126391.fb2
An jenem besonderen Abend herrschte im Union Club eine gedrückte Stimmung. Nachdem ich die erste Seite der Zeitung kurz überflogen hatte, warf ich sie auf den Tisch.
»Nichts Neues über die Situation der Geiseln im Iran«, sagte Baranov, der meine Gedanken erraten zu haben schien, und verstummte nach diesem nutzlosen Kommentar.
»Hätten wir nur sämtliche Mitglieder der amerikanischen Botschaft schon eine Woche vor der Machtübernahme Chomeinis aus dem Iran abgezogen«, seufzte Jennings wehmütig. »Es wäre das einzig Richtige gewesen. Vermutlich ist eine Falschinformation durch die Geheimdienste an allem schuld.«
»Quatsch«, wehrte ich ab. »Die Lage mußte auch ohne Geheimdienstinformationen jedem klar sein. Wir wußten, wie die Stimmung im Iran war und daß wir zulassen würden, daß der Schah in New York behandelt wird. Wir hätten unbedingt ...«
Jetzt endlich öffnete Griswold ein Auge und musterte mich ärgerlich. »Idiot«, murmelte er. »Ihr redet über Dinge, von denen ihr nichts versteht. Es gab überhaupt keinen Grund zu der Annahme, daß eine so flagrante Verletzung des Völkerrechts geschehen würde. Selbst die Nazis haben sich wenigstens in dieser Beziehung immer korrekt verhalten. Außerdem kann man eine Evakuierung nicht von heute auf morgen durchführen. Dazu sind Zeit und eine sorgfältige Vorbereitung nötig. Hätten wir den Abzug unserer Botschaftsmitglieder betrieben, und der - übrigens perfekt gesteuerte -persische Mob hätte die Botschaft gestürmt, hätte jeder behauptet, es sei nur passiert, weil wir die Evakuierung vorbereitet haben. Aber natürlich sind die Möglichkeiten unserer Geheimdienste nicht ganz ausgeschöpft worden, wie Jennings bereits richtig angedeutet hat.«
Jennings lächelte geschmeichelt. »Dann gibst du also zu, daß auch Geheimdienste versagen können?«
»Selbstverständlich«, antwortete Griswold, trank einen Schluck Scotch mit Soda und wischte sich anschließend genüßlich den Schnurrbart. »Weil ich inzwischen pensioniert bin«, fügte er hinzu. »Natürlich kamen auch während meiner Dienstzeit Pannen vor - allerdings nur dann, wenn ich nicht rechtzeitig eingreifen konnte. Zum Beispiel damals ... «
Ich habe immer die Ansicht vertreten - begann Griswold -, daß die englische Sprache die Schuld daran trägt, daß die Tet-Offensive eine solche Überraschung für uns war. Vom militärischen Standpunkt aus kennzeichnete sie den Wendepunkt im Vietnamkrieg. Politisch gesehen, war sie der Anfang vom Ende von Präsident Johnson. Sie hat den Siegesglauben des amerikanischen Volkes gebrochen und schließlich den Abzug unserer Truppen notwendig gemacht. Und das alles nur, weil eine Person auf ihre englischen Sprachkenntnisse stolz war, und andere nicht hören wollten.
Um alles besser verstehen zu können, müßt ihr die Schwierigkeiten begreifen, die sich beim Umgang mit Geheimnachrichten ergeben. Selbst wenn eine Nachricht die korrekte Einschätzung einer Lage beinhaltet und unter Einhaltung sämtlicher Sicherheitsvorkehrungen abgeschickt worden ist, ist nicht gewährleistet, daß sie den Empfänger erreicht, oder wenn sie ankommt, ob sie korrekt interpretiert wird, und wenn sie richtig interpretiert wird, ob man ihr auch Glauben schenkt. Stalins Spione in Deutschland zum Beispiel haben den Diktator rechtzeitig über Hitlers Pläne, Rußland anzugreifen, informiert. Nur hat Stalin sich geweigert, den Berichten zu glauben.
Außerdem hat die hochentwickelte Technik der Dechiffrierung das Übermitteln geheimer Nachrichten so schwierig gemacht, daß die zahlreich getroffenen Sicherheitsvorkehrungen einem Erfolg manchmal sogar im Wege stehen.
Eine Möglichkeit, die Dechiffrierung zu erschweren ist die, zwei Nachrichten abzuschicken, von denen die eine oder die andere völlig bedeutungslos ist. Wird nun eine der beiden Meldungen vom Feind abgefangen, ist sie unbrauchbar. Gelingt es der Gegenseite, beider Meldungen habhaft zu werden, nützt ihr das erst dann etwas, wenn sie die Zusammengehörigkeit der Nachrichten erkennt. Im übrigen hat dieses System den Vorteil, daß mindestens eine Nachricht nicht besonders kompliziert verschlüsselt werden muß.
Angenommen, eine Meldung kann nur mit Hilfe eines für diesen Fall willkürlich ausgewählten Schlüsselwortes dechiffriert werden, und das Schlüsselwort wird dem Nachrichtenempfänger getrennt und auf anderem Weg übermittelt.
Wenn man ein Schlüsselwort aus zehn Buchstaben des Alphabets auswählt und bedenkt, daß es dann fast genau eine Billion Kombinationsmöglichkeiten gibt, ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Schlüsselwort durch Zufall entdeckt wird, praktisch ausgeschlossen. Und niemandem wird die Idee kommen, alle Möglichkeiten auszuprobieren.
Wie wählt man nun das Schlüsselwort aus? Eine, nicht aber die einzige Möglichkeit ist, jeweils ein Wort mit zehn Buchstaben aus einem Buch auszuwählen, über das man sich zuvor geeinigt hat und das man regelmäßig wechselt. Anschließend wird die Nachricht mit diesem Codewort und einem Chiffriergerät verschlüsselt und das Codewort dem Empfänger getrennt übermittelt. Der erhält dann zum Beispiel nur eine kurze Nachricht wie »73/12«, was Seite 73, Zeile 12 bedeutet. Schlägt der Empfänger das für die betreffende Woche geltende Buch auf dieser Seite auf und sucht je nach Vereinbarung die ersten oder letzten Buchstaben der angegebenen Zeile aus, dann besitzt er den Schlüssel zur Dechiffrierung der Meldung.
Natürlich kann es sein, daß eine der beiden Nachrichten aus irgendeinem Grund nicht ankommt, aber noch viel frustrierender ist es, wenn beide Meldungen zwar eingetroffen sind, sie aber dennoch keinen Sinn ergeben.
So etwas Ahnliches ist im Januar 1968 passiert, und das war fatal.
Im wesentlichen war folgendes geschehen: Unser Hauptquartier in Saigon erhielt aus Hue eine Nachricht übermittelt. Der Absender war einer unserer besten Agenten, ein Vietnamese, der mit Herz und Seele auf unserer Seite stand und über ausgezeichnete englische Sprachkenntnisse verfügte, was er normalerweise nicht zeigen durfte. Er kooperierte zur Tarnung mit dem Vietkong, und ihr könnt euch vorstellen, was er dabei riskierte.
Natürlich hatte er sein Chiffriergerät und die Bücher, die er zur Bestimmung des Schlüssels benutzte, gut versteckt. Bei den Büchern handelte es sich um gängige britische Taschenbuchthriller, mit deren Hilfe er seine Sprachkenntnisse ständig verbesserte. Unser Agent war sehr stolz auf sein Englisch, eine Tatsache, der man in Saison leider zu spät Beachtung schenkte. Wenn er sich mit unseren Leuten traf, war er stets bemüht, seinen reichen Schatz an englischen Idiomen, Redewendungen und Wortspielereien anzubringen. Er beherrschte unsere Muttersprache weitaus besser als unsere Leute, und ich kann mir vorstellen, daß sie ihm vermutlich nur ungeduldig, oder wie ich stark vermute, überhaupt nicht zugehört haben - was sich als fataler Fehler herausstellen sollte.
In Saigon erhielt man jedenfalls Nachricht und Schlüssel. Letzterer schien eindeutig zu sein. Nachdem man ihn von irreführenden Verbrämungen befreit hatte, lautete er: »13teS/2teZ«. Daraus schloß man verständlicherweise, daß die zweite Zeile auf der dreizehnten Seite gemeint war. Man suchte die ersten zehn Buchstaben in der zweiten Zeile auf Seite dreizehn heraus und fütterte es zusammen mit der Nachricht in den Computer. Heraus kam ein völlig sinnloses, unverständliches Durcheinander.
Zuerst glaubte man an einen Fehler bei der Computereingabe und wiederholte die Prozedur mehrmals ohne Erfolg. Schließlich gelangte man zu der Überzeugung, der Agent müsse ein falsches Buch benutzt haben, und schickte eine Nachricht mit Bitte um Bestätigung der Meldung nach Hue. Das kostete natürlich Zeit. Als die Antwort ausblieb, sandte man einen Kurier. Ihr könnt euch sicher denken, was er herausfand.
Seit jenem Morgen, an dem er die Nachricht an Saigon abgeschickt hatte, war unser Agent verschwunden. Und soviel ich weiß, ist er nie wieder aufgetaucht. Wir dürfen also annehmen, daß der Vietkong ihn schließlich doch entlarven konnte. Es war im Januar 1968, und in Anbetracht dessen, was noch geschehen sollte, war es im nachhinein kaum verwunderlich, daß sich der Vietkong offenbar in erhöhter Alarmbereitschaft befand. Deshalb war unser Agent vermutlich auch entdeckt worden.
Es stellte sich nun für das Hauptquartier in Saigon die Frage, was man mit der nicht zu entschlüsselnden Nachricht tun sollte.
Es gab zwei Alternativen. Die erste war, sie einfach zu ignorieren, so zu tun, als habe man sie nie erhalten.
Allerdings war die Meldung nachweislich in Saigon eingetroffen. Und falls sie - wie sich später ja auch tatsächlich herausstellte - eine wichtige Information enthielt, waren die Folgen für denjenigen, der beschlossen hatte, die Nachricht zu ignorieren, nicht abzusehen. Die Leute in Saigon wollten auf keinen Fall zum Sündenbock abgestempelt werden und suchten deshalb nach einem Ausweg.
Den fanden sie auch. Einer ihrer Kollegen hatte Urlaub, und er beschloß, ihn in den USA zu verbringen. Er kam nach Washington und überbrachte der Abteilung die Nachricht. Nun hatten die sich darum zu kümmern. Die Abteilung war zuerst ebenso hilflos wie die Kollegen in Saigon. Man zerbrach sich die Köpfe, diskutierte endlos, wagte es jedoch nicht, die Nachricht einfach beiseite zu legen. Sie hatten den Kopf in der Schlinge. Im Gegensatz zu den Saigon-Leuten hatten sie keine Möglichkeit, den Schwarzen Peter anderen weiterzugeben.
Zwei Wochen verstrichen, bevor jemand endlich sagte: »Fragen wir doch mal Griswold.«
Ich hatte Verständnis für ihr langes Zögern. Sie kannten vor allem meine Meinung über den Vietnamkrieg und trauten mir daher in allem, was damit zusammenhing, nicht recht. Aber inzwischen hatten sie keine andere Wahl mehr. Wären sie nur schon drei Tage früher zu dieser Einsicht gelangt.
Sie kamen zu mir und legten mir das Problem mit der Absicht vor, von mir als Sachverständigen bestätigt zu bekommen, daß es sich um eine völlig sinnlose Nachricht handelte, mit der niemand etwas anfangen konnte. Dabei hatten sie natürlich den Hintergedanken, daß, falls es zum Schlimmsten kommen würde, man mir die Haut abziehen würde.
Bevor ich mich jedoch dazu hergab, verlangte ich den Mann aus Saigon zu sprechen, der noch immer auf Heimaturlaub in den Staaten war.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Agenten aus Hue«, bat ich ihn. »Sind Sie sicher, daß man ihn gefaßt und ermordet hat, und daß er nicht heimlich von Anfang an mit dem Vietkong gemeinsame Sache gemacht hat? Könnte es nicht sein, daß er genug davon hatte, für die Amerikaner den Agenten zu spielen, diese sinnlose Nachricht abgeschickt und sich endgültig seinen Freunden angeschlossen hat?«
»Nein, das halte ich für unmöglich«, entgegnete der Mann aus Saigon. »Er hatte Frau und Kinder auf grausame Weise in Nordvietnam verloren und Rache geschworen. Außerdem«, fuhr er grinsend fort, »außerdem war er geradezu versessen darauf, perfekt englisch zu sprechen. Ich glaube, dieser Tick hat ihn enger an uns gebunden als alles andere. Die Chance, Amerikanern und Engländern gelegentlich Lektionen über deren Muttersprache zu erteilen, hätte er um nichts in der Welt aufgegeben. Natürlich haben wir ihm meistens überhaupt nicht zugehört. Bei unseren seltenen, heimlichen Zusammentreffen hat er meine Nerven ganz schön strapaziert.«
»Inwiefern? Können Sie Beispiele erzählen?«
»Nein, ich erinnere mich kaum noch. Jedenfalls hat er ständig behauptet, jede Sprache verfüge über viele Doppeldeutigkeiten. Die Menschen seien jedoch an ihre Muttersprache so gewöhnt, daß niemand darauf achte.«
»Hat er diese Meinung anhand von Beispielen erläutert?« fragte ich.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Na schön. Wir haben hier also die Nachricht >13teS/2teZ<«, fuhr ich fort. »Weshalb die zusätzlichen Buchstaben? Hätte >13/2< nicht genügt?«
»Moment mal«, erwiderte der Mann aus Saigon überrascht. »Er hat diese Kombination eigentlich auch immer benutzt. Aber jetzt, nach Ihren Fragen, fällt mir ein, daß er behauptet hat, sie sei doppeldeutig.«
»Die Kombination >13/2<?«
»Ja.«
»Und warum?«
»Ich glaube - also ich glaube, das hat er nicht gesagt.«
»Könnte er dann nicht diese Version benutzt haben, um zu beweisen, daß die andere doppeldeutig ist?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Schließlich bleibt die Information mit oder ohne Buchstaben dieselbe. Dreizehnte Seite, zweite Zeile.«
»Das ist ein Irrtum«, entgegnete ich und erklärte es ihm. Er starrte mich entgeistert an.
Natürlich hatte ich recht. Mit dem neuen Schlüssel ließ sich die Nachricht mühelos dechiffrieren, und alle Einzelheiten der bevorstehenden Tet-Offensive lagen vor uns.
Nur leider stand die Tet-Offensive an diesem Tag nicht mehr bevor. Sie hatte bereits begonnen und uns völlig unvorbereitet getroffen.
»Sag mal, wovon redest du überhaupt?« erkundigte ich mich verständnislos, als Griswold seine ganze Aufmerksamkeit seinem Drink zuwandte und sich tief in Gedanken versunken in seinem Sessel zurücklehnte. »Was soll >13teS/2teZ< denn schon bedeuten, wenn nicht dreizehnte Seite, zweite Zeile?«
»Das ist richtig«, erwiderte Griswold. »Genau das bedeutet es. Und sie haben auch das richtige Buch benutzt. Dem Agenten wurde lediglich klar, daß diese Bezeichnung doppeldeutig sein und zu Fehlinterpretationen führen konnte. Und jeder, der ein bißchen darüber nachdenkt, muß eigentlich erkennen, wie er darauf gekommen war.«
»Also ich muß passen«, erklärte ich.
»Denk doch mal nach. Die Zeilen auf einer Buchseite sind nicht numeriert. Aus diesem Grund bedeutet >zweite Zeile< die zweite Zeile von oben.
Buchseiten dagegen sind numeriert, und das stiftet eben Verwirrung, weil die dreizehnte Seite nicht notwendigerweise auch Seite dreizehn sein muß.«
»Griswold, jetzt hast du endgültig den Verstand verloren«, mischte sich Baranov heftig ein. »Die dreizehnte Seite ist doch Seite dreizehn, oder?«
»Wie ich sehe, hast du ein Taschenbuch in deiner Jackentasche«, sagte Griswold. »Also sehen wir doch gleich mal nach. Nimm es bitte heraus und schlag die erste Seite des Romans auf, ja. Hast du's? Ist das die erste Seite? Gut. Ist es auch Seite eins?«
»Hm, nein. Es ist Seite neun«, antwortete Baranov ziemlich kleinlaut.
»Ganz richtig«, seufzte Griswold. »Bei Taschenbuchausgaben fängt die eigentliche Geschichte nicht mit Seite eins an. Man zählt die Titelei, die Inhaltsangabe, eine eventuelle Widmung und so weiter mit, paginiert sie aber nicht. Aus diesem Grund fängt das Kapitel manchmal mit Seite fünf, sieben, neun oder elf an, je nachdem, wie lange der Vorspann ist.
In diesem Fall ist Seite dreizehn die dreizehnte Seite des Buches, aber keinesfalls die dreizehnte Seite der in ihm enthaltenen Geschichte. Genau das hat den Agenten aus Hue nicht losgelassen. Er hat es zwar auch den anderen zu erklären versucht, doch niemand wollte ihm zuhören. So hat er in seinem Starrsinn >13teS/2teZ< an Saigon durchgegeben, um damit auszudrücken, daß er nicht Seite dreizehn meinte, sondern die dreizehnte Seite des jeweiligen Romans. Und diese fiel auf Seite einundzwanzig. Als man die ersten zehn Buchstaben der zweiten Zeile dieser Seite benutzte, um die Nachricht zu dechiffrieren, kam die richtige Meldung heraus -leider zu spät.«