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Manchmal hat man Griswold einfach satt. Wenigstens geht mir das so.
Ich mag ihn eigentlich. Mir gefällt der alte Gauner, der noch im Schlaf jeder Unterhaltung folgen kann, endlos Scotch mit Soda trinkt, lügt und uns unter den buschigen Augenbrauen wütend anstarrt. Aber wenn ich ihn nur einmal tatsächlich der Lüge überführen könnte, hätte ich ihn wirklich gern.
Natürlich ist es möglich, daß er die Wahrheit sagt. Aber es kann wohl kaum einen Menschen auf dieser Welt geben, den man mit der Lösung so vieler absurder Probleme beauftragt. Das glaube ich einfach nicht. Ich glaube ihm nicht.
Ich saß an jenem Abend im Union Club. Der Wind peitschte den Regen gegen die Fenster und dämpfte die Verkehrsgeräusche auf der Park Avenue. Die letzten Worte hatte ich offenbar laut ausgesprochen.
»Wem glaubst du nicht?« fragte jedenfalls Jennings.
Jennings Bemerkung traf mich völlig unerwartet, und ich deutete automatisch auf Griswold. »Ihm«, antwortete ich. »Ihm.«
Eigentlich hatte ich mit einem wütenden Blick Griswolds in meine Richtung gerechnet, doch dieser schien tief und friedlich im großen Ohrensessel zu schlafen. Sein prächtiger Schnurrbart bewegte sich jedenfalls im Rhythmus seiner regelmäßigen Atemzüge.
»Das ist doch Unsinn«, warf Baranov ein. »Du hörst ihm doch gern zu.«
»Darum geht es gar nicht«, entgegnete ich. »Denk nur mal an all die tollen Tips, die er dauernd von Leuten auf dem Sterbebett kriegt. Wie oft sterben schon Menschen und hinterlassen noch mysteriöse Hinweise auf die Person ihres Mörders? Im richtigen Leben ist das wohl noch nie passiert - aber Griswold scheint das ständig erlebt zu haben. Es ist eine Beleidigung, von uns zu erwarten, daß wir das glauben.«
In diesem Moment öffnete Griswold ein stahlblaues Auge und sagte: »Der erstaunlichste Hinweis, den ich je von einem Sterbenden bekommen habe, hatte mit Mord überhaupt nichts zu tun. Es handelte sich um einen ganz natürlichen Todesfall - aber ich will euch mit der Geschichte nicht langweilen.« Er schlug auch das zweite Auge auf und führte das Glas Scotch mit Soda an die Lippen.
»Los, erzähl schon!« forderte Jennings ihn auf. »Es interessiert uns. Wenigstens uns zwei.«
Wenn ich ehrlich sein soll, mich interessierte es auch ...
Was ich euch jetzt erzähle - begann Griswold -, hat weder mit Verbrechen oder Polizei, mit Spionen oder Geheimagenten etwas zu tun. Eigentlich gab es keinen Grund, weshalb ich in die Sache verwickelt werden sollte, aber einer der leitenden Herren kannte meinen Ruf. Ich habe keine Ahnung, wie sich diese Dinge immer herumsprechen. Schließlich rede ich nie über die kleinen Erfolge in meinem Leben. Ich habe Wichtigeres zu tun. Die anderen können aber offenbar den Mund nicht halten. Und da man mich mit allen kniffligen Problemen im Umkreis von mindestens zweitausend Kilometern belästigt, habe ich natürlich auch so viele Geschichten zu erzählen -fügte Griswold mit einem bissigen Blick auf mich hinzu.
In diesem Fall wurde ich allerdings erst eingeschaltet, als schon fast alles vorüber war. Deshalb will ich euch in der mir eigenen Knappheit das Wesentlichste erzählen.
Ich nenne weder das Institut mit Namen, in dem sich alles abspielte, noch sage ich euch, wo und wann die Sache passiert ist. Genauere Angaben würden euch natürlich Gelegenheit geben, den Wahrheitsgehalt meiner Geschichte zu prüfen, und das will ich verhindern. Ich finde es nämlich reichlich unverschämt, die Richtigkeit meiner Ausführungen in Zweifel zu ziehen.
Jedenfalls arbeitete man in dem betreffenden Institut an einem Computer mit den Eigenschaften der menschlichen Persönlichkeit. Es sollte ein Programm erstellt werden, das es einem Computer ermöglichte, eine durchaus kreative Unterhaltung zu führen, in deren Verlauf nicht erkennbar werden sollte, daß es sich bei einem der Partner um eine Maschine handelte.
Soviel ich erfahren konnte, glaubte eigentlich kein einziger im Institut an den Erfolg dieses Projekts. Man nutzte schließlich den bloßen Versuch, so viel wie möglich Informationen über Denkweise, Gefühle und die Persönlichkeit des Menschen zu sammeln.
Und bis auf - nun nennen wir ihn Horatio Trombone - machte auch keiner bei der Arbeit nennenswerte Fortschritte.
Trombone jedoch hatte ein Programm entwickelt, das es einem Computer ermöglichte, über eine längere Zeit auf die unterschiedlichsten Fragen durchaus vernünftig zu antworten. Natürlich hätte niemand diesen Computer auf Grund des Programms mit einem menschlichen Wesen verwechselt, aber Trombone war immerhin wesentlich weiter gekommen als alle anderen. Schon aus diesem Grund weckte sein Programm große Neugier.
Aber Trombone verriet nichts. Er schwieg sich aus, arbeitete ganz allein, verzichtete auf Assistenten und Schreibkräfte, und ging sogar soweit, bis auf einige wichtige Details, die er in seinem Safe aufbewahrte, sämtliche Aufzeichnungen zu vernichten. Erklärtermaßen war es seine Absicht, sein Programm so lange für sich zu behalten, bis er mit seiner Arbeit zu zufriedenstellenden Ergebnissen gekommen war. Dann allerdings wollte er an die Öffentlichkeit gehen und den Ruhm genießen, den er verdient hatte. Seinem Verhalten hätte man entnehmen können, er erwarte zuallererst, den Nobelpreis verliehen zu bekommen, um von da an in nie geahnte Höhen des Wissenschaftlerdaseins aufzusteigen.
In den Augen seiner Kollegen am Institut grenzte seine Schrulligkeit an Wahnsinn, womit sie vielleicht gar nicht so unrecht hatten. Aber falls er verrückt war, war er verrückt und genial zugleich, und seine Vorgesetzten ließen ihn aus Angst gewähren, sie könnten möglicherweise seinen großen Durchbruch verhindern oder später in der Geschichte der Wissenschaft als kleinkarierte Idioten dastehen.
Trombones unmittelbarer Vorgesetzter, den ich hier Hebert Bassoon nennen möchte, hatte öfters Auseinandersetzungen mit seinem schwierigen Untergebenen. »Trombone«, sagte Bassoon gelegentlich, »glauben Sie nicht, wir würden schneller Fortschritte machen, wenn mehrere intelligente Leute an diesem Projekt arbeiten würden?«
»Unsinn!« wehrte Trombone scharf ab. »Ein intelligenter Mensch läuft nicht schneller, nur weil ihm zwanzig Idioten dicht auf den Fersen sind. Außer mir gibt es an diesem Institut nur noch einen brauchbaren Kopf, und wenn ich sterben sollte, ohne mein Ziel erreicht zu haben, kann er weitermachen. Im Fall meines Todes hinterlasse ich ihm, und nur ihm, meine Aufzeichnungen.«
Soviel ich erfahren habe, hat Trombone bei dieser Bemerkung meistens gekichert. Offenbar hatte er Humor.
Dabei war die Möglichkeit, daß Trombone sterben würde, gar nicht so gering, denn sein Herz arbeitete nur noch auf Halbmast. Er hatte bereits drei Herzinfarkte hinter sich, und die Ärzte waren der Ansicht, daß ihn eine vierte Attacke umbringen würde. Obwohl sich Trombone bewußt war, daß sein Leben an einem seidenen Faden hing, ließ er sich nie dazu hinreißen, den Namen seines designierten Nachfolgers bekanntzugeben. Auch aus seinem Verhalten konnte man keine diesbezüglichen Rückschlüsse ziehen. Trombone schien es zu genießen, alle in Ungewißheit lassen zu können.
Trombone erlitt den vierten Herzinfarkt bei der Arbeit und starb. Da er zu diesem Zeitpunkt allein gewesen war, konnte ihm niemand mehr helfen. Er war nicht sofort tot und fand noch Zeit, seinem Computer einige Instruktionen einzugeben. Wenigstens fand man am Computer einen dementsprechenden Ausdruck.
Trombone hatte bei seinem Anwalt ein Testament hinterlegt, das exakte Anweisungen enthielt. Der Anwalt besaß die Kombination des Safes, in dem Trombone seine Aufzeichnungen verwahrte, und diese Kombination sollte keinem anderen als dem von Trombone selbst ausgewählten Nachfolger übergeben werden. Auch der Anwalt kannte den Namen des Nachfolgers nicht, aber das Testament enthielt den Vermerk, daß es einen Hinweis auf die betreffende Person geben werde. Falls die Kollegen am Institut jedoch zu dumm waren, diesen zu verstehen, schrieb Trombone in seinem Testament, sollten seine Aufzeichnungen nach spätestens einer Woche vernichtet werden.
Der einzige Anhaltspunkt für die Lösung des Rätsels war der Computerausdruck, den man neben dem Toten gefunden hatte, und der die vollständige Zahlenfolge von 1 bis 999 enthielt. Keine einzige Zahl fehlte.
Bassoon vertrat die Ansicht, daß keinesfalls sicher sei, daß es sich bei diesem Ausdruck um den angekündigten Hinweis handelte. Trombone könne etwas Komplizierteres als einfache Zahlenkolonnen im Sinn gehabt haben, jedoch vor der vollständigen Ausführung durch den Tod unterbrochen worden sein. Aus diesen Gründen hielt Bassoon das Testament für ungültig.
Der Anwalt wehrte diese Theorie jedoch als bloße Spekulation ab und bestand darauf, daß der Ausdruck als vollständiger Hinweis betrachtet werden müsse, solange nicht das Gegenteil bewiesen sei.
Bassoon rief seine zwanzig besten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zusammen, die alle Trombones Arbeit hätten fortführen können. Jeder einzelne von ihnen hätte diese Chance liebend gern wahrgenommen, aber niemand konnte einen stichhaltigen Beweis dafür geltend machen, daß Trombone ihn für den Intelligentesten gehalten hatte.
Davon abgesehen war auch niemand in der Lage, eine Verbindung zwischen den langweiligen Zahlenkolonnen auf dem Computerausdruck und einem Institutsangehörigen herzustellen.
Bassoon begann langsam nervös zu werden. Am letzten Tag der Frist, als er keine Möglichkeit mehr sah, das Rätsel um Trombones Nachfolge doch noch zu lösen, wandte er sich an mich. Ich war zwar gerade sehr beschäftigt, kannte Bassoon jedoch flüchtig und sagte ihm zu, mich um die Angelegenheit zu kümmern. Eine Bitte um Hilfe konnte ich noch nie ausschlagen, besonders dann nicht, wenn die entsprechende Person so verzweifelt schien wie Bassoon.
Wir trafen uns in Bassoons Büro. Er erzählte mir niedergeschlagen die ganze Geschichte. »Es ist zum Verrücktwerden«, schloß er. »Da hätte man nun einen enormen Vorsprung in der Erforschung des menschlichen Gehirns erzielt, wenn einem nicht ein verrückter Exzentriker, ein sturer Anwalt und ein dämliches Stück Papier alle Chancen wieder zunichte machen würden. Aber ich kann es leider nicht verhindern.«
»Vielleicht war es ein Fehler, sich auf die Zahlen zu konzentrieren«, entgegnete ich. »Ist an dem Ausdruck sonst noch etwas ungewöhnlich?«
»Nein, das schwöre ich«, antwortete Bassoon bestimmt. »Es handelt sich um ein weißes, ganz normales Stück Papier, auf dem lediglich die Zahlen von 1 bis 999 stehen. Bis auf eine Neutronenspektroskopie haben wir praktisch alles mit den Zahlen gemacht, und ich glaube, ich würde die auch noch durchführen lassen, wenn ich annehmen könnte, sie würde was helfen. Wenn Sie mir jetzt sagen, ich soll's versuchen, dann tu' ich's. Aber von Ihnen kann ich vermutlich etwas Besseres erwarten. Also, los Griswold! Sie genießen den Ruf, einfach jedes Rätsel lösen zu können.«
Ich habe keine Ahnung, woher er seine Informationen über mich hatte. Ich spreche schließlich nie über diese Dinge.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, begann ich.
»Ich weiß«, seufzte Bassoon. »Ich zeige Ihnen den Ausdruck und stelle Sie Trombones potentiellen Nachfolgern vor. Sie bekommen von mir jede gewünschte Information und Hilfe - aber wir haben leider nur noch sieben Stunden Zeit.«
»Vielleicht brauchen wir nur sieben Sekunden«, entgegnete ich. »Ich habe zwar keine Namensliste von Trombones potentiellen Nachfolgern, aber falls einer von ihnen den reichlich ungewöhnlichen Vornamen - eventuell auch als Familiennamen -trägt, den ich meine, möchte ich behaupten, daß er die Person ist, die Sie suchen.«
Ich nannte Bassoon den Namen. Der Institutsleiter sprang erregt auf. Der Name war tatsächlich ungewöhnlich und einer seiner Mitarbeiter hieß so. Selbst der Anwalt räumte ein, daß er Trombones Nachfolger sein mußte, nachdem ich ihm meine Überlegungen erklärt hatte. Daraufhin wurden Trombones Aufzeichnungen dem Mann übergeben.
Leider ist wohl aus diesem Forschungsprojekt trotzdem nichts geworden. Und das ist das Ende der Geschichte.
»Nein, das ist es nicht!« brauste ich auf. »Wie lautet der seltene Vorname und wie willst du ihn anhand der Zahlenreihe von 1 bis 999 herausgefunden haben?«
Griswold, der sich bereits selbstgefällig seinem Drink zugewandt hatte, sah abrupt auf. »Kaum zu fassen, daß du das nicht begriffen hast. Die Zahlenreihe umfaßte ohne Ausnahme sämtliche Zahlen von 1 bis 999. Ich habe mich also selbstverständlich gefragt, was diese Zahlen haben könnten, das zum Beispiel die Zahl 1000 nicht hat, und was das wiederum mit einer Person zu tun haben könnte.
Liest man diese Zahlenreihe in englischer Sprache ausgeschrieben, dann fällt auf, daß bei sämtlichen Zahlen von one, two, three, four, five... bis nine hundred ninety-nine durchgehend kein einziges Mal der Buchstabe >A< auftaucht. Die Zahlenkolonne sollte uns also wohl eindeutig auf das Nichtvorhandensein von >A< hinweisen. Was ist daran so schwer zu verstehen?«
»Ich halte das für baren Unsinn!« ereiferte ich mich. »Selbst wenn Trombone uns mit diesem Computerausdruck auf das Fehlen des Buchstabens >A< in der Zahlenreihe von 1 bis 999 in der englischen Sprache aufmerksam machen wollte, ist noch immer nicht klar, was das mit der Person seines Nachfolgers zu tun haben sollte. Meinte Trombone vielleicht einen Mann mit einem Namen, in dem kein >A< vorkommt?«
Griswold strafte mich mit einem vernichtenden Blick. »Quatsch«, entgegnete er. »Es gibt 'ne Menge Namen ohne A. Ich habe aus diesem Hinweis sofort geschlossen, daß Trombone damit den Namen >Noah< meinte, und der klingt wie das englische no a also kein A. Und einer der Mitarbeiter des Instituts hieß tatsächlich Noah. Es war also ganz einfach.«