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»Nicht auszudenken, was uns diese Wirtschaftsoder Gentlemanverbrechen jährlich kosten«, sagte Jennings. »Der Schaden muß in die Milliarden gehen.«
Seine Worte hallten etwas hohl in den ehrwürdigen Wänden der Bibliothek des Union Club wider. Es war ein milder Abend, und in der Stadt herrschte reges Treiben, so daß nur wenige nichts anzufangen wußten und in den Union Club kamen - mit Ausnahme von uns vieren natürlich.
»Wegen Wirtschaftsverbrechen regt sich niemand auf«, bemerkte Baranov. »Solange keine Menschenleben gefährdet sind, nimmt im allgemeinen niemand davon Notiz.«
»Ja, leider«, entgegnete ich ärgerlich. »Der arme Schlucker, der einen Spirituosenhändler mit einer Pistole zur Herausgabe von fünfzig Dollar zwingt, wird zu einer hohen Strafe verknackt, aber einer von diesen aalglatten jungen Finanzexperten, der den Steuerzahler um fünfzigtausend betrügt, sitzt auch noch auf der Geschworenenbank, die den armen Schlucker verurteilt und gilt als angesehener Bürger.«
»Der große Unterschied liegt eben darin, daß der eine bewaffnet war und der andere nicht«, entgegnete Baranov düster. »Dein >armer Schlucken hätte den Händler schwer verletzen oder töten können. Das ist doch mit Geld gar nicht zu vergleichen.«
»Moment mal!« ereiferte ich mich. »Was glaubst du, macht der Finanzmakler, wenn man ihm seinen Job und jede Chance im Leben nimmt und ihn mit Leuten umgibt, die zwar viel Geld, aber nichts für. arme Schlucker übrig haben? Oder gib umgekehrt dem armen Schlucker anständige Kleider, eine gute Schulbildung, wenn nötig auch eine andere Hautfarbe und einen Job an einem Schreibtisch. Dann braucht er ebenfalls keine Pistole mehr.«
»Für dich ist natürlich wieder mal die Gesellschaft an allem schuld«, schnaubte Baranov verächtlich.
Diesmal hatten wir Griswold ausnahmsweise völlig vergessen, der ganz ohne unser Zutun hellwach in seinem Sessel saß, die Stirn über seinen buschigen Augenbrauen in tiefe Falten legte und mit grollender Stimme sagte: »Wie kommt ihr eigentlich auf die Idee, daß zwischen diesen beiden Verbrechensarten ein himmelweiter Unterschied bestehen könnte? Die eine Methode kann durchaus zur anderen führen. Ich kenne einen solchen Fall. Aber das interessiert euch vermutlich nicht.«
Er hielt inne, um einen Schluck aus seinem Glas Scotch mit Soda zu trinken, und ich sagte: »Ob's uns interessiert oder nicht, du erzählst's uns ja trotzdem. Also schieß los!«
Die betreffende Person - begann Griswold - hieß Thomas Appleby. Appleby hatte etliche angenehme und etliche unangenehme Eigenschaften, die allesamt zu seinem gewaltsamen Tod beitrugen.
Er war ein leutseliger, extrovertierter und geselliger Mensch, klein, dick, freundlich, geschwätzig und hemmungslos. Der heilige Nikolaus hätte vielleicht so ausgesehen und sich auch so benommen, wenn er sich rasiert, die Haare geschnitten und einen Anzug angezogen hätte.
Appleby hatte auch seine kleinen Eitelkeiten. Er war ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler. Er gab seine Storys mit Witz und Humor zum besten, und da er sich seiner diesbezüglichen Begabung bewußt war, übte er sich darin.
Er brachte es fertig, daß ihm selbst das unterschiedlichste Publikum aufmerksam zuhörte, und es kam nur sehr selten vor, daß er die Lacher einmal nicht auf seiner Seite hatte. Außerdem besaß er ein ausgezeichnetes Gedächtnis für humorvolle Begebenheiten aller Art, vergaß keine einzige und konnte stundenlang erzählen, ohne sich zu wiederholen.
Appleby saugte lustige Episoden auf wie ein Staubsauger und hatte immer eine zeitweilige Lieblingsgeschichte, die er sofort zum besten gab, wenn er Zuhörer hatte. Genau genommen suchte er sich das Publikum, um die Geschichte loswerden zu können. Vermutlich war auch letzteres der Hauptgrund für seine ungewöhnliche Geselligkeit.
Für diejenigen, die ihn gut kannten, hieß die jeweilige Lieblingsgeschichte immer die » Appleby -Story«. Angehörigen seines engeren Bekanntenkreises konnte es passieren, daß sie, in eine Gruppe neuer Zuhörer eingekeilt, diese zum zehnten Mal hören mußten, wobei Applebys Witz mit jeder Wiederholung natürlich schaler wurde.
Eine weitere auffällige Angewohnheit Applebys war es, sich zu Beginn jeder Geschichte mit wichtigtuerischer Miene auf seinem Stuhl zurückzulehnen und zu sagen: »Sie müssen wissen, meine Damen und Herren, ich arbeite bei der Regierung, und die folgende Geschichte hat mir ein Senator erzählt ...«
In Wirklichkeit war Appleby ein kleiner Beamter, und jene kleine, eitle Lüge tat eigentlich nur ihm weh.
Appleby aß gern, und es gelang ihm stets, alles Eßbare in Sicht- und Reichweite zu verzehren, ohne daß dadurch sein Erzählfluß gehemmt worden wäre. Er süßte seinen Kaffee stark, mochte Spargel am liebsten mit Sauce Hollandaise, und der Schweinebraten durfte ruhig ein wenig fett sein. Alkohol mied er. Er fühlte sich magisch von Fremden angezogen, denn diese bedeuteten für ihn eine neue Zuhörerschaft.
Das alles und vieles mehr förderten die Ermittlungen zutage, die nach Applebys Tod eingeleitet wurden. Daher wissen wir auch, daß Appleby nach Büroschluß an jenem verhängnisvollen Tag das Cafe eines der billigeren Hotels in der Innenstadt betreten hatte.
An einem Ende der u-förmigen langen Theke saßen zu diesem Zeitpunkt vier oder fünf Männer.
Appleby hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, an der leeren Seite der Theke Platz zu nehmen, wo weit auseinander zwei Personen saßen, steuerte jedoch gewohnheitsmäßig auf die kleine Gruppe zu. Was dann geschah, erfuhr die Polizei durch einen der beiden Gäste am gegenüberliegenden Ende des Lokals. Der Herr war offenbar neugierig genug gewesen, Applebys lauter, durchdringender Stimme zuzuhören. Das Erstaunliche war, daß er sich wörtlich an die folgende Unterhaltung erinnerte.
Appleby schwang sich auf einen Hocker und sagte fröhlich: »Guten Tag! Guten Tag! Na ja, so gut ist er auch wieder nicht. Draußen ist es verdammt kalt und es wird dort auch kein Kaffee serviert. Hoffentlich wenigstens hier drinnen.«
Die anderen musterten ihn ohne erkennbare Sympathie, aber das konnte Appleby nicht einschüchtern. Ablehnung kannte er nicht. Er zog die Karte zwischen Gewürzständer und Serviettenhalter heraus und studierte sie eingehend.
Er schien es mit der Bestellung nicht eilig zu haben, denn kurz darauf wandte er sich an den Herrn, der unmittelbar neben ihm saß, und fragte: »Haben Sie in letzter Zeit mal gute Witze gehört?«
Applebys Nachbar machte ein überraschtes Gesicht und antwortete dann sichtlich unwillig: »Heutzutage gibt's nicht viel, worüber man Witze machen könnte.«
Appleby zuckte mit den Achseln. »Ach was! Witze tun nicht weh. Sie machen keine schlechtere, eher bessere Laune.«
»Es gibt Witze, die machen sogar ausgesprochen miese Laune«, entgegnete ein Mann düster, der, die Arme auf die Theke gestützt, eine Zigarette rauchte.
»Möglich«, antwortete Appleby. »Aber ich habe einen Job bei der Regierung und weiß deshalb, was miese Laune bedeutet. Glauben Sie mir, Witze helfen. Und die besten Witze haben mir völlig fremde Leute erzählt. Eines Tages bin ich wie hier in einem Cafe gesessen und habe meinen Tischnachbarn nach einem Witz gefragt. Er konnte ihn zwar nicht zündend genug erzählen, aber der Witz war trotzdem gut.«
Der Herr zu Applebys Rechten schnappte nach dem Köder und fragte: »Was hat er Ihnen denn erzählt?«
»Gut, Sie sollen entscheiden, ob der Witz gut ist«, antwortete Appleby. »Also passen Sie auf: Moses kam vom Berg Sinai mit den Gesetzestafeln unter dem Arm und rief die Ältesten seines Stammes zusammen.
>Herrschaften<, sagte er, >ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für euch. Die gute ist, daß ich den Boss auf zehn Gesetze runterhandeln konnte.<«
An dieser Stelle imitierte Appleby Charlton Hestons Stimme und machte eine Kunstpause, um seinen Zuhörern Gelegenheit zum Lächeln zu geben.
Dann fuhr er fort: »>Die schlechte Nachricht ist, daß uns die Sache mit dem Ehebruch erhalten bleibt.<«
Die Zuhörer lächelten müde, doch Appleby schien mit dem Erfolg bei diesen reservierten Zeitgenossen schon zufrieden zu sein. »Eine Tasse Kaffee«, bestellte er bei dem Mann hinter der Theke. »Und ein Käsesandwich.« Dann wandte er sich an den Mann zu seiner Linken. »Ich sollte nicht zuviel essen.«
»Sieht so aus, als hätten Sie das schon getan«, erwiderte der Mann mit verächtlichem Schnauben.
Appleby hatte es sich zur Pflicht gemacht, anzügliche Bemerkungen über seine Person mit Humor hinzunehmen, um das Publikum bei Laune zu halten. Er lachte herzhaft und entgegnete: »Sie haben mich durchschaut. Schade! Dabei habe ich meinen Bauch so tapfer eingezogen.«
Der Mann hinter der Theke stellte die Tasse Kaffee vor Appleby ab. Er war ebenso unfreundlich und abweisend wie die übrigen Gäste neben Appleby. »Die Sahne ist hier«, erklärte der Ober barsch. »Wollen Sie Zucker?«
Appleby, der seine Hand bereits in eine andere Richtung ausgestreckt hatte, zuckte zurück, als er verwundert die zwei Portionspäckchen Zucker zwischen den Fingern des Mannes sah.
Appleby zögerte kurz. »Warum nicht?« seufzte er und griff schließlich nach einem Päckchen. »Dann nehme ich zur Abwechslung mal richtigen Zucker -Donnerwetter, das nenne ich Service. Normalerweise muß man das ganze Lokal absuchen, wenn man seinen Kaffee süßen will. Sehr hilfsbereit und aufmerksam von Ihnen. Genau wie das Dienstmädchen von Moskowitz, der seine Frau im Verdacht hatte, einen Geliebten zu haben. Kennen Sie die Geschichte?« Wie sich herausstellte, war das gerade Applebys Lieblingsstory.
»Nein«, antwortete einer der fünf Männer grimmig.
»Spucken Sie's schon aus.«
»Also Moskowitz hatte den Verdacht, daß seine Frau ihn betrügt«, begann Appleby. »Eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Er wollte endlich Gewißheit haben und rief zu Hause an. Das Dienstmädchen war am Telefon.
>Hören Sie<, begann er. >Ich glaube, meine Frau betrügt mich. Und jetzt will ich endlich Gewißheit haben. Sagen Sie mir, ob sie gerade oben im Schlafzimmer ist und einen anderen Mann bei sich hat?<
>Ich muß Ihnen wohl die Wahrheit sagen<, antwortete das Dienstmädchen. >Es stimmt. Sie ist mit einem fremden Mann oben im Schlafzimmer. Und ich möchte, daß Sie wissen, daß mir dieses Benehmen ganz und gar nicht gefällt, Sir.<
>Ausgezeichnet^ erklärte Moskowitz. >Ich bin froh, daß Sie noch moralische Grundsätze haben. Wissen Sie, wo ich meine Pistole aufbewahre?< >Ja, Sir.<
>Dann holen Sie sie, gehen Sie in mein Schlafzimmer und erschießen Sie diese falsche Schlange und ihren Liebhaber, der meinen Hausfrieden gestört hat. Dann kommen Sie wieder ans Telefon.<«
Appleby hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Er spannte sein Publikum bewußt auf die Folter. Er war in Hochform. Seine Stimme gab jede Nuance des Gesprächs zwischen den beiden Hauptpersonen perfekt wieder.
»Nach einer Pause kam das Dienstmädchen wieder ans Telefon«, fuhr Appleby fort. »>Sir<, meldete sie sich. >Ich habe den Auftrag ausgeführte >Haben Sie meine Frau erschossen?< >Ja, Sir.<
>Und diesen Halunken in ihrem Bett auch?< Selbstverständlich, Sir.< >Sie sind also beide tot?< >Ja, Sir.<
>Und was haben Sie mit meiner Pistole gemacht?< >Die habe ich in den Swimming-pool geworfen, Sir.<
>In den Swimming-pool????? - Augenblick mal! Welche Telefonnummer haben Sie überhaupt?««
Ungefähr eine halbe Sekunde lang herrschte Totenstille im Lokal. Dann, als die anderen die Pointe langsam begriffen hatten, ertönte anhaltendes schallendes Gelächter. Der Ober hinter der Theke lachte so herzlich wie alle übrigen. Appleby kicherte zufrieden angesichts seines Erfolgs, aß sein Käsesandwich, trank den Kaffee aus und ging.
Das wäre das Ende der Geschichte, hätte man Appleby nicht zwei Stunden später erwürgt in seiner Wohnung aufgefunden. Nichts war gestohlen und nichts war beschädigt worden. Seine Kleidung war etwas in Unordnung geraten, was darauf schließen ließ, daß man ihn durchsucht hatte. Doch Applebys Brieftasche war noch da, er trug die Uhr am Handgelenk und den Ring am Finger. Nichts fehlte.
Die Polizei begann routinemäßig ihre Ermittlungen, in deren Verlauf die Szene im Cafe in allen Einzelheiten rekonstruiert werden konnte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den übrigen Gästen des Lokals um üble Burschen, doch nichts deutete auf ein Mordmotiv hin.
In den Augen der Polizei war es eigentlich kein wichtiger Fall, und vermutlich hätten sie ihn zu den Akten gelegt, wenn nicht glücklicherweise jemand auf die Idee gekommen wäre, mich einzuschalten. Sobald ich die ganze Geschichte gehört hatte, glaubte ich zu wissen, was passiert war. Und so wird's euch jetzt sicher auch ergehen.
»Nein, ganz und gar nicht«, entgegnete ich ruhig. »Und das weißt du genau. Entweder du sagst uns jetzt die Lösung, oder wir bringen dich um.«
»Idioten«, murmelte Griswold. »Appleby trank seinen Kaffee immer sehr süß, und als der Mann hinter der Theke ihm Zucker anbot, sagte er, er wolle mal zur Abwechslung richtigen Zucker nehmen. Das konnte nur bedeuten, daß Appleby normalerweise Süßstoff benutzte, und danach hatte er auch bereits die Hand ausgestreckt. Die Tatsache, daß ihm der Ober Zucker anbot - eine ganz ungewöhnliche Geste -, ließ den Schluß zu, daß er den Gast offenbar vom Süßstoff ablenken wollte. Bei diesem Gedanken ist mir natürlich eingefallen, daß das verbreitetste »Kavaliersdelikt« das Einstecken dieser rosaroten Tütchen mit Süßstoff ist. Wir alle haben das doch schon mal gemacht.
Appleby mußte sich auf diese Weise schon einige der rosaroten Tütchen angeeignet haben. Normalerweise hätte ihn vielleicht jemand davon abgehalten, aber alle lachten über seinen Witz und merkten nichts. Als sie schließlich das Fehlen der Tütchen entdeckten, wußten sie natürlich, daß nur er der Dieb sein konnte. Und da der fremde Gast nach eigenen Angaben ein Regierungsbeamter gewesen war und sie offenbar absichtlich abgelenkt hatte, um der Tütchen habhaft zu werden, mußten sie sich Applebys Beute unbedingt zurückholen. Genau das haben sie auch getan. Und damit Appleby sie nicht verraten konnte, wurde er erwürgt.«
»Wie bist du darauf gekommen?« fragte Baranov.
»Weil es einfach logisch schien, und weil darin ein Motiv gelegen haben konnte. Zum Beispiel, wenn das Cafe als Verteilerzentrale für Rauschgiftgeschäfte diente. Ein ganz normales, handelsübliches Süßstofftütchen erregt nirgends Verdacht. Und solange ein Gast ein solches Exemplar nicht gedankenlos mitgehen läßt, ist der Trick narrensicher. Als Appleby dann gleich mit ein paar Tütchen verschwunden ist, herrschte natürlich Panik.
Bei einer anschließenden Razzia in dem betreffenden Lokal hat sich mein Verdacht bestätigt, und die Polizei konnte große Mengen Rauschgift sicherstellen.«