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Ich war in gereizter Stimmung. Aber ich wußte, daß sie nicht lange anhalten würde. Ich hatte ein Glas guten Sherry in der Hand, räkelte mich in einem bequemen Stuhl, die schläfrige, gemütliche Atmosphäre des Union Club umgab mich, und mir gegenüber saß der schlafende Griswold in seinem angestammten Sessel. Alles war vollkommen.
Trotzdem wollte ich meine schlechte Laune auskosten, solange sie andauerte. »Ich wünschte, ich wüßte, unter welchen Voraussetzungen der Bürger zur Selbsthilfe greifen und eine Verhaftung vornehmen kann. Ich weiß, es gibt nach unserem geltenden Recht eine solche Möglichkeit, aber ich habe noch nie gehört, daß davon Gebrauch gemacht worden wäre.«
»Wen willst du denn verhaften?« erkundigte sich Jennings gelangweilt. »Griswold vielleicht?«
»Weshalb sollte ich Griswold verhaften wollen?« schnaubte ich verächtlich. »Der schläft doch sowieso. Nein, ich würde am liebsten all diejenigen festnehmen, die im Lift rauchen. Das ist nämlich eindeutig ein Vergehen. Ich möchte dann am liebsten meine Handschellen rausziehen ... «
»Handschellen?« wiederholte Baranov interessiert. »Du schleppst Handschellen mit dir herum?«
»Das war doch nur symbolisch gemeint! Ich lege dem Täter die Hand auf die Schulter ...«
»Wenn du das tust, mein Lieber, dann verpaßt derjenige dir einen Kinnhaken, oder wenn es eine Dame ist, einen Tritt gegen das Schienbein«, belehrte Jennings mich. »Aber nehmen wir mal an, es läßt sich tatsächlich einer von unseren Mitbürgern von dir verhaften, was machst du dann? Bringst du ihn aufs nächste Polizeirevier? Dazu müßtest du natürlich wissen, wo das gerade ist. Und wenn du schon mal in einem Lift fährst, dann hast du doch sicher was zu erledigen, oder? Läßt du das einfach schießen und spielst Polizist? Willst du ... «
»Ach, halt doch den Mund!« schnitt ich ihm das Wort ab und war noch schlechterer Laune als zuvor.
In diesem Augenblick kam Bewegung in Griswold. Er trank einen Schluck Scotch mit Soda und sagte: »Ich habe in meiner Eigenschaft als Bürger der Vereinigten Staaten tatsächlich mal jemanden festgenommen. Zwar war ein Polizeibeamter bei dem Vorfall anwesend, doch er war nicht in der Lage, die Verhaftung vorzunehmen.«
»Aber du warst dazu in der Lage?« entgegnete ich böse. »Das mußt du mir schon näher erklären.«
»Ich muß gar nichts ... es sei denn, du bittest mich in höflichem Ton darum.«
Ich wußte, daß das nicht nötig war.
Die beiden hießen Moe und Joe - begann Griswold -, und soviel mir bekannt ist, wurden sie während ihrer gesamten Verbrecherlaufbahn nie anders genannt. Selbstverständlich müssen sie auch Familiennamen gehabt haben, aber die wurden lediglich vor Gericht benutzt, und ich habe sie vergessen.
Erstaunlicherweise waren die beiden keine Zwillinge. Moe war Jude und Joe katholisch und italienischer Abstammung. Trotzdem sahen sie sich wie durch eine seltsame Laune der Natur unglaublich ähnlich. Man hätte sie jedenfalls für Zwillinge halten können, und das ist wohl auch häufig geschehen.
Sie hatten sich an der Highschool kennengelernt und beide dort den Abschluß nicht geschafft. Moe war damals mit seinen Eltern in der Nachbarschaft eingezogen und zwei Monate älter als Joe. Beide waren von ihrer Ähnlichkeit begeistert und nutzten diese für ihre Streiche und Tricks, die sie schließlich auf den Weg brachten, den sie ein Leben lang nicht mehr verlassen sollten.
Die beiden wurden enge Freunde und pflegten ihre äußerliche Ähnlichkeit, indem sie sich im selben Stil kleideten und sich in einigen charakteristischen Eigenschaften weitgehend anglichen, sobald sie sich der lästigen Familienbande entledigen konnten. Sie zogen zusammen, teilten sogar ihre Garderobe miteinander. Mit Ausnahme der Zeiten, da sie voneinander »Urlaub« machten, waren sie stets wie Zwillinge angezogen.
Allerdings achteten sie sorgfältig darauf, nur selten zusammen gesehen zu werden; eine Vorsichtsmaßnahme, die sie nur im engsten Kreis ihrer Kumpane nicht befolgten.
Im Lauf der Zeit entwickelte jeder für sich spezielle Fertigkeiten. Moe zum Beispiel war ein gerissener Betrüger, der es glänzend verstand, harmlosen Bürgern Geld abzuschwatzen, während Joe sich seine finanziellen Mittel mit derselben Geschicklichkeit als Taschendieb verschaffte.
Beide hatten es sich zum Grundsatz gemacht, sich nie auf größere Sachen einzulassen. Sie erschwindelten und stohlen gerade so viel, daß sie ein angenehmes Leben ohne Arbeit führen konnten. Und ich nehme an, die kleinen Risiken des täglichen Lebens verschafften ihnen einen angenehmen Nervenkitzel.
Dabei waren sie wiederum auch nicht draufgängerisch. Sie versuchten eher die Risiken auf ein Minimum zu beschränken, wobei ihnen ihre täuschende Ähnlichkeit zugute kam. Sobald nämlich einer von beiden ein »größeres Ding« vorhatte, sorgte der andere für das nötige Alibi.
Führte zum Beispiel Joe einen Wohnungseinbruch aus, spielte Moe in aller Öffentlichkeit und ganz legitim mit mindestens sechs Personen eine Runde Poker. Wurde Joe nun bei seinem Einbruch gesehen und die Polizei ermittelte gegen ihn, konnte er Moes Alibi präsentieren.
Kam die Polizei tatsächlich einmal auf die Idee, und das passierte selten, daß die beiden zusammenarbeiteten, gelang es ihr nie, bei einer Gegenüberstellung die Zeugen zu veranlassen, eindeutig den einen oder anderen zu belasten. Die Polizei mußte sich also meistens mit einer Verwarnung von Moe und Joe begnügen, wodurch sich die beiden allerdings kaum einschüchtern ließen.
Moe und Joe machte dieses Spiel Spaß. Gelegentlich klaute Moe zum Beispiel ganz ungeniert an einem Obststand zwei Äpfel und lief damit bis zur nächsten Ecke. Es dauerte meistens einige Minuten, bis sich der Obsthändler von seinem Schock über Moes Unverfrorenheit erholt hatte und laut schreiend hinter diesem herrannte. Moe verschwand hinter der Straßenecke, und kaum hatte der Händler ihn eingeholt, standen plötzlich Moe und Joe vor ihm und deuteten grinsend aufeinander.
Da beide, was die Größenordnung ihrer Beute betraf, bescheiden blieben, erwarben sie sich im Lauf der Zeit ein kleines Vermögen, ohne bei Polizei oder in der Öffentlichkeit allzuviel Aufsehen zu erregen. Ihr Wohlstand schlug sich vor allem in ihrem Lebensstil nieder. Sie kleideten sich zunehmend eleganter, trugen Krawatten mit auffälligen Mustern, und da beide kurzsichtig waren, trugen sie Polaroid-Brillen, deren Gläser je nach Lichtstärke ihre Tönung veränderten. Sie gingen zum selben Friseur und trugen die gleichen Schirme bei sich, sobald es auch nur andeutungsweise nach Regen aussah.
Das alles heißt jedoch nicht, daß man die beiden nicht hätte auseinanderhalten können. Moe war ungefähr einen Zentimeter größer als Joe, sie hatten unterschiedliche Zähne, und ihre Brillengläser waren von unterschiedlicher Stärke. Außerdem hatte Joe eine winzige Narbe hinter dem Ohr, und Moes Augenbrauen waren buschiger. Für den zufälligen Zeugen einer Straftat waren das jedoch keine Kriterien, mit deren Hilfe sie die beiden mit absoluter Sicherheit hätten unterscheiden können.
Vermutlich hätten Moe und Joe ewig so weitergemacht, wäre nicht eines Tages ihre Glückssträhne abrupt abgerissen. Aber einmal muß sich das Glück eben wenden, besonders, wenn man es häufig auf die Probe stellt.
Joe hatte einen kleinen Juwelierladen ausgekundschaftet, in dem er seinen nächsten Coup landen wollte. Er plante, sich zur Mittagszeit, wenn das Geschäft erfahrungsgemäß am besten ging und die meisten Kunden kamen, einige Ringe zeigen zu lassen und dabei ein Exemplar mit einer billigen Imitation zu vertauschen. Für den Fall, daß etwas schiefging, hatte er Moe in der Empfangshalle eines nahe gelegenen Hotels postiert.
Und diesmal ging tatsächlich etwas schief. Auch der geschickteste Taschenspieler greift gelegentlich daneben. Ein anderer Kunde stieß Joe unabsichtlich an, und dieser ließ den Ring fallen. Der Inhaber des Juwelierladens, der den Vorfall beobachtet hatte, zog sofort die richtigen Schlüsse daraus. Da der Mann in der Vergangenheit öfters bestohlen worden war, hatte er genug davon und richtete eine Pistole auf Joe.
Die anderen Kunden wichen erschrocken zur Seite, und Joe, der nie Gewalt angewendet hatte, geriet in Panik. Er versuchte sofort dem Juwelier die Waffe zu entreißen, um ihn am Schießen zu hindern. Im anschließenden Handgemenge löste sich dann plötzlich ein Schuß.
Wie in solchen Fällen üblich, traf die Kugel den unschuldigen Bürger. Der Juwelier sank zu Boden, und Joe rannte völlig kopflos aus dem Laden, um Moe im nahe gelegenen Hotel abzuholen und so schnell wie möglich die Stadt zu verlassen.
Doch ein Unglück kommt selten allein. Normalerweise lassen sich heutzutage Polizeibeamte nur noch selten auf der Straße blicken, aber ausgerechnet vor dem Juwelierladen stand einer. Er hörte den Schuß, sah einen Mann herausrennen und lief hinterher.
Tja, und um den Kohl richtig fett zu machen, war natürlich auch ich in der Nähe. Gegen so viele ungünstige Zufälle hatte Joe keine Chance.
Es war ein strahlend schöner Tag. Kein Wölkchen stand am Himmel, und auf der Straße drängten sich die Menschen. Im Gewühl hätte man Joe eigentlich leicht aus den Augen verlieren können, hätten ihn die vielen Passanten auf der Flucht nicht behindert. Außerdem trug er ein kariertes, grellblaues Jackett, das in der Menge gut auszumachen war.
Der Polizist, dem Joe kein Unbekannter war, konnte wegen der vielen Menschen von seiner Schußwaffe keinen Gebrauch machen, und von den Passanten war insofern keine Hilfe zu erwarten, da sich niemand in die Sache verwickeln lassen wollte.
Es blieb uns also nichts anderes übrig, als hinter Joe herzulaufen, was gar nicht so einfach war. Weder der Polizeibeamte noch ich waren in guter Kondition.
Zu unserem Glück jedoch setzte Joe seine Flucht nicht fort, sondern verschwand nur eineinhalb Block weit vom Tatort entfernt in jenem Hotel, in dem Moe wartete. Zehn Sekunden später war. auch der Polizeibeamte dort, und ich folgte ihm mit einem Abstand von weiteren fünfzehn Sekunden.
Don in der Hotelhalle stand Joe neben Moe. Beide trugen blaukarierte Jacken, Hosen in einem dunkleren Blau, schwarze Ledergürtel und Krawatten. Moe spielte die Rolle seines Lebens. Sein Haar war zerwühlt wie das von Joe, und er atmete keuchend und schwer. Ebenso wie bei Joe glänzte seine Stirn feucht. Bei ihm war das wohl eher die Aufregung.
Joe brachte sogar ein Grinsen zustande und deutete auf Moe. »Der Bursche hier ist gerade erst gekommen. Er schien's verdammt eilig zu haben.«
Moe grinste ebenfalls und deutete auf Joe. »Unsinn, das war er!«
Der Polizeibeamte starrte von einem zum anderen und schrie: »Hat jemand gesehen, welcher von diesen beiden Witzbolden gerade hereingerannt kam?«
Ebensogut hätte er fragen können, ob jemand den zweiten Vornamen seiner Tante Jemima kenne.
In der Zwischenzeit hatte ich mich allerdings einigermaßen von der anstrengenden Verfolgungsjagd erholt. Ich legte Joe die Hand auf die Schulter und sagte: »Officer, das ist der Mann, und ich nehme ihn vorübergehend in Ausübung meiner Bürgerrechte fest, bis Sie das kraft Ihres Amts tun können.«
Der Polizeibeamte kannte mich nicht. »Weshalb sind Sie sich Ihrer Sache so sicher?« erkundigte er sich.
»Das müßten Sie eigentlich selbst sehen«, erwiderte ich. »Außerdem können wir sicher mit der Hilfe seines Komplicen oder Zwillingsbruders rechnen, denn es handelt sich hier ja nicht nur um Diebstahl. Ein Schuß ist gefallen, mein Freund«, wandte ich mich an Moe, dessen Namen und Vergangenheit ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. »Und daraus könnte leicht eine Anklage wegen Mord in Tateinheit mit schwerem Diebstahl werden. Wollen Sie es wirklich riskieren, wegen Beihilfe zur Flucht eines Schwerverbrechers belangt zu werden?«
Moe warf Joe einen entsetzten Blick zu. Damit waren die Fronten geklärt.
Alles weitere war kein Problem mehr. Der Juwelier war zwar nur verwundet, aber Joe wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt, und Moe hatte eine Lektion erteilt bekommen, die er so schnell nicht vergessen würde.
Auf Griswolds Gesicht zeichnete sich deutlich jene selbstgefällige Genugtuung ab, die ihn immer dann überkommt, wenn er von seinen Heldentaten erzählt. »Und woher hast ausgerechnet du gewußt, welcher von beiden gerade erst die Hotelhalle betreten hatte?« erkundigte sich Baranov.
»Ja, und vor allem, weshalb wurde es vor Gericht als Beweis akzeptiert?« fragte Jennings.
»Also, das war ein Kinderspiel«, erklärte Griswold mit verächtlichem Blick auf unsere Runde. »Ich habe euch doch erzählt, daß Moe und Joe Polaroid-Brillen trugen, deren Gläser sich je nach Lichtstärke verändern. Draußen werden sie dunkel und drinnen hell. Derjenige von beiden, der gerade von draußen hereingekommen war, hatte also im Gegensatz zum anderen eine Brille mit wesentlich dunkleren Gläsern auf. Darauf habe ich den Polizeibeamten noch rechtzeitig aufmerksam gemacht, bevor sich die Gläser unter den veränderten Lichtverhältnissen im Hotel erneut verändern konnten. Moe, der die Aussichtslosigkeit der Lage erkannte, war sofort bereit, gegen seinen Freund auszusagen, um die eigene Haut zu retten.«