möglich, wenn auch nicht üblich, daß ein Personenname nur aus den Buchstaben besteht, mit denen wir gewisse Töne verbinden. Ace Hegad ist ein solches Beispiel. Als Casmody diesen Namen genannt hat, hatte ich sofort den Verdacht, daß er der Mörder gewesen ist. Deshalb habe ich den Namen in Musiknoten umgesetzt und auf dem Klavier la - do - mi - si - mi - so - la - re oder A - C - E - H - E - G - A - D mit einer kurzen Pause nach dem dritten Ton gespielt, und Rodney hat diese Notenkombination sofort als Piano-Jos letzte Melodie erkannt. Das ist alles.«