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Baranov kam erst, nachdem wir anderen längst unsere Plätze im Union Club eingenommen hatten. Er setzte sich mit triumphierendem Lächeln in seinen Sessel. »Schläft Griswold?« erkundigte er sich.
Ich warf einen Blick in Griswolds Richtung und zuckte mit den Achseln. »So wie der eben immer schläft.«
»Na ja. Vergessen wir ihn. Erinnert ihr euch noch an die Geschichte, als er ein Rätsel nur dadurch gelöst hat, weil er erkannt hatte, daß im Englischen bei den Zahlen unter tausend der Buchstabe >a< überhaupt nicht vorkommt?«
Jennings und ich nickten.
»Das hat mich nachdenklich gestimmt«, fuhr Baranov fort. »Nehmen wir mal an, wir schreiben eine unendliche Zahlenreihe in Worten nieder ... «
»Unmöglich«, unterbrach Jennings ihn. »Wie willst du eine unendliche Zahlenreihe niederschreiben?«
»Es ist ja auch nur eine Hypothese«, entgegnete Baranov ungeduldig. »Also wir schreiben die unendliche Zahlenreihe nieder und ordnen die Worte in alphabetischer Reihenfolge. Welche Zahl steht als erste auf unserer Liste?«
»Das kann man doch erst beantworten, wenn man sämtliche Zahlen gesehen hat... und wie sollte das möglich sein, wenn es sich um eine unendliche Zahlenreihe handelt?« warf Jennings eigensinnig ein.
»Weil sämtliche Zahlennamen nach einem bestimmten System gebildet werden«, entgegnete Baranov. »Die Zahlenreihe mag zwar unendlich sein, aber es gibt nur wenige Möglichkeiten, nach denen sich ihre Namen zusammensetzen. Die erste Zahl in der alphabetischen Reihenfolge ist im Englischen immer die 8, also >eight<. In der englischen Sprache gibt es keine Zahl, die mit >a<, >b<, >c< oder >d< beginnt. Na, was sagt.ihr jetzt?«
»Was ist mit Billion?«
Baranov musterte mich geringschätzig. »Das ist kein Zahlenname, mein Lieber. Man schreibt in diesem Fall >one billion<, also eine Milliarde, und fängt somit mit >o< an.«
In diesem Moment sagte Griswold, ohne sein sanftes Schnarchen deutlich zu unterbrechen: »Und wie lautet die letzte Zahl in der alphabetischen Reihenfolge?«
Ich dachte fieberhaft nach und antwortete vor allen anderen: »>Two<, also zwei natürlich. Im Englischen fängt kein Zahlwort mit einem Buchstaben an, der nach >T< im Alphabet steht. >W< ist der letzte Zweitbuchstabe, und da die anderen beiden Zahlwörter, die mit >tw< beginnen wie >twelve - zwölf< und >twenty - zwanzig< als dritten Buchstaben ein >e< haben, muß >two< das letzte Zahlwort in der Reihe sein.«
Ich war stolz auf diese ebenso schnelle wie brillante Antwort, doch Griswold schlug nur die Augen auf und starrte mich verächtlich an. »Und was ist mit >Zero<, also Null? Ich will euch mal eine Geschichte erzählen.«
Ich habe einen Freund, der Zahlenspiele liebt -begann Griswold. Er ist weder Mathematiker, noch besitzt er mehr mathematisches Talent als ich, und trotzdem macht ihm das Spiel mit Zahlen Spaß.
Dieser Freund, Archie Bates, hat nämlich entdeckt, daß man mit diesen Spielereien erfolgreich gegen Langeweile ankämpfen kann.
Wir alle sind doch gelegentlich schon in einem tödlichlangweiligen Vortrag, einem unerfreulichen Konzert oder einem uninteressanten Theaterstück gelandet.
Was tun wir in diesem Fall?
Man kann natürlich schlafen. Das allerdings kann peinlich sein, wenn man in Begleitung ist, und die anderen merken, daß man schläft. Natürlich kann man auch über irgendwelche Probleme nachdenken, vorausgesetzt es fallen einem Dinge ein, über die nachzudenken sich lohnt.
Eine dritte Möglichkeit ist, es Bates gleichzutun und Zahlenspiele zu machen. Bates fängt in solchen Fällen an, Kronleuchter, Lampen oder Wiederholungen im Tapeten- oder Wandmuster zu zählen. Langeweile kam bei ihm auf diese Weise erst gar nicht auf.
Außerdem pflegte er eine zufällig gewählte Zahlenfolge nach einem bestimmten System zu ordnen und andere aufzufordern, das System zu ergründen und die nächste Zahl zu nennen. Bates hatte zwar nie geniale, aber doch recht amüsante Einfälle.
Mir legte er zum Beispiel die Zahlenreihe acht, fünf, vier, neun, sieben, drei, zwei, null vor. Er machte mich darauf aufmerksam, daß bei dieser Reihe nur die Zahl eins fehlte, und fragte mich, an welche Stelle sie korrekterweise eingeordnet werden müsse.
Ich brauchte eine Weile, bis ich erkannte, daß Bates die alphabetische Reihenfolge der Zahlen gewählt hatte (eight, five, four, nine, seven, three, two, zero) und daß die Zahl 1 (one) zwischen die 9 und die 7 gehörte. Aus diesem Grund war Baranovs Rätsel mir natürlich nicht mehr neu.
Bates Hobby brachte allerdings gelegentlich auch Peinlichkeiten und Verwirrung mit sich, besonders in einem Fall.
Die meisten Geschichten, die ich euch bisher erzählt habe, handelten von Schwerverbrechen wie zum Beispiel Mord und Spionage. Aber auch unbedeutende Kleinigkeiten können zum Ärgernis werden. Bei Freunden und aus persönlichem Interesse habe ich mich nie geziert, auch solche Probleme lösen zu helfen, selbst wenn sie dem Außenseiter völlig unwichtig erscheinen mögen.
Eines Tages rief Mrs. Bates mich in Archies Arbeitszimmer und zu einem Tresor. Es war ein mittelgroßes, solides Exemplar mit einem Kombinationsschloß, das aus vier Wählscheiben bestand, die jeweils in Zahlenfelder von 0 bis 9 eingeteilt waren. Nur wenn jede Wählscheibe so gedreht wurde, daß die zentrale Zahlenreihe jeweils einer Zahl der eingegebenen Kombination entsprach, konnte der Safe geöffnet werden.
»Wo brennt's denn, Mrs. Bates?« erkundigte ich mich.
»Archie hat vergangene Woche diesen Safe gekauft«, begann sie. »Wir brauchen ihn eigentlich gar nicht, aber na bitte, jetzt haben wir ihn.«
»Und?«
»Archie bewahrt unsere sämtlichen Dokumente darin auf. Ich sollte schon vor einem Monat einen Scheck ausstellen, habe es jedoch vergessen, und wenn ich diesen Scheck nicht bis heute um Mitternacht zur Post bringe, sind die Folgen sehr peinlich und unangenehm. Und Archie hat ausgerechnet mein Scheckbuch und die Adresse des Empfängers in den Safe gesperrt.«
»Und die Kombination haben Sie wohl vergessen, was?«
»Nein, ich habe sie nie gekannt. Archie hat nie mit mir darüber gesprochen. Und das Schlimmste ist, ich kann nicht mal die Herstellerfirma anrufen, weil Archie die Zahlenkombination selbst ausgearbeitet hat.«
»Weshalb rufen Sie Archie nicht einfach an?«
»Archie ist in Baltimore, aber ich habe keine Ahnung wo. Normalerweise schreibt er mir immer eine Adresse auf, wo ich ihn erreichen kann, aber diesmal muß er sie mit allem anderen in den Safe gesteckt haben.«
»Aber was soll ich dabei tun, Mrs. Bates? Ich kenne die Kombination ebenfalls nicht.«
»Ich glaube, ich habe einen Anhaltspunkt«, antwortete Mrs. Bates. »Auf dem Fußboden neben dem Safe lag ein Zettel mit einigen von Archies üblichen Zahlenreihen. Sie kennen ihn ja. Jedenfalls muß er ihm runtergefallen sein.«
Sie gab mir den Zettel. Darauf standen untereinander die Zahlen 1-2-6-12-60-420-840. Die letzte Zahl war mit einem Sternchen gekennzeichnet, und ich wußte, daß Archie damit immer die zu erratenden Zahlen markierte.
»Ich vermute, daß die nächste Zahl in dieser Reihe die Kombination des Safes ist«, erklärte Mrs. Bates. »Sie kennen ja Archies Zahlenspiele. Nur leider habe ich keine Ahnung, wie die nächste Zahl dieser Folge lautet. Bisher konnte ich nur feststellen, daß, wenn man bei 1 anfängt und es mit 2 multipliziert, 2 herauskommt, ist der Multiplikator 3, erhält man 6, multipliziert man diese Zahl wieder mit 2, ergibt das 12, dann nimmt man diese mal 5, mal 7 und wieder mal 2. Aber ich habe keine Ahnung, womit man 840 multiplizieren sollte.«
Ich lächelte flüchtig. »Das spielt keine Rolle, Mrs. Bates. Multiplizieren Sie 840 einfach mit jeder Zahl von 1 bis 9 und probieren Sie dann sämtliche Zahlenergebnisse aus. Das dauert nur ein paar Minuten. Wenn sie mit 0000 anfangen und bis 9999 jede folgende Zahl wählen, gelingt es Ihnen sicher, irgendwann den Tresor zu öffnen. Schaffen Sie jeden Versuch in nur einer Sekunde, haben Sie in genau 2 3/4 Stunden Ihr Ziel erreicht. Danach stellen Sie in Ruhe Ihren Scheck aus. Das System dieser Kombination ist nicht besonders gut, wissen Sie.«
Mrs. Bates machte ein verzweifeltes Gesicht. »Oh, doch, das ist es. Soviel hat Archie mir wenigstens erklärt. Er behauptet, daß bei Einstellung einer falschen Kombination die Wählscheiben durch eine spezielle Verriegelung unbeweglich gemacht werden und sich nur mit Hilfe eines Magnetschlüssels wieder lösen lassen. Und ohne diesen Schlüssel muß der Tresor mit Hilfe von Sprengstoff geöffnet werden.«
»Und ich nehme an, daß Ihr Mann diesen Schlüssel immer bei sich trägt, was?«
Mrs. Bates nickte. »Richtig. Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als die richtige Zahlenkombination herauszufinden. Aber ich habe einfach nicht die Nerven, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenn ich mich irre, muß ich einen Schmied holen. Dann ist er kaputt, der schöne neue Safe. Archie bringt mich um.«
»Aber was kann ich in diesem Fall tun?«
Sie seufzte. »Das ist doch ganz einfach. Ich weiß von Archie, wie elegant Sie Probleme lösen, an denen sich die Polizei oder das FBI die Zähne ausgebissen haben. Weshalb sehen Sie sich nicht einfach die Zahlenreihe an und sagen mir, wie die Kombination des Safes lautet?«
»Und was passiert, wenn ich mich irre? Ich bin zwar klug, aber bei weitem kein Supermann«, erwiderte ich in meiner bekannt bescheidenen Art.
»Sicher sind Sie das nicht«, erwiderte Mrs. Bates kühl. »Falls Sie allerdings das Kombinationsschloß verriegeln, ist Archie auf Sie wütend - und das kann Ihnen doch weiß Gott egal sein.«
In dieser Beziehung war ich mir nicht so sicher. Bates ist ein großer, athletisch gebauter Mann mit einem hitzigen Temperament.
Allerdings muß ich gestehen, daß mich Mrs. Bates scheinbare Gewißheit, daß ich kein Supermann sei, reizte und anspornte. Wenn ich so etwas von mir sage, dann heißt das noch lange nicht, daß sich andere diese Freiheit herausnehmen dürfen. Aus diesem Grund stellte ich einfach die vier Wählscheiben auf die entsprechenden Zahlen ein, drückte die Klinke herunter und öffnete den Tresor.
Dann sagte ich mit einer knappen Verbeugung kühl: »Damit dürfte Ihr Mann keine Veranlassung haben, sich über einen von uns zu ärgern« und ging.
Griswold untermalte dieses Ende mit grimmigem Schnauben und trank genüßlich einen Schluck Scotch mit Soda. »Ich nehme an, euch ist die richtige Kombination schon lange vor Ende der Geschichte klargewesen.«
»Nein, mir bestimmt nicht«, widersprach ich. »Wie lautet die Zahlenkombination, und wie bist du darauf gekommen?«
Griswold schnaubte erneut. »Seht euch doch mal diese Zahlen an«, forderte er uns auf. »Die größeren sind spielend mehrfach teilbar, 1 ist allerdings nur durch 1 teilbar. 2 ist durch 1 und 2 teilbar, 6 durch 1, 2 und 3. Damit ist 6 die niedrigste durch 1, 2 und 3 teilbare Zahl, wie ihr selbst feststellen könnt.«
»Sie ist aber auch noch durch sich selbst, also durch 6 teilbar«, warf ich ein.
»Das ist unwichtig«, wehrte Griswold ab. »Ich rede hier von den aufeinanderfolgenden Zahlen von 1 angefangen, die als Divisor dienen können. Die vierte Zahl, 12, ist die niedrigste durch 1, 2, 3 und 4 teilbare Zahl. In ihr sind auch 6 und 12 enthalten, aber das ist irrelevant.
An fünfter Stelle folgt 60. Sie ist durch 1, 2, 3, 4, 5 und 6 teilbar. 60 ist damit die niedrigste durch sämtliche vorangestellte Zahlen teilbare Zahl. Die nächste Zahl läßt sich durch alle Zahlen von 1 bis 7 und die letzte 840 von allen Zahlen von 1 bis 8 teilen.
Die folgende Zahl der Serie muß demnach die niedrigste durch alle Zahlen von 1 bis 9 teilbare Zahl sein. Multipliziert man 840 mit 3, ist die Summe durch 9 und sämtliche nachfolgende Zahlen bis 1 teilbar. Und da 840 mal 3 die Zahl 2520 ergibt, ist das die gesuchte Kombination. 2520 ist die niedrigste durch sämtliche Zahlen der Reihe 1 bis 9 teilbare Zahl. Und 10 ist übrigens auch ein Divisor. Tja, und das wär's.«