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2. Die Telefonnummer

»Ich bin jetzt eine Aktiengesellschaft«, erklärte Jennings mit zweifelhaftem Stolz. »Konkret bedeutet das, daß ich als Unternehmer unter einer Nummer registriert bin, die ich mir zusätzlich zu meiner Sozialversicherung, meiner Telefonnummer, unserer Postleitzahl und meinem Autokennzeichen auch noch merken muß.«

»Abgesehen von deiner Adresse und der Zahlenkombination jedes Kombinationsschlosses, das du besitzt«, ergänzte Baranov mit noch düsterer Miene. »Ganz zu schweigen von den Geburts- und anderen Jahrestagen deiner sämtlichen Verwandten und Freunde. Wir sind Gefangene einer Nummerngesellschaft.«

»Und aus diesem Grund brauchen wir die Computererfassung des Bürgers«, warf ich ein. »Man füttert sämtliche Nummern und Zahlen in den Computer, und er kann sich dann damit herumschlagen.«

Bei dieser Bemerkung kam Bewegung in Griswold. Sein Stuhl knarrte empört, als er sich vorbeugte, in seinen weißen Schnurrbart blies und uns verächtlich anstarrte.

»Ich habe kein gutes Zahlengedächtnis«, begann er. »Aber ich kannte einen Mann, der hat nie auch nur eine Zahl vergessen.«

Griswold hielt inne, um einen Schluck aus seinem Glas Scotch mit Soda zu trinken, das er stets in der Hand zu halten schien, aber es bestand kaum Gefahr, daß wir Griswolds Geschichte diesmal entgehen würden. Er hat eine Art, einen aus blutunterlaufenen Augen anzusehen, die offenbar eine lähmende Wirkung auf das Sprachzentrum ausübt.

Der Mann hieß Bulmerson - erzählte Griswold - und wir waren damals zusammen in einem kleinen Zimmer im Pentagon eingepfercht, von dessen Existenz außer mir, Bulmerson und zwei oder drei weiteren Personen, die mit uns zusammenarbeiteten, niemand etwas wußte.

Das Zimmer glich einem schäbigen Abstellraum, und die Aufschrift des Schildes an der Tür hatte nichts mit dem zu tun, was dahinter wirklich vor sich ging. Ich bezweifle, daß es überhaupt außerhalb unseres kleinen Teams mehr als fünf Personen gab, die über unsere Arbeit informiert waren, und das galt auch für die obersten Ränge in der Hierarchie des Pentagon.

Ich weiß noch, daß einmal ein Admiral auf der Suche nach einer Herrentoilette bei uns hereinplatzte und sich mißtrauisch nach den Urinbecken umsah, als hätten wir sie irgendwo im Schrank versteckt. Wir mußten ihn sanft aber bestimmt wieder hinauskomplimentieren.

Was wir machten, hatte natürlich mit Geheimdienstarbeit zu tun. Keine James-BondHeldentaten, meine Freunde. Unsere Arbeit war bei weitem langweiliger und bei weitem wichtiger. Es ging darum, Informationen auszuwerten und zu entscheiden, ob sie zuverlässig waren, festzustellen, inwiefern eine Nachricht die andere ergänzte, und abzuschätzen, ob jemand, der >ja< sagte, in Wirklichkeit >nein< meinte und umgekehrt.

Hatten wir getan, was wir tun mußten, lag es an uns, den Präsidenten oder das Außenministerium zu benachrichtigen und für das Ergebnis geradezustehen.

Bulmerson war am längsten dabei. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit weißem Haar, rotem Gesicht, einem feisten Nacken und üppigen Formen. Seinem Aussehen nach zu schließen hätte er Zigarrenraucher sein müssen, doch er war es nicht.

Er ist der Mann, der nie eine Zahl vergaß. Er kannte die Telefonnummern von Tausenden von Amtsträgern und Zehntausenden anderer Personen und irrte sich nie. Ebenso sicher ging er mit sonstigen Zahlenkombinationen um, aber Telefonnummern waren sein spezielles Hobby. Ich vermute, daß er insgeheim den Ehrgeiz hatte, eines Tages das Telefonbuch durch sein Gehirn zu ersetzen.

Vielleicht war es diese Begabung, die ihm auch eine Art sechsten Sinn dafür verlieh herauszuhören, wann ein ausländischer Staatsmann jede Vorsicht außer acht ließ und ausnahmsweise einmal die Wahrheit sagte. Wer weiß, wie seitene Begabungen zusammenwirken können? Vielleicht war es sein Sinn für Zahlen, der ihm dieses unfehlbare Gespür für die Wahrheit verlieh. Jedenfalls war er sehr geschätzt, unser Bulmerson.

Auf unserem Schreibtisch landeten alle möglichen Informationen. Jeder anonyme Telefontip wurde an uns weitergegeben. Manchmal steckten harmlose Irre dahinter, gelegentlich jedoch auch feindliche Agenten, die versuchten, uns absichtlich irrezuführen. Unsere Aufgabe war es, den Weizen von der Spreu zu trennen.

Wir hatten damals einen Informanten, der auf seine Art ebenfalls unfehlbar war. Er hatte uns ausfindig gemacht, was schon beeindruckend genug war. Der Mann hatte uns direkt angerufen, und wir kamen nie dahinter, wie er unsere Nummer herausgekriegt hatte. Jedenfalls hatte er immer recht.

Allerdings erfuhren wir nie, um wen es sich bei diesem Informanten handelte. Er hatte eine sanfte, heisere Stimme mit einem kaum identifizierbaren unamerikanischen Akzent. Wir sprachen über ihn nur unter der Bezeichnung »unser Mann«. Hätte das alles zehn Jahre später stattgefunden, hätten wir ihn sicher den »Mann mit der rauhen Kehle« genannt, aber wir befanden uns damals eben zu Beginn der sechziger Jahre.

Wir versuchten nie, ihn ausfindig zu machen oder ihn zu enttarnen, denn wir fürchteten, ihn dadurch zu verlieren, und das wollten wir unter allen Umständen vermeiden. Er war praktisch unser geheimer Draht zum Kreml. Nach 1965 hörten wir nie wieder von ihm. Vielleicht hatte man ihn in ein anderes Land geschickt oder er war gestorben -möglicherweise sogar eines natürlichen Todes.

Wenn er anrief, dann hielt er stets einen ganz speziellen Ritus ein. Zuerst meldete sich telefonisch eine andere Person und übermittelte uns eine Telefonnummer und den Zeitpunkt, an dem wir anrufen sollten. Wenn wir diese Nummer zur vereinbarten Zeit wählten, erreichten wir »unseren Mann«. Um uns eindeutig zu identifizieren, benutzten wir ein Codewort. Anschließend redete er ein bis zwei Minuten und legte wieder auf. Wir richteten uns in unseren Aktionen stets nach seinen Informationen und mußten es nie bereuen.

Die Telefonnummern, die wir erhielten, bezeichneten stets öffentliche Telefonzellen, soweit haben wir die Angelegenheit überprüft, aber wir kamen nie dahinter, nach welchem System er sie auswählte, denn er benutzte eine Zelle nie ein zweites Mal. Auch der erste Anruf, der den Kontakt jeweils einleitete, kam immer von einer anderen, uns unbekannten Person, die er nach unergründlichen Gesichtspunkten aussuchte. Vielleicht engagierte er irgendeinen Wermutbruder für eine Flasche Schnaps. Am Telefon kann man Alkoholfahnen ja bekanntlich nicht riechen.

Bulmerson genoß sichtlich, wenn er derjenige war, der den ersten Anruf entgegennehmen konnte. Wir anderen mußten nämlich die Telefonnummer hastig notieren und den Anrufer manchmal sogar bitten, seine Angaben zu wiederholen.

In letzteren Fällen war Bulmerson den Rest des Tages ungenießbar und machte ständig anzügliche Bemerkungen über unsere frühzeitige Verkalkung. In dieser Beziehung konnte er ausgesprochen kindisch sein.

Nahm er den wichtigen Anruf entgegen, dann hörte er lediglich aufmerksam zu und legte wortlos wieder auf. Zu dem ihm mitgeteilten Zeitpunkt wählte er, ohne eine einzige Notiz gemacht zu haben, die betreffende Nummer. Sein phänomenales Zahlengedächtnis ließ ihn dabei nie im Stich.

Es passierte genau zwei Monate vor der Ermordung von Präsident Kennedy ...

Ich war zusammen mit Bulmerson und zwei weiteren Mitarbeitern im Büro. Bulmerson sah nicht besonders wohl aus. An die Namen der anderen erinnere ich mich nicht. Nennen wir sie einfach Smith und Jones.

Es war ein schwüler, bewölkter und düsterer Tag, der wohl die herbstliche Tagundnachtgleiche anzeigte, die das Ende des Sommers einleitete.

Bulmerson war ärgerlich, weil das Sandwich, das er zum Mittagessen verzehrt hatte, offenbar Sodbrennen ausgelöst hatte. In Anbetracht der Probleme, die wir gerade in Vietnam hatten, kam mir das keinesfalls ungewöhnlich vor.

Ngo Dinh Diem regierte Südvietnam nach Vorstellungen, die uns nicht recht paßten. Er wurde zunehmend unpopulärer, und buddhistische Mönche verbrannten sich öffentlich aus Protest gegen diese Regierungspolitik. Da nichts Vergleichbares in Nordvietnam vorkam, standen wir mit unseren Partnern plötzlich vor aller Welt wie die Bösewichte da. Ein Rückzug aus Vietnam war unmöglich. Es hätte ausgesehen, als ließen wir einen Verbündeten im Stich. Wäre es zu diesem Schritt gekommen, hätte vor allem die Demokratische Partei der USA das Gesicht verloren. Aber diese Geschichte kennt ihr ja...

Was wir brauchten, war ein sauberer Abgang ohne Blutvergießen - also einen schnellen, einen besonders schnellen Sieg. Was dann nach uns passiert wäre, hätte uns nicht mehr unmittelbar tangiert. Das Dumme war nur, daß sich uns diese Möglichkeit nicht bot.

An jenem Tag, von dem ich erzählen will, klingelte bei uns das Telefon. Bulmerson nahm stirnrunzelnd den Hörer ab.

»Adamsons fünf und zehn«, meldete er sich mit der Tageslosung.

Bulmerson hörte mit ausdrucksloser Miene zu und legte schweigend wieder auf.

Schließlich sagte er etwas atemlos zu uns: »Unser Mann will ein Gespräch. Und zwar in genau dreißig Minuten, zwischen zwei Uhr dreißig und zwei Uhr fünfunddreißig. Es ist D1.«

D1 bedeutete bei unserem Mann »Dringlichkeitsstufe 1«. Das letzte Mal hatte er diesen Ausdruck im Vorjahr während der Kubakrise benutzt. Für uns hatte es bedeutet, daß wir, überzeugt, daß wir siegen würden, uns auf die Sache eingelassen hatten, was ausgesprochen beruhigend war. Aber das ist eine andere Geschichte.

»Vergiß bloß die Telefonnummer nicht«, mahnte ich Bulmerson.

Bulmerson verzog das schweißglänzende Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. »Machst du Witze? Diesmal ist die Nummer so simpel, daß es überhaupt keinen Spaß macht, sie zu behalten. Sogar du könntest sie dir merken. Wenigstens am heutigen Tag. Wenn ich sie dir sage, ist dir sofort klar, weshalb. Sie lautet 9 .. .«

Zu mehr kam er nicht mehr. Mit einem unterdrückten Stöhnen griff er sich an die Brust und sank zu Boden, wo er nach einigen Zuckungen leblos liegenblieb. Das vermeintliche Sodbrennen entpuppte sich als Herzinfarkt... und zwar als einer von der schweren Sorte.

Uns blieb nichts anderes übrig, als den Notarzt zu rufen.

Eines mußte man dem Pentagon lassen: Innerhalb von fünf Minuten war Hilfe da. Die Sanitäter machten eine Weile Wiederbelebungsversuche und trugen Bulmerson dann auf einer Bahre fort. Geholfen hat das allerdings wenig. Der arme Mann starb noch am selben Abend im Krankenhaus.

Wir blieben entsetzt zurück. Nach einem solchen Vorfall erholt man sich nur schwer.

Schließlich zupfte Smith mich an der Schulter. Er war kreidebleich. »Bulmerson konnte uns die Telefonnummer nicht mehr sagen«, brachte er mühsam heraus.

Wir mußten an unseren Job denken. Dieses Geschäft läßt private Gefühle nicht zu.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zwei Uhr und einunddreißig Minuten. Wir hatten also noch genau vier Minuten Zeit. »Mach dir deshalb keine Sorgen«, beruhigte ich Smith. »Er hat uns genug gesagt.«

Ich wählte die Nummer, und unser Mann meldete sich. Was er uns zu sagen hatte, war genau das, was wir hören wollten. Es gab eine Möglichkeit, die Volksrepublik China hübsch in die Enge zu treiben. Bis es so weit war, würde zwar einige Zeit vergehen, doch wenn wir es geschickt anstellten, hatten wir die Nordvietnamesen mattgesetzt und gleichzeitig einen perfekten Vorwand, es einen Sieg zu nennen und uns aus Südvietnam zurückzuziehen.

Das gute Ende schien greifbar nahe, aber dann lief einiges schief. Am 1. November wurde Diem bei einem Staatsstreich getötet, und am 22. November fiel John F. Kennedy einem Attentat zum Opfer. Bis unsere Regierung wieder funktionsfähig war, war die Chance verpaßt, und wir saßen endgültig in Vietnam. Johnson war gezwungen, unser Engagement noch zu eskalieren, und am Ende - na, das kennt ihr ja.

Da ich annehme, daß ihr erraten habt, wie die Telefonnummer lautete, ist das auch das Ende der Geschichte.

Als Griswold die Augen zumachte, fielen wir zu dritt über ihn her. »Wie lautet die Telefonnummer, und wieso hast du sie gewußt?« verschaffte sich schließlich Baranov Gehör.

Griswold zog die weißen Augenbrauen hoch. »Aber das weiß doch wirklich jedes Kind. Bulmerson hatte behauptet, die Nummer sei einfach zu merken und war gerade noch dazu gekommen, die erste Zahl auszusprechen. Diese lautete 9. Das wiederum bedeutete, daß die Zahl entweder 9999999 oder 987-6543 hieß, denn mehr traute Bulmerson unserem Gedächtnis wohl nicht zu. Aber Bulmerson hatte die Bemerkung hinzugefügt, ich könne mir die Nummer wenigstens >am heutigen Tag< merken. Der Tag mußte also irgendwie damit zusammenhängen. Und was sollte einen Tag in Verbindung mit einer Telefonnummer schon so besonders machen, wenn nicht sein Datum?

Ich habe euch ja bereits gesagt, daß die Sache zwei Monate vor Kennedys Ermordung am 22. November, also am 22. September passiert ist. Dieses Datum können wir im englischen entweder 22/9 oder 9/22 schreiben. Da Bulmerson als erste Zahl neun genannt hatte, nehmen wir die zweite Schreibweise und lassen den Schrägstrich weg. Wenn ihr euch an die Jahreszahl des KennedyAttentats erinnert, dann wißt ihr jetzt auch, wie die Telefonnummer lautete: 922-1963. Und die habe ich gewählt.«